Die Ausbeutung von osteuropäischen Wanderarbeitern durch Subunternehmer in deutschen Firmen ist leider nichts Außergewöhnliches mehr. Außergewöhnlich ist allerdings, was uns bei den Recherchen rund um die Zustände in einer norddeutschen Wurstfabrik passiert ist. Kurz bevor wir veröffentlichen wollten, dass Ungarn um Lohn betrogen und beim Wohnen abgezockt werden, bot uns die Geschäftsführung des Wurstherstellers Verhandlungen an. Sie stellte sogar Nachzahlungen in Aussicht – „aus karitativen Gründen“. Warum die Verhandlungen scheiterten und was wir danach erlebten, lesen Sie in diesem Recherchekrimi. Wir hätten gerne die Namen der Firmen genannt. Doch weil drohende Schadenersatzklagen schlimmstenfalls das Aus für Hinz&Kunzt bedeuten könnten, haben wir darauf verzichtet.
(aus Hinz&Kunzt 254/April 2014)
Es sind regelrechte Hilferufe, die uns im Februar 2013 zum ersten Mal erreichen. Zahlreiche Ungarn beschweren sich via Internet über ihre Arbeitsbedingungen auf dem Betriebsgelände eines norddeutschen Wurstherstellers. Sie arbeiten dort für Subunternehmer.
Die meisten hatten eine Anzeige im Internet gelesen: acht Euro Stundenlohn, Deutschkenntnisse nicht erforderlich, Wohnung wird gestellt. Dann die Realität in Norddeutschland: Sie sollen einen Vertrag unterzeichnen, dessen Inhalt sie nicht verstehen. Denn der Vertrag ist in deutscher Sprache verfasst. Es gibt keine Lohnabrechnungen, sondern Geld aus einer Plastiktasche. Mal 50 Euro, mal 100 Euro. Was die Wanderarbeiter nicht wissen: Sie unterschreiben keinen Arbeitsvertrag, sondern nur einen Werkvertrag, und gelten somit als Selbstständige.
Eine der geprellten Ungarn ist Viktoria, eine alleinerziehende Mutter. Schweren Herzens, sagt sie, hat sie den Job im Ausland angenommen und ihren Sohn bei der Oma gelassen. 1000 Euro netto im Monat wurden ihr versprochen. Sie hofft, damit genug Geld für sich und ihre Familie zu verdienen. Stattdessen bekommt sie pro Monat nur ein paar Hundert Euro ausbezahlt. Im Vertrag ist von acht Euro Stundenlohn nicht mehr die Rede. Stattdessen: Acht Euro bekomme sie, wenn sie zehn Paletten mit Wurstpackungen beladen hat. Ein ganz mieser Stundenlohn, denn sie und ihre Kollegen brauchen dafür manchmal einen ganzen Tag.
Untergebracht sind die Ungarn in Wohnungen und Zimmern in den umliegenden Dörfern. Viktoria muss sich ein Dreibett-Zimmer mit zwei Unbekannten teilen, einem Mann und einer Frau. Das Zusammenleben ist schwierig, denn wer von der Nachtschicht kommt, weckt zwangsläufig den, der Spätschicht hatte und noch schläft. 320 Euro kostet die Unterkunft monatlich – pro Kopf! Mitten auf dem Land kassiert der Vermieter also 960 Euro für ein Zimmer. Immerhin: Der Subunternehmer übernimmt wenigstens die Hälfte der Miete. Vermutlich hätte Viktoria die sonst auch nicht zahlen können. Denn sie bekommt oft so wenig Lohn, dass sie nicht weiß, wovon sie sich etwas zu essen kaufen soll. „Ich habe mich manchmal aus dem Müll ernährt“, sagt sie uns. Es fällt ihr sichtlich schwer, über das Erlebte zu sprechen. Wie ihr ein Vorarbeiter in die Knöchel getreten hat, wenn sie nicht gerade stand.
Nach drei Monaten war Viktoria am Ende.
„Ich spielte mit dem Gedanken an Selbstmord“, sagt die 43-jährige Ungarin.
