Exodus der Einheimischen

Wer nicht reich ist, hat es auf Sylt schwer: Es fehlt bezahlbarer Wohnraum und das Preisniveau für Lebensmittel ist hoch. Den einen hilft am Donnerstag die örtliche Tafel. Andere Sylter ziehen gleich weg aufs Festland.

(aus Hinz&Kunzt 236/Oktober 2012)

Auf Sylt kennt jeder jeden. Wer zur Tafel geht, ist schnell bekannt. Seine Bedürftigkeit muss daher niemand nachweisen.

Heiner zieht eine Mundharmonika aus dem Jackett, dunkelblau, Goldknöpfe. „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“, spielt er, sofort singt jemand mit, dann singen zwei, dann drei. „Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt“, brummt ein Dicker mit Bart und schiebt sich ein Stück weiter vor in der Schlange. Es ist Donnerstag, es ist Tafel-Tag auf Sylt. Die Menschen halten leere Plastiktüten in den Händen oder sie ziehen Einkaufstrolleys hinter sich her.

Im Katholischen Gemeindezentrum von Westerland stehen frische Blumen auf den Tischen, dazu Thermoskannen, Milch und Zucker. Wenn die Helfer der Sylter Tafel dort ein Mal in der Woche Lebensmittel ausgeben, beginnt der Nachmittag mit einem Kaffeeklatsch. Streuselschnecken gibt es heute, Plunderteilchen, Butterkuchen. Zu viert oder sechst sitzen sie zusammen, essen und erzählen, gut 50 sind gekommen. Ältere Herren wie Heiner in Anzügen, die sie schon sehr lange tragen, junge Männer in Arbeitskluft, silberhaarige Frauen, Mütter mit kleinen Kindern.

Im Sommer und in der Weihnachtszeit, die Hochsaison für Sylt-Urlauber, fallen die Spenden magerer aus. Anders als andere Tafeln kauft das Team dann allerdings mit Spendengeldern zu. Faktor drei rechnen sie bei den Menschen, die regelmäßig zur Tafel kommen: Jeder versorgt noch zwei andere mit. Wer krank ist oder alt und gebrechlich, dem bringen die Helfer Lebensmittel nach Hause. Als die Sylter Tafel sich 1998 gründete, war sie eine Anlaufstelle für Drogensüchtige und Arbeitslose, die es auf die Insel verschlug. „Armut war damals noch kein Thema“, sagt Tafel-Organisatorin Dörte Lindner-Schmidt, „die meisten Sylter fanden die Idee völlig überflüssig“.

Ein Mal im Monat lädt die Tafel zu einem Frühstück ein, ab und zu geben sie Gutscheine aus für ein warmes Essen in einem Imbiss, im Winter kochen die Helfer häufig Suppe. Einen Nachweis der Bedürftigkeit fordere sie aus Prinzip nicht, sagt Lindner-Schmidt. „Es ist erniedrigend und ermüdend, sich ständig erklären zu müssen, daher wollen wir die Hemmschwelle nicht noch höher setzen.“ Sylt ist schließlich klein, jeder kennt jeden, wer zur Tafel geht, der kommt schnell ins Gerede. „Doch viele Menschen verdienen wenig, müssen Schulden abbezahlen oder sparen darauf, mit ihren Kindern mal ins Kino gehen zu können oder ein Eis zu essen“, sagt die Tafel-Organisatorin. „Entscheidend ist die gefühlte Armut.“

Es passt zunächst nicht ins Klischee von Schampus, schicken Schlitten und Sansibar, doch auch auf der Lieblingsinsel der Reichen und Schönen und derer, die sich dafür halten, leben arme Menschen. Es sind nicht nur die 126 Hartz-IV-Empfänger und ihre Familien. Vor allem sind es ältere Insulaner mit kleinen Renten und jüngere Sylter mit kleinem Gehalt, bei denen der Großteil des Einkommens für das Wohnen draufgeht. Denn die Mietpreise auf ihrer Insel liegen mittlerweile auf Rekordniveau: 750 Euro kalt für ein 40-Quadratmeter-Apartment sind mittlerweile normal. Wer Kinder hat und Durchschnittsverdiener ist, der kann sich eine Mehr-Zimmer-Wohnung oder gar ein Reihenhaus nicht leisten.

Allerdings gibt es diese Optionen auch gar nicht. Was frei wird, wird als Feriendomizil teuer vermietet oder zu horrenden Preisen verkauft, das Immobiliengeschäft auf Sylt gilt als Goldgrube. Auf der teuersten Straße der Insel kostet der Quadratmeter Bauland flotte 35.000 Euro, reetgedeckte Villen in Wattlage bringen es auf bis zu zehn Millionen Euro. Während die einen ihr Geld in noblen Urlaubsdomizilen anlegen und sie in der Nebensaison leer stehen lassen, finden die Einheimischen keine bezahlbare Bleibe mehr. Viele ziehen daher aufs Festland, ein Fünftel der Sylter pendelt jeden Tag mit dem Zug über den Hindenburgdamm, Jahr für Jahr werden es mehr.

Der Exodus der Einheimischen hat bereits begonnen, die Infrastruktur auf der Insel zu zerstören: Mehrere Grundschulen mussten schließen, Inhaber von Dorfläden denken ans Aufgeben. Das Problem der Wohnungsnot gilt als hausgemacht, wegen der lukrativen Lage auf dem Immobilienmarkt haben viele Sylter Haus und Grund verkauft. Gleichzeitig warten gut 550 Sylter auf eine Sozialwohnung, Wohnungsbau war lange Zeit kein Thema für die Kommunalpolitiker. Erst jetzt planen die Verantwortlichen erste Projekte auf öffentlichen Flächen.

Für die Besucher der Tafel kommen solche Initiativen ohnehin zu spät. Manche von ihnen wohnen mittlerweile in einem der beiden Obdachlosen-Wohnheime auf der Insel, teilen sich dort Küche und Bad. So wie Hajo mit der roten Windjacke. Als Hajo 2001 nach Sylt kam, erzählt er, da habe er als Tellerwäscher gearbeitet und die Gärten der Millionäre gepflegt. Was in seinem Leben schiefgelaufen ist, das erzählt er nicht. Seit zwei Jahren jedenfalls bekommt er Hartz IV ausgezahlt. Er wäre gerne Schauspieler geworden, sagt Hajo irgendwann, und dass er gerne noch einmal ganz von vorne anfangen würde, am liebsten in Hamburg. Dann zieht er sich die Jacke zurecht, nimmt seinen Einkaufsbeutel – geschnittenes Brot, Käse, ein Brokkoli, Instantpulver für Latte macchiato. „Ich gehe dann mal nach Hause.“

Text: Daniela Schröder
Foto: Mauricio Bustamante