Jorge González : Ein Kubaner im deutschen Exil

In Kuba tut sich was. Jetzt hat Staatsschef Raúl Castro sich sogar mit US-Präsident Barack Obama getroffen. Die Annäherung der beiden Länder beobachtet ein Hamburger mit besonderem Interesse: Laufstegtrainer Jorge González. Denn er ist einst aus Kuba geflohen, weil er dort nicht so sein durfte, wie er ist.

Jorge González hat „Rücken“. Nicht doll, nicht schlimm – nur ein bisschen. „Alles gut, kein Problem“, sagt er, als er sich ein wenig vorsichtig auf dem flachen Sofa niederlässt. Dann atmet er einmal tief ein, atmet wieder aus und schlägt seine langen Beine gekonnt übereinander. Und sofort ist da statt eines leichten Anflugs von möglicherweise Schmerz wieder dieses Lachen. Kein Lächeln – sondern ein offensives Lachen. Ansteckend, wohltuend, herzlich und absolut überzeugend. Er hat auch allen Grund dazu. Denn es geht ihm gut, rundweg gut. So gern lebt der gebürtige Kubaner nach Stationen in Offenbach und Frankfurt in Hamburg, so gern arbeitet er für seine „Chicas Walk Academy“, gibt dort Workshops und Kurse – und nun tut sich auch Gutes in Kuba. Denn Kuba und die USA reden wieder miteinander – und vielleicht könnte eines Tages die drückende Wirtschaftsblockade aufgehoben werden.

„Seit mehr als 50 Jahren lebt Kuba unter der Blockade. Viele Menschen haben das Land verlassen, viele Familien sind daran kaputtgegangen. Aber nun müssen die Menschen, die ihre Zukunft selbst gestalten wollen, nicht mehr mit dem Gedanken leben, das Land verlassen zu müssen“, sagt er. „Die Stimmung in meiner Familie? Grandios!“

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Offen wie wenige andere Prominente bekennt sich Jorge Gonzáles zu seiner Homosexualität. Als er noch in Kuba lebte, war das undenkbar.

 

Um zu verstehen, warum sich Jorge González so über die ersten Schritte einer möglichen politischen Annäherung freut und warum er so viel Hoffnung hat, muss man ein wenig über seinen Lebensweg wissen. Der im August 1967 in Kuba begann. In einer kleinen Stadt namens Jatibonico, in der Mitte Kubas. Er wächst in einer landesüblich trubeligen Familie auf. Sein Vater Lkw-Fahrer für die örtliche Zuckerfabrik, seine Mutter Floristin. Als Geschwister eine ältere Schwester, ein jüngerer Bruder. Mit im Haus lebt auch seine Großmutter. Die sehr wichtig für ihn werden wird.

Denn der kleine Jorge merkt früh, dass bei ihm etwas anders ist. Er findet Mädchen schön und toll und zieht sich gern an wie sie. Aber so richtig interessiert er sich – für Jungen. Und er merkt in den kommenden Jahren, dass er damit aus dem Rahmen fällt. Hört, wie die Erwachsenen auf der Straße davon reden, dass sie lieber einen Kriminellen zum Sohn haben möchten als einen Schwulen. Dass ein Schwuler Schande über seine Familie bringe. „Und gleichzeitig wusste ich: Ich bin okay, ich bin kein kranker Mensch oder so.“ Kurz bricht der Konflikt offen aus, als Jorge in einer Ballettkompagnie mittanzen will. Nichts da! Sein Vater erlaubt es ihm nicht. Er schickt ihn stattdessen zum Baseball, zum Boxen.

Eines Tages, als er aus der Schule kommt, steht seine Oma vor ihm. In den Händen hält sie sein Heft, das er so sorgsam versteckt hat. In das hat er Bilder aus Illustrierten eingeklebt – von Männern. Doch sie sagt zu ihm: „Du bist gut, so wie du bist.“ Und gibt ihm einen Kuss. „Wir haben nie darüber gesprochen; sie hat mich unterstützt, da brauchst du keine Worte, und ich habe angefangen zu verstehen, was Toleranz und Respekt sind“, sagt er.

Von nun an hat Jorge einen Plan: Er möchte so leben, wie er will. Und da das offenbar in Kuba nicht geht, beschließt er, das Land zu verlassen. Da er weiß, dass das so einfach nicht geht, muss er einen Weg finden: ein Studium im Ausland, später. Dafür muss er der Beste werden. Der absolut Beste.