Nach drei Monaten ist Viktoria am Ende. „Ich spielte mit dem Gedanken an Selbstmord“, sagt die 43-Jährige. Im Februar 2013, als wir erstmalig mit den Hilferufen der Arbeiter konfrontiert werden, kehrt sie nach Ungarn zurück. „Meine Familie hat mir schließlich Geld geschickt, sonst wäre ich nach Hause gelaufen.“ Von derartigen Dramen wollen weder die Kollegen der Stammbelegschaft noch die Geschäftsleitung etwas mitgekommen haben. Erst im Mai 2013 trennt sich der Wursthersteller von seinem Subunternehmer. Warum so spät? „Ernstzunehmende Hinweise auf Probleme hatten uns zuvor nicht erreicht“, sagt die Geschäftsführung.
Das stimmt nicht. Es stand und steht sogar der Verdacht auf Schwarzarbeit im Raum. Bereits im Dezember 2012 hatte ein privater Arbeitsvermittler in einer E-Mail an die Geschäftsleitung des Wurstherstellers darauf hingewiesen, dass Arbeiter „von Ihrem Auftragnehmer … nicht ordnungsgemäß angemeldet“ wurden. Seine Schlussfolgerung: „Also liegt hier Schwarzarbeit in einem nicht unwesentlichen Maße vor.“
Außerdem erstatten mehrere Ungarn im Dezember 2012 eine Anzeige bei der Polizei. Darin beklagen sie vorenthaltenen Lohn und fehlende Sozialversicherung. Ihre Papiere seien ihnen abgenommen, sie selbst von Mitarbeitern des Subunternehmers bedroht worden: „Wir haben eure Pässe, wir wissen, wo eure Familien wohnen, und wir kommen dann!“
Zeitgleich wird auch der Zoll informiert, zuständig für den Kampf gegen Schwarzarbeit und Sozialversicherungsbetrug. Doch die Behörde bleibt zunächst tatenlos: Es bestehe „noch kein hinreichender Anfangsverdacht“, schreibt sie in einer Mail. Erst rund sechs Wochen später, im Januar 2013, erscheinen Mitarbeiter des Zolls in der Wurstfabrik – und finden alles in bester Ordnung.
Wo waren die Schwarzarbeiter? Mehrere Ungarn erzählen uns, dass sie genau an den Tagen, an denen der Zoll auf dem Gelände der Wurstfabrik war, nicht zur Arbeit kommen sollten. Wir bekommen Arbeitszeitprotokolle von Arbeitern. Und tatsächlich: Die Fehltage stimmen mit den Daten der Zollkontrolle überein. Wer den Subunternehmer vorgewarnt hat, ist bis heute ungeklärt. Der Wursthersteller wusste laut eigener Aussage nichts von der bevorstehenden Zollprüfung. Der Zoll selbst will sich zu dieser und weiteren Fragen nicht äußern. Diese Informationen „unterliegen dem Steuer- und Sozialdatenschutz“, so die lapidare Antwort.
Unangenehm wird es für den Wursthersteller erst im Mai 2013. Eine ungarische Tageszeitung berichtet über die Klagen der Fabrikarbeiter. Da geht es dann ganz schnell: Die Geschäftsführung beendet die Zusammenarbeit mit dem dubiosen Subunternehmer. Am Pfingstsonntag 2013 tritt ein neuer Dienstleister auf den Plan, eine bundesweit tätige Unternehmensgruppe. Wanderarbeiter aus Osteuropa werden nun über deren Firmen angestellt. Aber zu denen haben wir keinen Kontakt. Zunächst jedenfalls.
Die Geschichte der geprellten Ungarn wollen wir aber trotzdem veröffentlichen. Im November nehmen wir deshalb Kontakt zum ehemaligen Subunternehmer auf, der den Ungarn noch Lohn schuldig ist, und zum Wursthersteller.
Normal: Der Subunternehmer sieht keinen Grund für Nachzahlungen. Wir wissen, dass diese Firma unseriös ist: Wochenlang hat sie Arbeiter nicht angemeldet, nicht einmal krankenversichert, Lohnabrechnungen wurden – wenn überhaupt – erst nachträglich erstellt.
