Lebenslinien : Die Suche nach der verlorenen Zeit

Ich möchte eine Geschichte erzählen. Meine Geschichte mit einem Menschen, den ich liebte. Von einem Menschen, der viele Jahre gegen die Verzweiflung und gegen die Kälte in seinem Leben kämpfte. Einem Menschen, der es trotz Hoffnung und Willen nicht schaffte, seiner Alkoholsucht und dem Tod zu entkommen. Dieser Mensch war mein Vater.

(aus Hinz&Kunzt 239/Januar 2013)

Vier Jahre ist es nun schon her. Er starb am 22. Dezember 2008. Ich erfuhr es erst am zweiten Weihnachtstag, am Telefon. Meine Adoptivmutter verfolgte mein Gespräch mit dem Chefarzt der Asklepios- Klinik-Harburg und trat – die Hände vors Gesicht geschlagen – hinter mich. Sie weinte, während ich erstarrte. Warum?, fragte ich mich. Warum jetzt? Erst vor Kurzem hatte ich dich wiedergefunden, Papa. Und jetzt warst du fort, für immer. Meine Adoptivmutter legte die Arme um meinen Körper und hielt mich. Ganz lange, ganz fest. Und endlich konnte auch ich meine Trauer zulassen. Jetzt war es also vorbei. Meine Suche fand hier ein Ende. Die Suche nach dir, Papa, und nach der verlorenen Zeit – der Zeit, die ich so gerne zusammen mit dir verbracht hätte.

Heute bin ich 26. Ich war fünf, als ich durch einen Beschluss des Jugendamts in ein Kinderheim kam. Vorher lebte ich bei meinem Vater in Altona. Meine Mutter hatte uns verlassen, als ich gerade anderthalb war. Sie wollte mich nicht haben, und ich habe auch heute keinen Kontakt zu ihr. Doch für meinen Vater war ich ein Wunschkind. Er sehnte sich nach einer kleinen Familie, nach einem Stück Normalität. Schon damals war er dem Alkohol und den Drogen verfallen. Angefangen hatte es während seiner Zeit beim Bund, als er unglücklich verliebt war. Um seiner damaligen Freundin mehr bieten zu können, verschuldete er sich stark. Dennoch verließ sie ihn, was er bis an sein Lebensende nicht verkraftet hatte. Noch bei unserem letzten Treffen erzählte er von ihr. Genau wie von seinem Vater, der ebenfalls an den Folgen von Alkoholsucht gestorben war. Bis heute leide ich darunter. Liegt diese Sucht in unseren Genen, Papa? Ich weiß, ich muss aufpassen, ich war auch schon viel zu nahe dran …

Ich habe nicht viele Erinnerungen an die Zeit mit meinem Vater. Von Verwandten und Mitarbeitern des Jugendamts ­habe ich gehört, dass ich wohl öfter im Kindergarten vergessen wurde. Ich hatte häufig schmutzige Pullis an und roch unfrisch. Meine Zähne waren ungepflegt, weil ich mich weigerte, sie mir putzen zu lassen. Ich hatte Angst vor Wasser.

Oft war es meine Oma, Papas Mutter, die dafür sorgte, dass ich ausreichend zu essen hatte oder ab und zu neue Kleidung bekam. Wenn Papas Saufkumpane vorbeikamen, reihten sich auf dem Küchentisch die Biergläser aneinander, an denen ich nippte. Ich war ständig allein, daran erinnere ich mich. War ich oft traurig? Vielleicht. Aber was ich mit Sicherheit weiß: Mein Vater gab mir trotz allem viel Wärme und Liebe mit auf den Weg. Er wurde niemals laut, niemals gewalttätig – und er schämte sich dafür, nicht für mich sorgen zu können. Er konnte es selbst nicht wahrhaben, einfach keine Kraft zu haben, sich um mich richtig zu kümmern.

So kam ich also ins Heim. Ich fühlte mich wohl dort, fand schnell Freunde. Eine Sozialarbeiterin veranlasste einige Treffen zwischen meinem Vater und mir. Er erschien nicht immer, manchmal war er zu betrunken oder auf der Flucht vor der Polizei – um an Geld zu kommen, beging er mehrere Diebstähle. Kurz vor meiner Einschulung, als er gerade wieder einmal auf der Flucht war, schrieb er mir einen Brief.„Du wirst sicher schon geglaubt haben, ich hätte dich vergessen“, heißt es darin gleich zu Anfang. „Dem ist aber nicht so – im Gegenteil. Ich denke sehr, sehr oft an dich. Ich vermisse dich sehr.“

Als ich acht war, besuchte ich ihn einmal im Knast. Die Umgebung war mir unheimlich, doch als ich zu Papa auf den Schoß durfte und er mir Papier und Malstifte schenkte, war ­alles gut. Ich war glücklich. Zehn Jahre dauerte es dann, bis ich wieder von ihm hörte. In der Zwischenzeit kam ich zu Pflegeeltern, die mich später adoptierten. Endlich bekam ich eine Mama! Sie ist bis heute die wichtigste Person in meinem Leben. Ich kenne keinen Menschen, der sich so sehr um das eigene Kind bemüht wie sie. Zu meinem Adoptivvater hatte ich allerdings kein so gutes ­Verhältnis – einen Papa hatte ich ja auch schon. Und was für mich das Schlimmste war: Meinem Adoptivvater missfiel der Kontakt zu meinem richtigen Papa. Er fand ihn asozial.

