Antragsteller – verzweifelt gesucht!

Mit einer Service-Station im Einkaufszentrum versucht die Arbeitsagentur das Hartz-IV-Chaos in den Griff zu bekommen

(aus Hinz&Kunzt 141/November 2004)

Wenn die Arbeitslosen nicht zu uns kommen, um ihre Arbeits-losengeld(ALG)-II-Anträge abzugeben, gehen wir zu den Arbeitslosen: Nach dieser Idee hat die Arbeitsagentur Wandsbek eine „Service Station“ im Quarree eingerichtet. Gut einen Monat nach dem Start des bundesweit einzigartigen Projekts zeigen sich die Macher zufrieden. 30 bis 40 Hilfeempfänger suchten täglich Rat in der Außenstelle des Amts.

Für Klaus Bölke liegt die „Service Station“ einfach näher zur Wohnung als das Gebäude der Arbeitsagentur. Und weil ihn das Amt aufgefordert hat, er möge kommende Woche seinen Arbeitslosengeld(ALG)-II-Antrag abgeben, hat sich der 57-Jährige an diesem Vormittag im Oktober mit seiner Ehefrau auf den Weg ins Einkaufszentrum Wandsbek Quarree gemacht. Dort wartet, in einem kleinen von Glaswänden mschlossenen Büro unter der Rolltreppe zum Kino gelegen, eine Mitarbeiterin der Arbeitsagentur auf „Kunden“ wie ihn. Knapp zehn Minuten später verlässt der seit zwei Jahren arbeitslose Buchdrucker um einige Erkenntnisse reicher die Außenstelle des Amts. Dass er künftig weniger Geld bekommen wird, hat Bölke schon geahnt: 345 Euro Arbeitslosengeld II monatlich statt 820 Euro Arbeitslosenhilfe stehen ihm ab Januar zu. Dafür bekommt er für seine Frau noch mal 311 Euro ausbezahlt und die Miete übernimmt das Amt auch. KfZ-Versicherung, Heizung und sogar die Kosten der Treppenhausreinigung trage die Arbeitsagentur, hat Bölke erfahren, und den fünf Jahre alten Mazda dürfe er behalten. Die Kosten für Wasser, Strom, Telefon und Kreditraten müsse er aber aus dem Regelsatz bezahlen. „Gut erklärt“ habe die Beraterin den Sachverhalt, lobt der Arbeitslose, der ALG II und Hartz IV vor allem „sehr kompliziert und blöde“ findet. Dennoch will er den Antrag in wenigen Tagen abgeben.

„Eye catcher“, „Trichter“, „Multiplikator“: Gerhard Naucke, zuständiger Abschnittsleiter der Leistungsabteilung bei der Agentur für Arbeit Wandsbek, findet allerhand Worte, um die Funktion der „Service Station“ zu umschreiben. „Gut frequentiert“ werde die Ende September in einem ehemaligen Fotogeschäft eingerichtete Außenstelle des Amts, 30 bis 40 Ratsuchende zählt die Arbeitsagentur täglich. Bis Mitte Dezember soll deshalb wochentags von 10 bis 16 Uhr ein Mitarbeiter im Quarree sitzen und Fragen zu Hartz IV und ALG II beantworten. Für den 42-jährigen Beamten Naucke geht es vor allem darum, Ängste abzubauen, „und Angst entwickel sich aus Unkenntnis.“ Vieles sei berichtet worden in den Medien und manches Falsche. Und: „Wer keinen Antrag stellt, ist garantiert Verlierer. Bei dem können wir nämlich nicht sicherstellen, dass er im Januar sein Geld bekommt.“

Bis zum 18. Oktober, so die Statistik der Arbeitsagentur, hatten in Hamburg 82 Prozent der Arbeitslosenhilfeempfänger ihre Anträge abgegeben, im Bezirk Wandsbek waren es 79 Prozent. Bundesweit lag die Quote Mitte Oktober bei 65 Prozent, in Hessen waren es sogar nur 55 Prozent. Offizielles Ziel ist weiterhin, bis November alle Anspruchsberechtigten zur Abgabe ihres ALG-II-Antrags bewegt zu haben. Seit 18. Oktober geben Mitarbeiter der Arbeitsagentur vorliegende Datensätze in die neue Software ein. Um die pünktliche Auszahlung der Hilfe Anfang Januar gewährleisten zu können, will die Bundesagentur für Arbeit (BA) bis zu 4000 Zeitarbeiter von Telekom und Bundesbahn ausleihen. Die Agentur für Arbeit Hamburg bestellte allein in der ersten Oktober-Woche 13.000 potenzielle Empfänger von Arbeitslosengeld II per Brief und Telefon aufs Amt. „Auch wenn täglich etwa 1000 Kunden ihren Antrag mit den Unterlagen abgeben, wollen wir mit den Einladungen erreichen, dass wir sehr bald alle Anträge vorliegen haben“, so Rolf Steil, Chef der Arbeitsagentur. Zu diesem Zweck öffneten die Dienststellen im Oktober auch sonnabends ihre Türen.

Barbara Neumann (Name geändert, Red.) will noch ein paar offene Fragen klären, bevor sie möglicherweise ihren ALG-II-Antrag abgibt. Die 60-jährige frühere Schauspielerin, seit fünf Jahren arbeitslos, hat vor einiger Zeit die „428er-Regelung“ in Anspruch genommen. Mit der erklären ältere Arbeitslose ohne Chance auf dem Arbeitsmarkt, in Zukunft nicht mehr Vermittlungsleistungen der Arbeitsagentur zu beanspruchen. Im Gegenzug bekommen sie bis zur Rente Unterstützung ausbezahlt. Hartz IV hat Barbara Neumann einen Strich durch die Rechnung gemacht: Was sie künftig als ALG II und Mietzuschuss ausbezahlt bekäme, sei nicht mal halb so viel wie ihre derzeitige Arbeitslosenhilfe, so die Erwerbslose, „ich habe früher sehr gut verdient.“ Und den Verlust ihrer Wohnung müsse sie wegen der neuen Mietobergrenzen ebenso fürchten sie die Altersarmut, „die Rentenberechnungen stimmen ja gar nicht mehr.“ Barbara Neumann wird sich wohl – notgedrungen – dazu entschließen, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen und dann einen Wohngeldzuschuss zu beantragen. Gut für die Arbeitsagentur: Aus ihrer Statistik wäre die ehemalige Schauspielerin dann verschwunden.

Ulrich Jonas