Ein letzter Liebesdienst

Mit 84 Jahren beschloss meine Mutter zu sterben, sie wollte nichts mehr essen, nichts mehr trinken und keine medizinische Hilfe mehr annehmen. Ich habe sie auf diesem Weg begleitet. Es wurde ein Weg, der mich oft an meine Grenzen brachte.

(aus Hinz&Kunzt 230/April 2012)

An dem Tag, als meine Mutter mich anrief und sagte: „Es ist so weit“, da saß sie vor ihrem schönen Frühstück und konnte nicht mehr essen. Ich wusste, was dieser Satz bedeutete: Meine Mutter wollte sterben. Sie war nicht lebensmüde, ihr Körper ließ sie im Stich.

Meine Mutter war eine fröhliche, lebensfrohe resolute alte Dame. Auch mit ihren 84 Jahren lebte sie allein; nur gelegentlich nahm sie Hilfe von Bekannten beim Fensterputzen oder Arztgängen an. Aber sie war sehr krank. Die schweren Medikamente, die sie aufgrund ihrer Herzerkrankung nehmen musste, hatten große Nebenwirkungen. Sie hatte starke Schmerzen, Wasser in den Beinen und war so entkräftet, dass es schon eine Anstrengung für sie war, Kaffee zu machen. Sie zitterte so stark, dass sie die Tasse nicht mehr halten konnte. Besonders schlimm war für sie, dass ihr Magen sich verschloss: Sie konnte kaum noch essen. Meine Mutter hat immer gut für sich gesorgt, ihre Mahlzeiten liebevoll zubereitet und gern gegessen. Nun ging auch das nicht mehr.

Ihr Anruf war ein Schock für mich,
obwohl sie mich lange darauf vorbereitet hatte. Ein selbstbestimmtes Leben war wichtig für meine Mutter, aber auch ein selbstbestimmtes Sterben. Viele Jahre hatte sie mich bearbeitet, sie auf diesem letzten Weg zu unterstützen, und oft war es mir zu viel. Ich wollte mit ihr zusammen das Leben genießen. Und sie sollte Anteil an meinem Leben und dem meiner Familie haben.

Zwölf Jahre lang hatte ich versucht,
sie zu überreden, aus der Kleinstadt in Niedersachsen zu uns nach Hamburg zu ziehen; wir hatten schon eine Wohnung ausgesucht, gleich gegenüber, wir hätten uns von den Balkonen aus zuwinken können. Doch meine Mutter wollte in ihrer gewohnten Umgebung bleiben, in ihrer Wohnung, bei ihren Nachbarn. Und ich habe das schlussendlich akzeptiert, denn sie hatte einen starken Willen, ihren ostpreußischen Sturkopf.

Hektisch und kopflos begann ich nach ihrem Anruf zu packen. Ich hatte Angst, sie zu verlieren. Und ich stellte mir eine quälende Frage: Hatte ich ihren Entschluss beflügelt? Kurz vorher hatte ich eine Grabstelle für sie ausgesucht. Sie hatte mich mit ihrem Plan, sich anonym unterm grünen Rasen beisetzen zu lassen, völlig vor den Kopf gestoßen. „Weißt du, was du mir da antust?“, habe ich sie voller Wut und Verzweiflung gefragt, und das hat sie sehr erschreckt, denn erst da verstand sie, dass sie bei aller Selbstbestimmung ihre Familie nicht außen vor lassen konnte und war einverstanden, dass ich mich kümmerte. Einen Platz im Ruhewald hatte ich ausgesucht, weil wir Bäume so sehr lieben. Und ich hatte gedacht: Jetzt präsentierst du ihr was, und dann ist Ruhe mit dem Thema. Der Platz unter zwei Eichen gefiel ihr, und mir ging es gut damit. Ihr Entschluss, so versicherte sie mir später, habe damit nichts zu tun gehabt.