Die Geschäftsführung des Wurstherstellers reagiert erst mal gar nicht. Was dann passiert, ist sehr bizarr. Der Betriebsrat ruft an. Ausgerechnet das Gremium, das sich um die Belange der Arbeiter kümmern sollte. Ob wir nicht auf eine Berichterstattung verzichten könnten, bittet er. Er und die Stammbelegschaft sehen sich in der Opferrolle: Bei negativer Presse stünden Hunderte von Arbeitsplätzen auf dem Spiel. Kein Wort des Bedauerns wegen der ungarischen Kollegen und dem, was ihnen widerfahren ist. Nicht einmal das Versprechen, sich in Zukunft besser zu kümmern. Vielleicht verständlich: In der Fleischindustrie – und das wird in der Wurstindustrie vermutlich bald auch so sein – wird immer öfter die ausgebildete und teurere Stammbelegschaft durch Wanderarbeiter mit Dumpinglöhnen ersetzt. Bei diesem Überlebenskampf kann keine Solidarität entstehen – was den Abbau der Stammbelegschaften allerdings eher beschleunigen dürfte. Wir wollen natürlich trotzdem unsere Geschichte schreiben.
Wir gehen gern auf Verhandlungen mit dem Wursthersteller ein.
Vielleicht ändert sich dann die Situation für die ungarischen Mitarbeiter.
Unsere Absage hat der Betriebsrat offensichtlich sofort an seine Chefs weitergeleitet. Denn jetzt meldet sich doch noch die Geschäftsführung. Besser gesagt, ein Anwalt. Der bietet unserem Anwalt an, Verhandlungen zu führen. Was man denn tun müsse, damit der Name des Unternehmens nicht genannt werde? Vielleicht, so lässt der Anwalt durchblicken, habe man ja tatsächlich „einen Fehler“ gemacht. Und wenn den Ungarn noch Geld zustehe, dann sei man unter Umständen bereit, die Kosten zu übernehmen – „aus rein karitativen Gründen“. Rechtlich sei man dazu ja nicht verpflichtet. Der Mann hat recht. Einem Unternehmer ist es erlaubt, auf seinem Gelände Subunternehmer zu beschäftigen. So sollen saisonale Spitzen aufgefangen werden, ohne gleich neue Mitarbeiter einstellen zu müssen. Aber genutzt wird diese Möglichkeit oft, um Kosten und Löhne zu drücken. Die Verantwortung dafür haben dann die Subunternehmer – und zwar allein. Denn in der Regel haften nur die Subunternehmer, der Auftraggeber behält seine weiße Weste.
Ja, wir gehen gern auf die Verhandlungen ein. Es scheint uns der einzige Weg, wie die Ungarn vielleicht doch noch zu ihrem Geld kommen könnten. Immerhin geht es um rund 100 Menschen. Und wir hegen die leise Hoffnung, dass die Geschäftsführung in Zukunft tatsächlich darauf achten wird, wie die Arbeiter auf ihrem Betriebsgelände behandelt werden. Nicht aus juristischen Gründen, sondern aus moralischen.
Wir hätten ahnen können, dass unsere Hoffnung enttäuscht wird. Denn nicht nur ein bekannter Medienanwalt verhandelt im Namen des Unternehmers, sondern auch ein Mann, der berühmt-berüchtigt ist. Aus Überzeugung vertritt er nur Arbeitgeber, was an sich ja nichts Ehrenrühriges ist. Aber seine Spezialgebiete sind der Ausstieg aus Tarifverträgen und die Kündigung von sogenannten Unkündbaren wie Schwangeren, Betriebsräten und Behinderten.
Es folgen wochenlange zähe Verhandlungen. Interessant für uns: Auch der Wursthersteller sieht sich als Opfer. Das Unternehmen hat nur wenige große Auftraggeber. Bei schlechter Presse würden die womöglich die Verträge kündigen. Der Wursthersteller stehe deshalb unter enormem Druck. Die Auftraggeber wiederum sind bekannt dafür, dass sie Einkaufspreise drücken, wo es nur geht.
Diesen Druck gibt der Wursthersteller ungebremst an seine Subunternehmer weiter: Die Summe, die er seinem Dienstleister bezahlt – und die uns die Geschäftsführung vielleicht aus Versehen nennt –, reicht jedenfalls nicht, um ordentliche Löhne zu zahlen. Es sei denn, die Subunternehmer hätten ehrenamtlich gearbeitet.