Als Kind half ich mir damit, die Vergangenheit komplett auszublenden. Vor meinen Schulfreunden verheimlichte ich meine wahre Geschichte. Es war mir schon immer egal, was andere dachten, allerdings glaubte ich inzwischen selbst an mein neues Leben. Doch in der Pubertät kam alles wieder hoch. Ich spürte, dass ein Teil von mir fehlte. Ein Teil, der mich zu einem Ganzen gemacht hätte. Ich stellte Fragen. ­Fragen nach dir, Papa. Ich bat das Jugendamt, das weiterhin Kontakt zu meinem Vater hatte, um Hilfe. Aber dort riet man mir, ich solle ihn lieber von früheren Zeiten in Erinnerung behalten – mittlerweile sei er durch den Alkohol- und Drogenkonsum schon so krank, dass es kein schönes Wiedersehen würde. Ich war mit meiner Kraft am Ende und wütend über diese oberflächliche Bemerkung. So kam es, dass ich selber krank wurde – seelisch und körperlich. Und ich trank auch. Zu viel. Bis ich 2006 die Reißleine zog und freiwillig für mehrere Monate in ­eine Klinik ging. Langsam rappelte ich mich wieder auf und spürte jeden Tag mehr: Egal wie es dir geht, Papa, ich möchte, ich muss dich wiedersehen! Tatsächlich half mir das Jugendamt dabei, endlich wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ich erfuhr, dass er eine Verlobte hatte und mit dieser einen Sohn. Ich erfuhr aber auch, dass er weiterhin nicht gegen seine Sucht ankam und zeitweilig auf der Straße lebte. Seine Verlobte war ebenfalls abhängig, der Junge lebte wie ich früher in einem Heim. Als ich mit meinem Vater telefonierte versprach er, mich in der Klinik zu besuchen. Dann kam der Tag, endlich! Doch mein Vater kam nicht. Ich war am Boden zerstört. Denn bis dahin hatte ich ihm trotz allem immer vertraut, so wenig wir uns auch kannten. Ich hatte nie an ihm gezweifelt. Hattest du mich jetzt verraten, Papa? War ich dir doch egal? Das konnte ich nicht glauben.

So war es auch nicht – ganz und gar nicht, wie ich kurz darauf erfuhr: Mein Vater war auf dem Weg zu mir zusammengebrochen – er lag jetzt in der gleichen Klinik wie ich, nur auf einer anderen Station.

Ich rannte zu dir so schnell ich konnte. So viele Fragen wollte ich dir stellen! Zu deiner Vergangenheit, zu meiner Vergangenheit, zu uns. Aber an Papas Bett war ich wie ­gelähmt. Er war vollgepumpt mit Schmerzmitteln, lag völlig reglos da. Nur seine Augen verrieten die Freude, mich endlich wiederzusehen. Leider war die Zuversicht nicht so groß wie seine Angst vor Krankenhäusern. Er hasste es dort. Und ­sobald es ihm wieder etwas besser ging, büxte er aus. Zum zweiten Mal verschwand er aus meinem Leben. Einfach so. Dieses Mal für immer? Das wollte ich nicht akzeptieren. Ich machte mich wieder auf die Suche, was gar nicht so einfach war, da auch die Polizei erfolglos nach ihm fahndete. Mein Vater war einmal mehr auf der Flucht. So machte ich mich eigenständig auf den Weg und klapperte Hamburgs Straßen und Obdachloseneinrichtungen ab. Ich verteilte Flugblätter mit Papas Daten und seinem Bild darauf, unterhielt mich mit zig hilfsbereiten Obdachlosen und Hinz&Kunzt-Verkäufern – vielleicht hatte er hier ja Zeitungen verkauft? Jede neue Ausgabe, die ich in die Hände bekam, blätterte ich mit zitternden Händen bis zu den Todesanzeigen durch, befürchtete stets das Schlimmste. Doch es gab kein Zeichen von dir, Papa, weder ein Lebens- noch ein Todeszeichen. Also suchte ich weiter.