Ihre klare Haltung zu einem selbstbestimmten Leben und Sterben hatte einen Grund. Als ich fast 18 war, starb mein Vater an einem Hirntumor. Drei Jahre lang pflegten wir ihn; er überstand zwei Operationen und eine qualvolle, sinnlose Therapie, zu der er sich hatte überreden lassen – denn man versprach ihm Heilung. Die Behandlung meines todkranken Vaters entsetzte sie über die Maßen, sie wurde zu ihrem Schlüsselerlebnis und zementierte schließlich ihren Entschluss: So wollte sie nicht sterben, und sie tat alles dafür, dass ihr das nicht passierte, indem sie die Bedingungen selbst diktierte. Sie entschloss sich, nicht mehr zu essen und zu trinken. Denn ein Leben im Pflegeheim, ein langes Siechtum kam für sie nicht infrage. Ich hatte ihr versprochen, sie dabei zu unterstützen, auch wenn es mir sehr schwer fiel. Ein letzter Liebesdienst sozusagen. So hatte ich mich nicht nur um eine Grabstelle gekümmert, sondern mich vorsorglich auch nach Betreuungsmöglichkeiten zu Hause und einem Hospiz in ihrer Stadt erkundigt. Denn bei unserem letzten Besuch war ich erschrocken, wie sehr sie abgenommen hatte. Da hatte meine Mutter ihren Entschluss bereits gefasst. Ich bin jedes Wochenende zu ihr gefahren, um mich um sie zu kümmern, zu betreuen und zu pflegen. Aber ohne ein verlässliches Netzwerk hätte ich es nicht geschafft, dass sie so lange in ihrer eigenen Wohnung bleiben konnte. Das aufzubauen war schwierig, denn es bedeutete, Menschen und Einrichtungen dazuzuholen, die den Willen meiner Mutter respektierten und mit ihrer Berufsethik in Einklang bringen konnten. Das war schwierig, denn Ärzte und Pflegekräfte sind verpflichtet, Leben zu erhalten – ein selbstbestimmtes Sterben ist da nicht vorgesehen. Wie schwierig der Umgang damit wirklich werden würde, war mir da noch nicht klar. Ich war naiv. Menschen, die diesen Weg beschreiten wollen, brauchen Raum, und es ihnen schwer zu machen, halte ich für völlig unangebracht.

Obwohl meine Mutter zu Hause blieb, stand mir das Hospiz jederzeit für meine Fragen zur Seite. Dort riet man mir, den Hausarzt ins Boot zu holen, der sie auf ihrem Weg begleiten sollte. Doch der weigerte sich strikt, er schrieb ihr nicht mal mehr ein Rezept für ein Medikament aus, das sie dringend gegen ihre Atemnot benötigte, und warf sie aus der Praxis. Meine Mutter war am Boden zerstört. Auch hier half das Hospiz mit der Empfehlung einiger Ärzte. So fand ich auch den Palliativmediziner, der ihr die erforderlichen Medikamente verschrieb und sie weiter begleitete. Meine Mutter mochte ihn sofort, und auch er war sehr angetan von ihr. Das half.

Ein Körper, der schon lange mit wenig Nahrung ausgekommen ist, kann erschreckend lange aushalten, weil der Stoffwechsel so reduziert ist. Man hatte meiner Mutter geraten, ein wenig zu trinken, damit ihr Geist klar bleibt. Mehrfaches Mundspülen und ein halbes Glas Wasser pro Tag gestand sie sich zu, doch nach ein paar Wochen schmeckte ihr das nicht mehr. Deshalb bat sie um spanischen Sekt, ihre liebste halbtrockene Marke, den sie fortan trank – das passte grandios zu ihr. Und sie liebte kalten Kaffee, deshalb hatte sie immer ein Kännchen im Kühlschrank. Ihr Frühstück bestand aus einer halben Espressotasse kalten Kaffees, das genoss sie sehr.

Wie es mir dabei ging? Ich war traurig, verzweifelt, einsam und habe doch funktioniert wie ein Uhrwerk; ich habe in dieser Zeit unendlich viel organisiert, Papierkram erledigt und endlose Telefonate mit Behörden, Krankenkasse und Einrichtungen geführt, um für meine Mutter ein Netzwerk zu schaffen, das sie hält. Ohne diese Organisation hätte meine Mutter das so nicht durchziehen können. Meine Gefühle konnte ich erst richtig zulassen, nachdem sie tot war, sonst wäre ich zusammengebrochen.

Wenn ich am Wochenende bei ihr war, haben wir viel geredet und gelacht. Sie hat ihr Leben Revue passieren lassen und schöne Erinnerungen an gemeinsame Reisen gepflegt, die wir gemacht haben. „Weißt du noch?“ Wir sind viel gemeinsam gereist, nach Portugal, nach Italien, auf die Liparischen Inseln, wo wir zur Gaudi der Italiener Dosenwürstchen in den heißen Quellen heiß machten – wir haben uns gemeinsam erinnert an die schönsten Momente im Leben. „Uns ist es wichtig, dass der Sterbeprozess, das Ende des Lebens qualitätsvoll ist“, sagte die nette Dame vom Hospiz. Dazu gehört auch, letzte Dinge zu tun, Wichtiges aufschreiben, Fotos anschauen – all das hat meine Mutter sehr intensiv getan.

