Projekt „Mento“ : DGB will Analphabeten helfen

Es gibt mehr Analphabeten in Hamburg und Umgebung, als man denkt: 170.000 Menschen in der Metropolregion können nicht richtig schreiben und lesen. Der DGB will das jetzt ändern und Lernhelfer in Betriebe schicken, um die Analphabeten zu unterstützen.

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Heute kann er endlich Schreiben: Der funktionale Analphabet Uwe Boldt bei der Vorstellung des Mento-Projekts am Mittwoch.

Von den 37 Jahren, die Uwe Boldt im Hamburger Hafen arbeitet, konnte er 24 Jahre lang nicht schreiben und nur schlecht lesen. Die ganze Zeit über ist es ihm gelungen, das vor seinen Kollegen zu verbergen. „Ich habe es verschwiegen, um dem Gehänsel aus dem Weg zu gehen“, sagt er. Das war gar nicht so einfach, Boldts Geheimnis bestimmte seinen Arbeitsalltag: „Ich habe immer die Tätigkeiten gemacht, bei denen man nicht schreiben musste“, sagt er. Jahrzehntelang hat er sich so durchs Leben gemogelt. Erst im Jahr 2000, als er den Arbeitgeber wechselte, kam er nicht mehr drum herum, sich das Schreiben beizubringen: Er besuchte einen Volkshochschulkurs.

Etwa 170.000 Menschen in der Metropolregion Hamburg geht es wie Uwe Boldt: Sie sind so genannte „funktionale Analphabeten“, können also ein wenig lesen oder schreiben, aber ganze Texte nicht verstehen oder sie nicht verfassen. „Sie sind unter uns, wir erkennen sie bloß nicht“, sagt Anke Grotlüschen von der Uni Hamburg. Sie hat das Phänomen des funktionalen Analphabetismus untersucht. Die Forscherin erklärt, dass man sogar einen Schulabschluss erreichen kann, ohne richtig Schreiben zu können – so wie Uwe Boldt. „Es ist in Deutschland möglich, eine Abschlussprüfung zu bestehen, indem man einen Lückentext ausfüllt“, sagt die Grotlüschen. Viele würden Schreiben und Lesen nach der Schule aber auch einfach wieder verlernen, wenn sie es in Alltag und Beruf nicht bräuchten. „Das geht relativ schnell, innerhalb von zwei Jahren.“

Gewerkschaft will „Kultur des Hinsehens“

„Ich konnte diese Zahl zunächst gar nicht glauben“, sagt Uwe Polkaehn, Vorsitzender des DGB Bezirks Nord. Später stellte er fest, dass die Analphabeten hauptsächlich im Baugewerbe, in der Gebäudereinigung und im Dienstleistungs- und Logistiksektor arbeiten. Ihnen will der Gewerkschaftsverband nun helfen: Grundbildung sei wichtig, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, so Polkhaehn. Zusammen mit dem Bildungsträger Arbeit und Leben beteiligt sich der DGB Bezirk deshalb am Programm „Mento“. Polkaehn: „Wir wollen in den Betrieben eine Kultur des Hinsehens organisieren.“

Das Konzept: In Betrieben sollen Mentoren und Lernberater ausgebildet werden, die sensibel auf die Analphabeten zugehen und sie beraten. „Wir suchen in den Betrieben engagierte Menschen, die Ansprechpartner für diese Kolleginnen und Kollegen sein möchten“, sagt Canan Yildirim, Projektkoordinatorin von Mento. „Die Mentoren und die Lernberater werden in mehreren Modulen ausgebildet und in ein Netzwerk eingebunden, in dem sie jederzeit Austausch und Unterstützung bekommen können.“ Das mit Bundesmitteln geförderte Projekt endet im März 2016, die Ziele sind ambitioniert: „Wir möchten so viele wie möglich erreichen“, sagt Yildirim. „Mit der Ausbildung von 80 Mentoren begnügen wir uns nicht.“

Uwe Boldt ist einer von denen, die sich zum Mentor ausbilden lassen wollen. Seinen Kollegen will er Mut machen und ihnen sagen: „Es gibt eine Schule, in der du Lesen und Schreiben lernen kannst!“ So wie er es getan hat. Seit 13 Jahren besucht der Hafenfacharbeiter zwei Mal die Woche nach Feierabend die Volkshochschule, um Schreiben zu lernen. „Ich kann’s aber immer noch nicht richtig“, sagt er mit einem Schmunzeln im Gesicht. Aber dazu stehen, das kann er jetzt. Die Unterstützer, die ihm im Betrieb geholfen haben, seine Schreibschwäche zu vertuschen, helfen ihm auch noch heute. „Meine Mitwisser habe ich immer noch. Wenn ich etwas geschrieben habe, frage ich sie, ob das richtig ist“, sagt Boldt. Und immer öfter ist es richtig. Seine neu erworbenen Fähigkeiten haben ihn beruflich nach vorne gebracht: Er hat verschiedene Fortbildungen gemacht, was ohne Schreiben zu können nicht möglich gewesen wäre. Nun will er anderen helfen, es ihm gleich zu tun.

Text und Foto: Benjamin Laufer