Die Trutzburg von St. Pauli

Eine Genossenschaft saniert zwei rotte Häuser. Abriss und Neubau wären billiger. Aber die Gruppe will ein Zeichen setzen gegen die neue, gesichtslose und teure Welt, in der die alten St. Paulianer bald keinen Platz mehr haben.

(aus Hinz&Kunzt 217/März 2011)

Happy End für 14 Erwachsene, fünf Kinder und zwei richtig heruntergekommene Häuser. Zwölf und sechs Jahre lang standen die Häuser aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leer. Die Häuser sind so rott, dass es billiger wäre, sie abzureißen und neu zu bauen. Aber das will die Gruppe nicht. „Wir bauen hier eine Art Trutzburg“, sagt Ralf Koppelkamp. Eine Trutzburg gegen das andere St. Pauli, gegen das neue und gesichtslose St. Pauli, das so teuer ist, dass es sich die Mitglieder dieser Gruppe nicht leisten können.

Die Kogge ist nur zweistöckig. Deshalb will der  Vermieter modernisieren und aufstocken.
Die Kogge ist nur zweistöckig. Deshalb will der Vermieter modernisieren und aufstocken.
HafenCity mitten auf St. Pauli. Die Alteingesessenen können diese Mieten nicht mehr bezahlen.
HafenCity mitten auf St. Pauli. Die Alteingesessenen können diese Mieten nicht mehr bezahlen.