Das Mitgefühl für die geprellten Ungarn hält sich beim Wursthersteller deutlich in Grenzen. Die Geschäftsführung will nur die Lohnabrechungen ihres ehemaligen Subunternehmers und sein Zeiterfassungssystem heranziehen, um Ansprüche der Ungarn zu berechnen. Wir fordern: Die Aussagen der Betroffenen darüber, wie viel sie tatsächlich gearbeitet haben, müssen mindestens gleichwertig berücksichtigt werden. Denn mehrere Ungarn hatten berichtet, dass die Subunternehmer regelmäßig Stunden unter den Tisch fallen ließen. Und dass die Chips, die ihre Arbeitszeit erfassen sollten, nicht immer funktioniert hätten. Das wischt der Wursthersteller vom Tisch. Eigene Nachforschungen hätten „nur in geringem Umfang Fehler bei den Lohnabrechnungen ergeben“. 18 Beschäftigte habe man sogar selbst übernommen … Keine Rede mehr davon, dass man einen Fehler gemacht habe. Eine Vereinbarung darüber, wie man künftig die Ausbeutung von Arbeitern verhindern könne, kommt für den Wursthersteller schon gar nicht in Frage. Da haben wir die Faxen dicke und brechen die Verhandlungen Anfang Januar 2014 ab.
Jozsef übernimmt den Fahrdienst vor und
nach der Schicht. Manchmal ist er von morgens
4 Uhr bis nachts auf den Beinen.
Wir sind frustriert: Wir haben für die geprellten Ungarn nichts gewonnen und wertvolle Zeit verloren. Aber schon ein paar Tage später wenden sich wieder Arbeiter an uns. Sie sind bei dem neuen Subunternehmer des Wurstherstellers beschäftigt. Einer von ihnen ist Jozsef. Auch er kam über ein Inserat nach Deutschland. Versprochen wurden ihm: 8,60 Euro, Deutschkenntnisse nicht erforderlich, Unterkunft in der ersten Zeit frei. Auch er musste einen Vertrag unterzeichnen, dessen Inhalt er nicht verstand. Was er allerdings sah: dass da plötzlich ein Stundenlohn von nur 6,80 Euro auftauchte. Untergebracht wurde er erst in einem überfüllten Haus, dann mit drei anderen in einer Kellerwohnung. Dafür wurden ihm 300 bis 350 Euro monatlich vom Lohn abgezogen. „Gesagt wurde mir das vorher nie“, sagt Jozsef.
Nie kam er über 550 Euro, obwohl er Vollzeit und mehr arbeitete. Der Gipfel: Zusätzlich zu seinen Schichten übernimmt er noch den Fahrdienst, holt mit einem Firmenwagen die Kollegen vor der Schicht ab und bringt sie danach wieder nach Hause. An manchen Tagen ist er von 4 Uhr morgens bis nachts auf den Beinen. Ab und zu schläft er sogar im Auto, weil es sich nicht lohnt, in die Unterkunft zu fahren. Aber die Fahrzeiten tauchen in seiner Lohnabrechnung nicht auf und werden nie bezahlt. Stattdessen werden ihm noch monatlich 75 Euro abgezogen – für den Fahrservice.
In der Kantine des Wurstherstellers wurde der Lohn ausbezahlt. „Ich habe Männer und Frauen weinen sehen, weil sie so wenig Geld verdient hatten, trotz harter Arbeit“, sagt Jozsef. Aber das Geld allein ist es nicht, was ihn und die anderen so fertigmacht. „Es geht mir darum, wie wir behandelt wurden“, sagt der ehemalige Kneipenwirt. „Wir wurden jeden Tag erniedrigt. Jeden Tag wirst du als Mensch gebrochen, es wird dir gezeigt, dass du nichts wert bist!“
Genau das ist der Grund, warum wir die Geschichte von Viktoria, Jozsef und den anderen erzählen. Weil wir finden, dass kein Mensch eine derartige Behandlung verdient hat. Inzwischen sollen in der Fabrik auch Rumänen arbeiten – für vier Euro die Stunde.
Text: Gabriella Balassa, Ulrich Jonas
Mitarbeit: Birgit Müller, Benjamin Laufer
Symbolfotos: Mauricio Bustamante
Weitere Hintergründe und Ergebnisse unserer Recherchen lesen Sie in unserem Dossier unter www.huklink.de/wurstfabrik