Der Plan: Raus aus Kuba

Und er wird der beste Schüler seiner Klasse; der beste Schüler des Internats, auf das er folgerichtig geht. Was ihm einen Studienplatz im Ausland bescheren wird. Er bewirbt sich für das Studium der Nuklearökologie. Ihn interessieren Fächer wie Mathematik, Physik und Chemie, aber auch Biologie und Ökologie – er besteht alle Prüfungen. 17 Jahre ist er alt, als er Kuba verlässt. Im Spätsommer des Jahres 1985. „Ich saß das erste Mal in meinem Leben im Flugzeug und es war, als hätte ich den Hauptpreis in der Lotterie gewonnen.“

Es geht in die damalige Tschechoslowakische Sozialistische Volksrepublik (CSSR), die als ein vergleichsweise liberales Ostblockland gilt. Sein Traum ist es, nach Prag zu kommen. „Meine Tante hat immer wieder von Prag und von diesem Franz Kafka gesprochen; so oft, dass ich schon dachte, dieser Kafka ist ein Onkel von mir.“

Es wird Bratislava, nahe der österreichischen Grenze. Und während Jorge González neben dem Studium in Bratislava und dann in Prag anfängt zu modeln und er bald als Choreograf für Modeshows und Fotoshootings jobbt, beginnt sich die Welt erst langsam, dann rasant zu wandeln: Nach dem Fall der Mauer bricht auch in der CSSR das Regime mehr und mehr zusammen. Schon lange besucht Jorge nicht mehr die studentischen Abende der kubanischen Botschaft, auf denen man die Reden des Staatschefs Fidel Castro bespricht. Was den Botschaftsmitarbeitern keinesfalls gefällt. Und er wird in der Uni zu einer Art Tribunal geladen; soll sich über Stunden für sein Verhalten rechtfertigen – soll schnellstens sein Diplom machen und dann unverzüglich zurück nach Kuba fliegen. Seinen Reisepass hatte die Botschaft schon damals nach seiner Einreise einbehalten.

Aber er hat vorgesorgt. Draußen vor dem Saal sollen seine Freunde auf ihn warten. Aber werden sie dort wirklich stehen? Als er erschöpft vor die Tür tritt, sind da gefühlt mehr als 100 Leute, die ihn sofort umringen, die ihn mitnehmen, die so dafür sorgen, dass er für die nächsten Monate untertauchen kann. Damit ihn die aus der Botschaft nicht wegfangen. Jorge González hält kurz inne, er schaut auf die Härchen auf seinen Unterarmen: „Wenn ich jetzt davon spreche, meine Haare gehen so hoch.“ Er sagt: „Davon zu erzählen ist leicht und schön. Das zu erleben ist schwer.“

Er erhält in der neuen Republik Tschechien zunächst Asyl. Ist zwei Jahre lang staatenlos, während er an seiner Karriere arbeitet. Dann stellt ihm die neue Regierung endlich einen Reisepass aus. Und er kann gehen, wohin er gehen will – nach Deutschland. Denn dort, davon ist er überzeugt, ist das Leben tolerant. Dort gibt es Pünktlichkeit und Fleiß, und auch Ehrgeiz wird geschätzt. „Ich weiß, das ist auch ein Klischee, aber es ist auch wahr“, sagt er.

Deutsche Gründlichkeit

Und er hat einen Vergleich parat: „Wenn in Kuba in deinem Haus ein Wasserrohr platzt, dann versammeln sich viele Leute und beratschlagen stundenlang, was man machen könnte, wen man vielleicht holen könnte und warum das wohl passiert ist – und währenddessen läuft das ganze Haus voll Wasser. In Deutschland gibt es eine Telefonnummer, da ruft man an, jemand kommt und repariert das Rohr.“

Heute genießt er beides: die Ordnung in Deutschland und im Urlaub das Chaos auf Kuba. Wie desolat die Situation dort ist, erfährt er, als seine Mutter im Jahr 2005 schwer an Krebs erkrankt. Die Ärzte geben ihr nur drei Monate. Zum Glück werden es drei Jahre. Während dieser Zeit pendelt er ständig zwischen Kuba und Deutschland. „Das war für mich ein echter Luxus: dass ich mir das leisten konnte, so meine Mutter zu pflegen. Nicht teure High Heels oder exklusive Klamotten.“ Er sagt: „Es war eine schwierige Zeit, und es war eine schöne Zeit. Glück und Traurigkeit, beides war da. Ich war sehr glücklich, und ich war sehr sauer.“ Sauer und empört, weil die medizinische Versorgung für die normalen Menschen sehr ungenügend sei und seine Mutter die notwendigen Medikamente nur erhielt, weil er sie aus Deutschland mitbringen konnte.

Und sein Vater? Dem gehe es gut. 93 Jahre alt ist er jetzt. Er sei ein gut gelaunter Casanova, ein liebenswerter Macho wie eh und je: „Seit dem Tod meiner Mutter sind wir beide Kumpel. Wir gehen in eine Bar, spielen Domino, trinken dazu Bier und gucken beide den Chicas auf den Popo und kommentieren das – sehr lustig.“ Er sagt: „Ich verstehe heute, dass mein Vater damals versucht hat, mich mit Boxen und Baseball auf einen anderen Weg zu lenken. Umgekehrt hat er neulich zu mir gesagt: „Vielleicht war das gut so, dass du damals nicht Tänzer geworden bist. Wer weiß, ob du jetzt dein Leben so führen würdest, wie du es führst“. Und ich denke heute: Wenn etwas Schlechtes passiert ist, wird als Nächstes etwas Gutes passieren.“

Text: Frank Keil
Foto: Daniel Cramer