Seit elf Jahren leben Ralf Koppelkamp und seine Frau Isabelle auf dem Kiez. Inzwischen haben sie Kinder gekriegt, sie müssen dringend umziehen. Aber im Stadtteil ist nichts zu bekommen. „Bis zu 200 Meter stehen die Menschen auf der Straße, wenn es eine Wohnung zu besichtigen gibt“, sagt der 38-Jährige. Oft ist er deshalb schon wieder umgedreht, wenn er den Andrang gesehen hat. Zumal er den Eindruck hatte, gegen die anderen Bewerber keine Chance zu haben. „Die meisten sind schicker, manche tragen sogar Anzug“, so Koppelkamp, „und man hat den Eindruck, die haben noch hundert Euro extra in der Tasche.“
Regelrechte Bewerbungsmappen brauche man heutzutage, sagt Mitstreiterin Melanie von Dollen. Sogar Schufa-Auskünfte verlangen manche Vermieter.
Zum Glück lernten die Koppelkamps Melanie von Dollen und das Wohnprojekt „Gure Etxea“ (baskisch für: „Unser Haus“) kennen. Eine Gruppe von Freunden, die sich alle beim Fußball kennengelernt hatten, beim FC
St. Pauli versteht sich. Alle arbeiten im Pflegebereich, der Gastronomie oder sind Grafiker. Was so viel heißt: keine hohen Gehälter und/oder keine regelmäßigen. Einer nach dem anderen hatte das Gefühl, nicht mehr lange im Stadtteil bleiben zu können, weil die Wohnungen rasant teurer wurden.
2006 fingen sie deshalb an, gezielt leer stehende Häuser zu suchen und beim Bezirksamt nachzufragen, ob sie eines mieten könnten. 2007 stellten sie sich bei der Agentur für Baugemeinschaften vor. „Damals haben wir uns unter anderen schon für diese beiden Häuser beworben“, sagt Melanie von Dollen. Eigentlich sollten die Häuser abgerissen werden, für die Erweiterung der angrenzenden Gewerbeschule. Dann standen sie leer, weil man wohl auf einen finanzkräftigen Investor hoffte. Das Übliche. So lange leer stehen lassen, bis es wirklich besser ist, abzureißen. Zum Glück fand dann auch das Denkmalschutzamt, dass man die Häuser erhalten sollte – und „Gure Etxea“ bekam den Zuschlag. Das war 2010.
Die Gruppe trat der kleinen Genossenschaft Ecken und Kanten bei, und die nahm ein Darlehen von 1,9 Millionen Euro für insgesamt 600 Quadratmeter Wohnfläche auf. Einzelpersonen bekommen, so ist das in den Richtlinien für sozialen Wohnungsbau festgelegt, eine Wohnung von 50 Quadratmetern, eine Familie mit zwei Kindern 94 Quadratmeter. Jeder Genosse muss 350 Euro pro Quadratmeter einzahlen, davon sind 100 Euro Eigenleistung. Mittwochs ist deshalb immer Baubesprechung mit den Handwerkern. Da wird dann beispielsweise besprochen, welche Decken oder Böden die Genossen rausreißen müssen, damit die Handwerker weitermachen können – und damit der Bau nicht noch teurer wird. Denn klar: Immer wieder gibt es schlechte Neuigkeiten. Noch mehr Schwamm als gedacht oder eine Torflinse im Untergrund, sodass Presspfähle für die Statik eingebaut werden müssen. „Aber noch ist alles im Rahmen“, sagt Melanie von Dollen.
Wenn alles gut geht, können die
St.-Pauli-Fans noch vor Weihnachten einziehen. Zwischen 6,40 und 7 Euro liegt dann die Miete pro Quadratmeter. „Es wird auch Zeit“, sagt Melanie von Dollen. Seit drei Jahren lebt sie mit Freund und den zwei Kindern in einer Übergangswohnung. „Viel länger könnten wir das finanziell nicht durchhalten, dann müssten wir aus dem Stadtteil wegziehen“, sagt sie. Bitter wäre das, „weil ich mich hier zu Hause fühle und hier auch meine Freunde leben“.
Was „Gure Etxea“ genau meint mit gesichtsloser und langweiliger Architektur, mit kalten Glas- und Steinbauten, kann man am anderen Ende von
St. Pauli erleben: an der Ecke Davidstraße/Bernhard-Nocht-Straße. Vielleicht wirken die Büro- und Wohntürme im Bavaria-Viertel nur deshalb so uninspiriert, weil sie am falschen Platz stehen. Sieht aus wie Klein-HafenCity mitten auf St. Pauli.
Angeblich gibt’s auf der Ecke eine Penthousewohnung, die für 5000 Euro pro Quadratmeter über den Tresen gegangen ist. Selbst wenn der Preis übertrieben sein sollte, merkt man doch, in welche Richtung der Stadtteil driftet. Leerstand scheint’s trotzdem zu geben. An einem Büroturm, dem Atlantik-Haus, prangt das Plakat eines Maklers: „Mieter müssen keine Provision bezahlen“. Und: „Aufsteiger mieten hier!“ Soll wohl witzig sein der Spruch – in einem der ärmsten Stadtteile Hamburgs.