Das waren die guten Zeiten, die wir miteinander hatten. Doch es war schwer für sie, nicht nur körperlich. Sie hatte nicht bedacht, was sie mir antut. Sie begriff, dass es meiner Organisation bedurfte, damit sie ihren Weg gehen konnte, und sie wusste auch, wenn ich schlappmachen sollte, dann wäre sie allein. Das schlug ihr schwer auf die Seele. Sie hat sich oft bei mir entschuldigt dafür, dass sie mir das antun müsse. Ich konnte das verstehen, denn ich fühlte mich auch ein wenig instrumentalisiert. Und da war auch diese leise Wut und der Gedanke: „Du hast dich aus meinem Leben geschlichen.“

Manchmal wollte sie nicht, dass ich am Wochenende komme, weil ich für meine eigene Familie dasein sollte, aber ich wusste, dass sie doch sehnsüchtig darauf wartete. Dann war ich für ihre Pflege zuständig und habe mich um sie gekümmert. Und so hatten ihre letzten Tage für uns beide eine besondere Qualität. Ich habe mit ihr noch einmal geliebte Orte besucht. Ein letztes Mal haben wir zusammen auf einer Bank draußen gesessen, in einem Naturschutzgebiet, wo wir oft spazieren waren. Ich sehe sie noch dort, an einem kleinen Weiher, die Frösche quaken, sie nimmt diese Stimmung ganz intensiv auf – das Bild meiner Mutter mit den kurzgeschnitten Haaren, dem zarten Kinderkopf schnürt mir die Kehle zu.

Sie fehlt mir so, bei ganz alltäglichen Dingen. Die langen Telefonate mit ihr, wenn ich Hausputz machte und beim Staubwischen den Hörer eine Stunde lang einklemmte, um mit ihr über unsere geliebten historischen Romane zu reden. Ihre Fragen nach unseren Töchtern, ihr Lachen. Wir konnten herrlich zusammen lachen.

Eine freiwillige Mitarbeiterin des Hospizes
besuchte meine Mutter einmal wöchentlich. Eine liebe Bekannte meiner Mutter kam täglich, brachte sie noch einmal zu ihrer Friseurin, sah nach dem Rechten und sie wurde „meine Augen und meine Ohren“; ohne ihre Unterstützung hätte meine Mutter nicht bis zum Schluss zu Hause bleiben können.

Ende Mai nahm dann der ambulante Pflegedienst seine Arbeit auf, weil meine Mutter immer schwächer und zittriger wurde. Es war der gleiche Pflegedienst, der sich um meinen Vater gekümmert und bei dem meine Mutter nach seinem Tod als Teilzeitpflegekraft gearbeitet hatte. Dort erinnerte man sich noch an sie, das hat ihr gut getan. Weil sie immer schwächer wurde, war sie nach und nach auf Hilfsmittel angewiesen: einen Wannenlifter, einen Rollstuhl, später ein Dekubitussitzkissen. All das lehnte sie lange ab, musste es aber letztendlich akzeptieren – und dann ging es ihr nicht schnell genug, dass ihr die Hilfsmittel zur Verfügung standen!

Ihre Vorstellung war es, dass sie ins Hospiz gehen könnte, wenn es zu Hause nicht mehr gehen sollte, um dort zu sterben. Doch ein Hospiz ist dafür nicht angelegt: Es betreut todkranke, austherapierte Menschen, und dazu gehörte meine Mutter nicht. Ihre Erkrankungen hätten nicht unmittelbar zum Tode geführt, sondern nur die Ablehnung von Essen, Trinken und Medikamenten. Und damit erfüllte sie nicht die Voraussetzungen für das Hospiz. „Ihre Mutter bringt uns an unsere moralischen Grenzen“, sagte die Dame vom Hospiz, die uns so sehr geholfen hat. Auch für den ambulanten Pflegedienst war die Betreuung meiner Mutter eine Gratwanderung. Ich musste die Mitarbeiter ausdrücklich von der Verpflichtung entbinden, ihr zu trinken zu geben.

„Es gibt keinen Ort, wo wir hin können“, dachte ich. Mich hat diese Erkenntnis an die Grenze dessen gebracht, was ich ertragen konnte, denn damit kam es auf mich an, darauf, dass ich ihr Sterben reibungslos organisieren konnte. Für mich war das schwer, denn dabei begriff ich erst, dass man auf eine solche Situation gar nicht genügend vorbereitet sein kann, obwohl wir an so viel gedacht hatten. Meine Mutter hatte mir eine Patientenvollmacht und Bankenvollmacht erteilt, aber keine Generalvollmacht, mit der ich für sie die nötigen Anträge stellen konnte. Dazu kam der zeitliche Druck: Wie lange würde sie noch schreiben, unterschreiben können? An einer solchen Belastung können Familien zerbrechen.

