Architektenkammer : Ankunftsstadt Hamburg

Täglich wird in der Stadt darüber diskutiert, wie wir die Flüchtlinge unterbringen und integrieren können. Und überall, wo eine Siedlung entstehen soll, bildet sich eine Initiative dagegen. Mit einem Zehn-Punkte-Papier und einem Workshop beteiligt sich jetzt die Hamburgische Architektenkammer an der Diskussion.

(Aus Hinz&Kunzt 277/März 2017)

Loosen
Kammerpräsidentin Karin Loosen will erreichen, dass die Siedlungen zu funktionierenden Ankunftsquartieren werden.

Die Kammer mahnt an, möglichst kleinteilig zu bauen und alle Experten, Behörden, Anwohner und Flüchtlinge an einen Tisch zu holen. „Die neuen Quartiere benötigen ein Gesicht und eine Struktur, damit sie zu Adressen werden“, sagt Kammerpräsidentin Karin Loosen. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie ist mit ihrem Büro an der Planung von zwei Projekten in Hamburg beteiligt.

Hinz&Kunzt: Frau Loosen, was sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen? 

Karin Loosen: Wir müssen zeitgleich aus der Not heraus temporäre Lösungen und parallel dazu Planrecht, Wohn- und Infrastruktur schaffen. Dabei geht es nicht nur um das Bauen für Flüchtlinge, sondern auch immer um kostengünstigeren Wohnungsbau für alle.

Die Stadt steht unter einem immensen Druck, zumal sich überall, wo gebaut wird, Widerstand regt.

Wir müssen die Zuwanderung als eine Chance für die Stadt begreifen. Das Gute an diesem Wohnungsdruck ist: Wir sind alle aufgefordert, interdisziplinär zusammenzuwirken. Olympia war schon eine gute Phase, da haben auch alle gemeinsam in relativ kurzer Zeit Lösungen entwickelt – und mit der Unterbringungsplanung geht es jetzt weiter.

In dem Papier Ihrer Kammer steht auch etwas von möglichst kleinteiligem Bauen. Aber im Moment werden meist große Siedlungen gebaut. Gibt es eine Obergrenze für Quartiere, damit sie nicht zu Gettos werden?

Nein, auf Zahlen haben wir uns nicht verständigt. Es geht eher darum, Themen anzugehen, die wir bisher aufgeschoben haben. Und darum, die Siedlungen zu funktionierenden Ankunftsquartieren zu gestalten.

Was meinen Sie damit genau?

Ältere Großsiedlungen gerieten meist in die Kritik, weil es reine Wohngebiete waren. Da muss es eine größere Nutzungsmischung geben. Wissenschaftler, die sich seit Jahren mit dem Thema Stadterweiterung oder Zuwanderung in der Welt beschäftigen, stellen immer wieder fest, dass die Menschen in einem Ankunftsquartier auch die Möglichkeit haben müssen, wirtschaftlich Fuß zu fassen und in den Mittelstand hineinzuwachsen. Deshalb wäre es beispielsweise hilfreich, in den Erdgeschossen Platz für Start-ups, kleinere Läden und Versorgungseinrichtungen einzuplanen. In der Hafencity wurden damals vorausschauend erhöhte Erdgeschosse vorgesehen, damit die Möglichkeit besteht, sie nicht nur als Wohnungen zu nutzen.

Workshop

„Ankunftsstadt Hamburg – aber wie?“ Workshop der Hamburgischen Architekturkammer. 2.-4. März, Freie Akademie der Künste, Klosterwall 23, 20095 Hamburg. Programm als PDF
Sie sind an einer „Ankunftsstadt“ mit 500 Wohnungen am Öjendorfer See in Billstedt beteiligt.

