Bei Shiva an der Bille

Mitten im Industriegebiet empfangen die Götter Besuch

(aus Hinz&Kunzt 141/November 2004)

Der Aufstieg auf Socken durchs karge Treppenhaus wird belohnt: Kaum ist die letzte Stufe geschafft, tut sich ein riesiger Raum auf, der so fremd und unwirklich erscheint, dass Besucher erst mal erstaunt die Augen zukneifen und wieder aufreißen. Die schwere Süße von Räucherstäbchen liegt in der Luft, der Boden der Halle ist mit unzähligen geknüpften Teppichen bedeckt.

An der Wand steht die lange Reihe hinduistischer Götter, in goldbestickte Gewänder gehüllt, vor ihnen Früchte und Blumen als Opfergaben. Gütig blicken die Statuen auf die Schar der Gläubigen, die sich hier schon morgens versammelt hat. Bunt gekleidete Frauen und Männer mit orangefarbenen Kopftüchern erweisen den Göttern die Ehre, alle barfuß, um den Tempel nicht zu entweihen.

Neugierig schauen sie sich nach den Neuankömmlingen um, die sich zunächst nicht trauen, über die Türschwelle zu treten. Im Zentrum des Tempels steht Prem Chand und lächelt sanft. Der 60-Jährige ist es gewohnt, dass Besuchern beim Anblick der unerwarteten Pracht im Tempel erst einmal die Luft wegbleibt. Denn von außen unterscheidet sich der Tempel nicht von den übrigen Gebäuden am Billekanal in Rothenburgsort. Ein gewöhnlicher Betonklotz an der Billstrasse, gelb gestrichen, umgeben von einer rissigen Mauer, auf der Stacheldraht rankt, mit einem großen grauen Parkplatz davor. Typisch Industriegebiet. Nur das Schild „Hindu Tempel“ auf dem Dach, neben dem eine dreieckige rote Fahne aus zerfranstem Stoff im Wind flattert, verrät, was drinnen passiert. Und natürlich der Haufen Schuhe, die vor dem Eingang auf ihre Besitzer warten.

„Viel Kontakt haben wir mit denen eigentlich nicht“, erklärt Enrico Grimberg, der auf dem Schrottplatz nebenan arbeitet. Klar, sie hören die Musik und die Gesänge, das Klimpern der Klangschalen und die anderen merkwürdigen Geräusche. Manchmal feiert die Gemeinde auch draußen auf dem

Parkplatz ihre Götter, mit Gesang und Tanz. Bei diesen Gelegenheiten wundern sich die Männer vom Schrottplatz noch mehr. Sie hocken in ihrem Bürocontainer, von dem aus sie auf den Parkplatz vor dem Tempel schauen können, essen Stullen und amüsieren sich: „Das sieht schon alles ziemlich lustig aus.“

Im Tempel, wo so etwas Profanes wie Metallrecycling unendlich weit weg erscheint, lächelt Prem Chand zwischendurch immer noch sanft. Aber die meiste Zeit sind seine Lippen jetzt in Bewegung. Er schreitet die Statuen der Gottheiten ab, zu jeder erklärt er sehr gestenreich und auf Englisch, welche Legenden sich um sie ranken. Er genießt das Interesse an seinem Glauben, dem er sich, seit er vor fünf Jahren aus Afghanistan nach Deutschland gekommen ist, ganz widmet. „Shiva ist der Vater von allem“, erklärt er. Der Legende nach entsprang seinem Haupt der heilige Fluss Ganges, der die Erde fruchtbar macht. Neben Shiva wird gearbeitet: Zwei Frauen halten ein Tuch vor die Statue seiner Gemahlin, eine dritte macht sich dahinter zu schaffen. Die Erklärung für die umständliche Prozedur: Shivas Frau Parvati wird gereinigt, kein Mann soll dabei einen Blick auf ihren nackten Körper erhaschen können.

Ein Stockwerk tiefer sitzt Debasish Samanta in seinem Büro. Hier ist von der Pracht des Tempels nichts zu spüren. Es ist ein Büro wie viele andere in Hamburg. Sogar ein paar Sportpokale stehen in den Regalen, mit der Aufschrift „Hindu Tempel“, als hätte eine ganz normale Werksmannschaft eine Trophäe vom Fußballturnier mit nach Hause gebracht. Fast enttäuschend gewöhnlich. Nur in der Thermoskanne ist kein Kaffee, sondern Tee, mit so viel Milch und Zucker, dass er karamellfarben ist und und süß wie Honig.

Der kräftige Mann mit den weißen Haaren ist Sprecher der afghanischen Hindu-Gemeinde, die den Tempel an der Bille betreibt. Dabei ist er kein Priester, sondern kam auf völlig weltlich-bodenständige Weise an den Job: Der gelernte Maschinenbautechniker engagierte sich jahrzehntelang im Deutschen Gewerkschaftsbund. Später beriet er im Auftrag der Stadt Hamburg Menschen, die aus Afrika, Südamerika und Asien in die Hansestadt kamen. „Daher, was die Leute eben so Dritte Welt nennen.“ Etwas verbittert fügt er hinzu: „Mit 65 Jahren wurde ich dann gezwungen, in Rente zu gehen.“ Seine Stelle wurde nicht wieder neu besetzt, Debasish Samanta vermutet, dass mancher im Rathaus ganz froh darüber war, ihn endlich los zu sein.

Dafür fordert ihn jetzt die afghanische Hindu-Gemeinde Hamburg, die mit 2000 Mitgliedern die größte in Norddeutschland ist. Der Tempel an der Bille ist aber nicht nur Anziehungspunkt für afghanische Hindus, sondern auch für alle anderen Religionen und Nationalitäten: „Auch Moslems kommen hierher“, erzählt Debasish Samanta begeistert. Streit zwischen den Religionen? Blödsinn: „Gott ist wie Wasser“, erklärt Debasish Samanta, „er passt in jedes Gefäß.“ Über ihm im Tempel geht der hinduistische Gottesdienst zu Ende. Prem Chand holt eine Karaffe, aus der er mit raschen Bewegungen Wasser auf die Gläubigen spritzt. Danach schüttet er jedem einen Schluck Wasser in die gewölbte Handfläche. Das Wasser kommt vom Ganges, erklärt Prem Chand, jedes Gemeindemitglied, das nach Indien fährt, bringt ein paar Flaschen für den Tempel mit. Zum Abschluss verteilt er Nüsse und getrocknete Früchte. Die gesungenen Gebete verstummen, die Gläubigen verlassen ihren Tempel wieder.

Nach der kurzen Reise in die Hinduwelt wirkt das Industriegebiet auf den Besucher fremd und unwirklich. Wieder zurück in Hamburg, den Schrottplatz vor Augen und den Billekanal im Rücken. Aber den Geschmack des heiligen Flusses Ganges im Mund.

Marc-André Rüssau

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