Bahnfliegen über Barmbek

Aufzeichnungen aus der U-Bahn-Linie 2

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

eon | hanse präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: eine Fahrt in der U2 nach Barmbek.

Wir fliegen drüber weg. Gleiten durch Zeit und Raum. Lassen alles unter uns. Hinter uns. Die Welt zu unseren Füßen. Die Zukunft vorne. Vor uns. Wir rasen drauf zu, schnurgerade, zielgenau. Die U2 fliegt über das Barmbeker-Markt-Viadukt. Auf 3,20 Metern über parkende Autos und Taubenkot. Für 100 Sekunden sind wir überirdisch, auf unserer Fahrt von Dehnhaide nach Barmbek. Drinnen bilden wir für den Bruchteil eines Menschenlebens ein Zwangskollektiv. Ob wir nun wollen oder nicht, wir nehmen an unseren Bahn-Mitfahrern teil. An der alten Frau, deren Augen traurig schimmern, weil sie gerade ihren Mann verloren hat. An dem kleinen Blondschopf, der voller Lebensfreude die vorbeiziehende Welt bestaunt. An Verzweiflung und Neugier, an Langeweile und Wut, bei jeder Fahrt aufs Neue.

Ian Slupek* ist auf dem Weg zur Arbeit. Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt er auf der Bank. Seinen feingliedrigen Körper hat er gestylt bis in die schwarzen Haarspitzen. Ian ist ein Guter-Laune-Typ, ein Sonnenstrahl im Spätherbst. Ich mag das Bahnviadukt, grinst er vergnügt. Da kann ich rausgucken und viel sehen. Das ist doch schöner, als nur durch einen Tunnel zu fahren. Diese schöne Aussicht kann Ian jeden Tag genießen, bringt ihn die U2 doch täglich in die Hamburger City. Am Gänsemarkt jobbt der Styler in einem „Trendladen“. Natürlich für Bekleidung.

Annelie ist heute kein Sonnenschein. Scheiße, schnauzt sie ins Leere und donnert die Mopo von der ersten auf die letzte Seite. Gerade hat die Lautsprecherstimme verkündet, dass die U2 nicht bis Wandsbek-Gartenstadt weiterfährt. Das passt ihr wohl gar nicht. Beleidigt stiert sie auf die Mopo-Rückseite, rutscht auf ihrem Sitz tiefer und zieht die Schultern Richtung Ohrläppchen. Schlecht drauf ist auch Heiner, Annelies Mitfahrer. Der Mittsechziger sitzt in Fahrt-richtung und reißt energisch das kleine Klappfenster auf. Anschließend lässt er sich griesgrämig auf seine Sitzbank fallen und fixiert angestrengt die Landschaft. Der Blick hält die Bodenhaftung. Wer wird denn gleich in die Luft gehen?

Für den kleinen Blondschopf in Streifenshirt und Daunenjacke ist die Bahnfahrt eine riesige Attraktion. Mit großen, wachen Kulleraugen kommentiert er die vorbeifliegende Welt zu seinen Füßchen. Links hält er ein Reflektorbärchen in der Hand. Mit der Rechten zeigt er auf jeden Baum, jeden Laden, jedes Auto. Hhha, da!, ruft er begeistert. Zeigefinger nach vorne rechts. Und da! Zeigefinger nach vorne links. Und da! Zeigefinger zurück nach vorne rechts. Ist die Aufregung besonders groß, trippelt er im Schoß seines amüsierten Vaters.

Michael erregt eine Bahnfahrt nicht mehr. Denn Michael kommt regelmäßig selber zum Zug. Er ist Bahnfahrer beim Hamburger Verkehrsverbund. Während sich das Abteil kurz hinter Dehnhaide rechts in die Kurve neigt, steht er routiniert gelangweilt neben der Tür und kaut seinen Kaugummi. Denn noch ist Michael Bahn-Mitfahrer, auf dem Weg zu seiner Startposition. Als die U2 in Barmbek einfährt, drückt ein Junge eifrig und viel zu früh auf den Türöffner. Michael, der Fachmann, kann sich ein wissendes Lächeln nicht verkneifen. Dann steigt er aus der Tür mit der idealen Position zur Treppe und ist verschwunden.

Zum Lastenträger wird die Bahn bei Irina. Mit zwei riesigen Plastiktragetaschen links und rechts balanciert sie elegant auf ihren Sieben-Zentimeter-Absätzen zum freien Sitzvierer. Irina wuchtet ihre Tüten vor und neben sich auf die Polster, nimmt Platz und hält die Riemen ihrer Handtasche mit der linken Hand fest umklammert. Anmutig streckt sie Wirbelsäule und Kopf kerzengerade. Eine weiße Kunstpelzmütze schmückt das grazile Haupt, die rote Wolljacke passt perfekt zu den roten hohen Schuhen. Irina fährt rückwärts. So kann sie die Familie neben sich besser genießen. Liebevoll schaut sie die Kinder an, auf dem Viadukt geht der Blick dann nach draußen.

Mohammed ist nicht nach Familienidylle zumute. Er isst jetzt. Mit großem Appetit zerreißt er seinen riesigen Döner. Das Tsatsiki umrandet seine Lippen, die Chili-Soße treibt ihm noch mehr Farbe ins Gesicht. Die machen das gut, schwärmt Mohammed Flo vor. Der isst auch Döner, hat ihn aber nicht im Gesicht. Selbst wenn ich sage Mini, gibt er mir so einen großen, schmatzt Mohammed weiter und versucht, die Soße mit der Serviette loszuwerden. Die Bahn als Döner-Bude. Es ist 12.30 Uhr, Zeit fürs Mittagessen.

Heiß her geht’s zwischen Sabrina und Simon. Sie führt ihrem Liebsten schwierige Fingerkunststücke vor, die er nachmachen soll. Doch trotz großer Anstrengung kann Simon seine Glieder nicht so kunstvoll in-, über- und untereinander falten wie seine Freundin. Da beschließt Simon, die Liebste hochzunehmen. Er fordert Sabrina auf, sein triviales Stillleben zu kopieren: Alle Finger zur Faust, alle Finger gleichzeitig öffnen. Schnell durchschaut Sabrina das Spielchen und zeigt den Stinke-Finger. Was sich liebt, das neckt sich. Die Bahn als Turtelplatz.

Polizist Gerhardts steht breitbeinig mit dem Rücken gegen die Trennwand. Seine Hände hat er hinten verschränkt, aus dem weichen Gesicht geht der Blick fachmännisch nach vorn. Es scheint, als beobachte er die beiden zotteligen Biertrinker, in Fahrtrichtung drei Vierersitze weiter. Die grüne Polizeiwetterjacke leuchtet intensiv durch den Waggon. Die Khakihose sitzt adrett, die Körpersprache verrät Selbstbewusstsein. Gerhardts ist ein junger Freund und Helfer, in der U-Bahn auf Streifenfahrt.

Als wir im Zielbahnhof einfliegen, löst sich unser Zwangskollektiv auf, und ein jeder geht seiner Wege. Vielleicht für einige Zeit mit einem Stück Leben des anderen im Herzen.

Jannika Schulz

* Alle Namen, bis auf Ian Slupek, sind erfunden.

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