Hier werden überwiegend Reihen- und Duplexhäuser geplant. Sie passen sich auch bautypologisch gut an die Nachbarschaft an. Der Bezirk Mitte hat sich wirklich bemüht, mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen. (In zwölf Tagen gab es 14 Sitzungen mit Bürgern, Ämtern, Stadtplanern. Aufgenommen wurde etwa der Wunsch von Anwohnern, andere Bewohnergruppen mit einzuplanen; Anmerkung der Redaktion.) Aber was die Nutzungsstruktur angeht, ist es relativ konventionell – eher ein reines Wohnquartier. Da geht noch mehr!

Wie meinen Sie das?

Ein optimales „Ankommen“ funktioniert eher in einem städtischen, dichteren Quartier. Diese sind aufgrund der Nutzungsmischung und der Infrastrukturangebote lebendiger. Sie bieten bessere Versorgungsangebote und Chancen für Austausch und wirtschaftliche Eigeninitiativen.

Sie hören sich so optimistisch an, aber viele Bürger haben eher das Gefühl, mit den neuen Siedlungen wird ihnen etwas genommen.

Wir müssen unser städteplanerisches Konzept überdenken: Welche Bereiche wollen wir schützen? Wir leben ja in einer grünen Stadt, und Hamburg soll dieses Image und diesen Wohnwert nicht verlieren, aber manche Bereiche können wir dichter bebauen. Vielleicht werden manche Bauten auch mal sechs- bis achtgeschossig.

Das hört sich aber nicht attraktiver an. Wie viele Menschen pro Quadratkilometer kann man denn unterbringen?

Da gibt es keine grundsätzliche Regel, das ist immer vom Stadtteil abhängig. Ein Beispiel ist Ottensen 60: Da hat unser Büro sogar ein deutlich höheres Maß an Dichte vorgeschlagen, als ursprünglich geplant war.

Bis zu 850 Menschen sollen dort wohnen.

Wir glauben, dass Menschen in diesem lebendigen Stadtteil viel mehr Möglichkeiten haben, als wenn sie am Stadtrand leben, wo vielleicht sogar noch die ÖPNV-Verbindungen und Versorgungsangebote schlecht sind.

Bisher sind auf dem Gelände Kleingewerbe, Garagen und Mini-Grünflächen – und die Anwohner haben einen freien Blick. Fast eine innerstädtische Idylle.

Neue verdichtete Quartiere müssen auch immer etwas Wertsteigerndes für alle haben. In der Kirchentwiete haben wir beispielsweise ein Bauprojekt realisiert, da wurde im Anschluss die Wohnstraße neu umgestaltet. Der Bezirk und die Investoren haben richtig Geld in die Hand genommen, damit die Bewohner durch die Straßenumgestaltung ein zusätzliches Freiraumangebot bekommen. Für Ottensen 60 könnte ein belebter Quartiersplatz für alle entstehen – eine Begegnungsmöglichkeit für Anwohner und neue Bewohner.

Dass jetzt mehr Wohnungen gebaut werden sollen, hat bei Anwohnern für Unmut gesorgt.

Derartige Projekte müssen mit den Bürgern und der Politik ausgehandelt werden. Wichtig ist, den Maßstab immer passend zu entwickeln. So ein Prozess kostet Zeit und Energie.

Haben wir denn die Zeit?

Wir sollten uns trotz allem Handlungsdruck die Zeit nehmen. Bürgerproteste benötigen im Nachhinein auch viel Zeit, auch ist die Bauwirtschaft zunehmend ausgelastet, sodass im Endeffekt die Projekte alle ihre eigene Realisierungszeit benötigen. Dann wäre es doch vernünftiger, sie auch gut zu planen.

Wenn die Projekte in guter Kommunikation ausgehandelt werden, ist die Akzeptanz unter den Bürgern auch deutlich höher – der erste Schritt für eine gelingende Integration.

Beispiel Ottensen: Hier sollen jetzt an mehreren Standorten Flüchtlinge untergebracht werden. Man darf einen Standort nicht mit dem Tunnelblick betrachten, sondern muss sich fragen: Was verträgt der Stadtteil insgesamt?

Interview: Birgit Müller
Foto: Reinhard Seiss

Weitere Artikel zum Thema