Denn es gibt einfach unendlich viel zu bedenken. Meine Mutter hatte einen Notrufklingelknopf für den Fall, dass sie zum Beispiel nach einem Sturz Hilfe brauchen würde. Der übliche Weg wäre dann, sie in ein Krankenhaus zu bringen, wo alle lebensverlängernden Maßnahmen getroffen würden. Eine Patientenverfügung nützt da wenig, die muss man schon auf die Brust tätowiert haben, damit sie im Notfall beachtet wird. Und wenn man erst mal an die Geräte angeschlossen ist, bleibt man dran. Ich musste also bei meiner Mutter dafür Sorge tragen, dass kein Notarzt oder Krankenwagen alarmiert wird, sondern ausschließlich der ambulante Pflegedienst und der Palliativarzt, die ihre Haltung respektierten.

Bis zur letzten Woche hielt sie sich gut. Ich erinnere mich auch an einen wunderschönen Abend auf ihrem Balkon, wir saßen lange draußen beim Schein eines Windlichts, bei Wein und ihrem kleinen Sekt. Auf der Festwiese bei ihr in der Nähe ging das Schützenfest zu Ende, es gab ein Feuerwerk – es war schön, und sie sagte, dass sie glücklich sei und sich geborgen fühle. Dann ging es plötzlich rapide bergab. Sie bekam neurologische Ausfälle im Arm, ihr Gemüt war getrübt. Sie konnte nicht einmal mehr allein den Telefonhörer halten. Ich informierte den Arzt, die Dame vom Hospiz kam z u ihr, und die ambulante Palliativversorgung nahm die Arbeit auf. Das bedeutete vor allem eine intensivere Pflege und die Möglichkeit, bei Schmerzen Morphium geben zu können.

Schließlich bekam meine Mutter noch ein Pflegebett, das sie so lange verweigert hatte. „Kleine Menschen rutschen da ans Fußende, das ist unbequem“, hatte sie befunden. Nun kam das Bett, das ein Segen für sie war; sie legte sich rein und stand nicht mehr auf. Sie starb an einem Samstag, und erst am Donnerstag zuvor bekam sie zum ersten Mal ein Morphiumpflaster. Bis dahin hatte sie fast jede medizinische Behandlung verweigert, trotz großer Beschwerden. Die Angst, dass diese Maßnahmen ihr Leben verlängern würden, war größer.

Sie konnte nicht mehr schlafen,
sprach von „grausamen Nächten“. Sie hätte sich sedieren lassen können, aber das wollte sie nicht. Sie wollte klar bleiben, und sie konnte viel aushalten.

Als der Anruf kam, dass sie nicht mehr ansprechbar sei, bin ich sofort zu ihr gefahren. Meine Töchter haben für mich gepackt, ich konnte nicht mehr. Am späten Nachmittag kam ich bei meiner Mutter an – ich wusste den ganzen Weg über nicht, ob sie noch leben würde. Nun sah sie wirklich wie eine Totgeweihte aus. Ich habe sie in den Arm genommen und gestreichelt. „Ich bin jetzt da, Mami“, habe ich gesagt und glaube, dass sie das noch wahrgenommen hat. Sie hat auf mich gewartet, erst dann konnte sie loslassen. Um 23.25 Uhr hat sie das Atmen eingestellt. Meine Mutter war tot, neun Wochen, nachdem sie am Telefon gesagt hatte: „Es ist so weit.“ Und ich war so unglaublich allein.

Die Schwester des Pflegedienstes kam und hat den Tod bestätigt, der Arzt hat sie ein letztes Mal untersucht und den Totenschein ausgestellt, der Bestatter wurde informiert – alles noch in dieser Nacht. Ich habe meiner Mutter die Augen geschlossen, sie geküsst und ihr gesagt, dass ich sie liebe. Dann habe ich die Tür zu ihrem Zimmer geschlossen, denn ich konnte es keine Sekunde länger ertragen.

Am Tag danach, als der Bestatter sie abgeholt hatte, stellte sich zum ersten Mal ein kleines Hochgefühl ein: Wir haben das hingekriegt! Sie durfte in ihren eigenen vier Wänden sterben, das war ihr so wichtig; plötzlich war alles rund. Und doch bleiben unendliche Trauer, Entsetzen und Bitterkeit darüber, dass sie diesen Weg gehen musste und ihr krankes Herz nicht einfach aufhören konnte zu schlagen. Es bleibt auch die Wut, es bleiben Bilder, die mich quälen und die ich verarbeiten muss. Und es bleibt die Frage: Wie kann man diese Konsequenz an den Tag legen, obwohl der eigene Körper immer mehr verfällt? Ich kann mir nicht vorstellen, diesen Mut und diese Kraft zu haben, das durchzuziehen. Für meine Mutter war ihr Tod ein natürlicher, für mich ein Suizid auf Raten, den sie mit eiserner Disziplin erzwungen hat.

Protokoll: Misha Leuschen
Illustration: Nicole Riegert