Im März 2008 schrieb ich meinem Vater in Gedanken einen Brief. „Ich bin und bleibe deine Tochter, die dich liebt“, erklärte ich ihm darin. „Trotz aller Schwächen, die du hast. Du bist ein Teil von mir, ich bin ein Teil von dir.“ Das gilt auch heute noch, nach seinem Tod. Schaue ich in den Spiegel, sehe ich seine Augen in meinen, ich höre seine Stimme, wenn ich spreche. Mein Vater hat viele Freunde ­verloren, sich durch seine Sucht einiges kaputtgemacht. „Aber mich hast du nie verloren“, sage ich in Gedanken zu ihm. Da sind keine Vorwürfe in mir, keine Wut gegenüber meinem ­Vater. Ich wollte ihn damals einfach wiedersehen, ihn fest­halten, solange es noch ging.

Im November 2008 hatte ich endlich Glück: Ich traf in Harburg einen Obdachlosen, der meinen Vater kannte und ein Treffen organisierte. Zittrig kam ich auf den Harburger Rathausmarkt und fand dort den Trinkkollegen, Papa und seine Verlobte vor. Der Mund meines Vaters stand weit offen, er blickte leer und staunend drein – die Augen glasig, das Gesicht gelb und aufgedunsen durch Hepatitis und Leberzirrhose. Er sah schlecht aus, ungepflegt und zeigte erste Anzeichen einer Demenz. Wir umarmten uns innig, während die anderen zwei uns rücksichtsvoll allein ließen.

Wir sprachen nicht viel. Papa wirkte müde und erschöpft. Er litt unter heftigen Bauchschmerzen, die von einer inneren Blutung herrührten, weil er gestürzt war. Ich erzählte ein bisschen aus meinem Leben, er erzählte aus seinem – von seiner Verlobten, dem ­gemeinsamen Sohn, der nun zwölf sein musste und psychologisch betreut wurde; von der Sehnsucht nach einem normalen Leben, dem Wunsch eines Familienzusammenhalts und von Unabhängigkeit. Es gab keine Vergangenheit – die Gegenwart zählte. Papa öffnete sein Bier, ich kaufte ihm sein ­geliebtes Erdbeereis; wir schlenderten durch die Arkaden; ich lud ihn auf einen Hamburger ein und besorgte Schmerzmittel. Ich bemerkte viele verächtliche Blicke von der Seite, die ich erbost erwiderte und Paps demonstrativ noch fester an mich drückte. Wir machten Pläne, sprachen von gemeinsamen Theater- und Musicalbesuchen. Ich werde nie vergessen, wie er mir ins Gesicht sah – der Blick wie blind und doch im tiefsten Inneren warm und liebevoll. Mit dem verborgenen Glanz eines gut aussehenden, fröhlichen Mannes – während er in sich zusammengefallen, heiser – beinahe krächzend – zu mir sagte: „Ich bin so stolz auf dich, meine Kleine!“

Nach dem Treffen war ich wie versteinert. Ich wollte ­weinen – vergebens. Ich wusste nicht, was ich dachte – ob ich dachte. Vakuum. Ich spürte mich nicht. Ich fühlte nichts. ­Einen Monat dauerte es, bis ich die Kraft fand, Papas Verlobte anzurufen, um nach meinem Vater zu fragen und um ein zweites Wiedersehen zu bitten. Doch alles, was ich erhielt, war die lallende Auskunft, er befände sich in der Harburger Klinik. Am zweiten Weihnachtstag rief ich dort an. Zu spät.

Ende Januar war die Beerdigung. Ich las dir ein langes Gedicht vor, Paps, hast du es gehört? „Abschied“ habe ich es genannt. In einer Strophe frage ich: „Wie soll ich den Gedanken ertragen, dich nie wirklich gehabt zu haben? Wie soll ich die Erkenntnis besiegen, nie wieder in deinen Armen zu liegen?“ Dann hörten wir „Time to say goodbye“ – der Text ließ mir keine Ruhe, die Bedeutung fraß sich in mein Gedächtnis. Es ist Zeit, zu gehen, es ist Zeit, loszulassen. Kann ich das? Bis heute vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meinen Vater denke. Die Beerdigung war furchtbar. Die Grabstelle von Papa: so winzig zwischen all den prachtvollen Steinen, wie ich sie mir nicht hätte leisten können. Eine gegrabene Kuhle – ummauert, mehr nicht. Ich dachte, er käme in pure Erde, nicht in so einen Mauerschacht! An Seilen wurde Paps hinuntergelassen. Eingelocht. Knast. Als wenn er nicht lang genug gesessen hätte.

Ich warf das Gedicht und das letzte Foto von ihm und mir auf sein neues Zuhause. Damit du da unten nicht alleine bist, Papa! Das Foto fiel auf den Rücken und am Sarg vorbei. Ich fluchte. Dann ging ich nach Hause. In mein neues ­Leben, für immer ohne dich. In meinem Kopf summte ich ein Lied von Frank Sinatra, das ich mir für meinen Vater auf der Beerdigung gewünscht hatte: „My way“.

Text: Nina Heick
Foto: Mauricio Bustamante