Auf der anderen Seite der Davidstraße sieht es aus, als habe ein Riesenbagger mal eben alles plattgemacht. Das alte Zirkusrestaurant in der Erichstraße ist schon weg, die Pension Flehmig steht kurz vor dem Abriss. Hier soll das neue Bernhard-Nocht-Quartier entstehen, gegen das die Anwohner Sturm gelaufen sind.
Die Investoren Köhler & von Bargen wollten 76 neue Wohnungen bauen, voraussichtlich Eigentumswohnungen. Anvisierter Quadratmeterpreis: 3000 bis 3500 Euro. Zum Bestand gehörten noch 23 Wohnungen, die saniert werden sollten. Das Projekt und die geplante Sanierung der 23 Mietwohnungen hat so einen Gegenwind bekommen, dass Köhler & von Bargen anboten, der Initiative die Häuser für knapp zehn Millionen Euro („Selbstkostenpreis“) zu verkaufen. Das klappte nicht, aber Köhler & von Bargen änderten trotzdem  ihre Pläne: Die derzeitigen Mieter erhalten Bestandsschutz; die Sanierung wird aus Fördermitteln bezahlt. Außerdem bauen die Investoren 21 Sozialwohnungen: Auch hier ist dann die Miete auf zehn Jahre festgelegt. 55 Wohnungen werden für eine Pensionskasse frei finanziert gebaut. Was bedeutet: Diese Wohnungen werden relativ teuer vermietet.
Bezirksamtschef Markus Schreiber (SPD) findet diese Lösung gut. „Ich finde es nicht verkehrt, wenn hier auch Menschen leben, die nicht am unteren Rande des Existenzminimums leben“, sagt er gegenüber Hinz&Kunzt. Durch die Neubewohner ist St. Pauli nicht mehr ganz so arm wie vorher, „sondern wurde von Dulsberg abgelöst“. Eine Soziale Erhaltensverordnung wird gerade für den Stadtteil geprüft, so der Bezirks-amtschef. „Wenn jetzt auch noch eine Baugenossenschaft hinziehen kann, dann ist die Sache für mich rund.“
Das sehen anscheinend nicht alle so: „Noch brennen die Bagger“, räumt Schreiber ein. Vielleicht deshalb, weil derzeit das alte St. Pauli zu einer Randerscheinung zu verkommen droht. Nach einer Studie der Universität Hamburg sind die Bewohner mit der Entwicklung des Stadtteils sehr unzufrieden, geben ihm durchschnittlich die Note 4,2. Und sie sind umso unzufriedener, je länger sie hier wohnen. Denn die Alt-St.-Paulianer sind es auch, die nicht wissen, ob sie sich morgen die Mieten im eigenen Stadtteil noch leisten können.
Wie ein kleines Bollwerk gegen die Aufhübschung wirkt die Kogge, das kultige Rockhotel genau neben dem Bernhard-Nocht-Quartier. Wenn man hier aus dem Fenster schaut, dann auf bunte Häuserfassaden und alte VW-Busse mit Blümchen. Und wer nicht aufpasst, tritt vor der Tür auch mal in Hundescheiße, so lebendig ist’s hier. Aber auch die Kogge und ein Dutzend Bewohner im Hinterhaus kämpfen ums Überleben. Die beiden Häuser sind von einem Fotografen aufgekauft worden. „Zum ersten Besuch kam er mit seiner Mutter“, sagt
Riikka Beust, die seit 2003 die Kogge betreibt. „Das fand ich sympathisch.“
Das änderte sich jedoch schnell. Für das ziemlich heruntergewirtschaftete Haus, dem eine sanfte Renovierung gut tun würde, wollte er eine Mieterhöhung haben: 9 Euro mehr pro Quadratmeter, wegen Energiesparmaßnahmen. „Die Miete hätte sich verdoppelt, es war klar, dass wir das nie schaffen würden“, sagt Riikka Beust. Eine Mieterhöhung in dieser Größenordnung hat selbst Mieter helfen Mietern (MhM), die die Kogge und einige Hinterhof-Bewohner vertreten, noch nie erlebt.
Noch bis 2018 läuft der Mietvertrag für die Kogge, aber Riikka Beust und die Bewohner sind offensichtlich nicht mehr erwünscht. Ständig kündigt der Vermieter – mal fristlos, mal fristgerecht, aber aus fadenscheinigen Gründen. Zwei Verfahren hat der Fotograf schon verloren. Aber nur ohne seine Mieter könnte er seine Pläne umsetzen: Sanierung und Modernisierung des Hinterhauses plus Ausbau des Dachgeschosses, Teilabriss der Kogge und Aufstockung um zwei Geschosse mit Ausbau des Dachgeschosses und Bau von Maisonettewohnungen. Betreiben eines Boarding-Hauses.

„So ein Umbau bei laufendem Hotelbetrieb ist völlig unmöglich. Das würde die Kogge nicht verkraften“, sagt MhM-Anwalt Marc Meyer. Den Vermieter hält er für einen Trittbrettfahrer, der glaubt, im Windschatten der Aufwertung einen fetten Anteil Extraprofit vom Kuchen abschneiden zu können. Dass er damit durchkommt, glaubt er nicht. „Sein Vorgehen ist zu durchsichtig“, sagt er. „Das werden auch die Richter feststellen.“

Text: Birgit Müller
Fotos: Maurice Kohl