48 Stunden Winternotprogramm : Ein Selbstversuch

(aus Hinz&Kunzt 275/Januar 2016)

16.30 Uhr. Ich komme mit meinem Rucksack in der Münzstraße an. Beim Winternotprogramm. Die Menschenschlange zeigt den Weg. Gut 40 Wartende stehen entlang eines Bauzauns. Ein Security-Team steht auf der anderen Seite des Zauns, die Mitarbeiter schauen starr auf ihre Smartphones. Es ist kurz vor 17 Uhr, in ein paar Minuten ist Einlass.

Ein älterer Mann, dem es nicht gut geht, wird zuerst hinter den Bauzaun geführt. Die Leute protestieren pfeifend. Ein Security-Mann kommt zurück zum Zaun und ruft mit fester Stimme: „Wenn ihr so weitermacht, dürft ihr noch eine weitere Stunde warten.“ Es wird still. Nach einiger Zeit öffnet sich der Eingang, die Ersten können sich vor einem Container registrieren lassen. Nun bin auch ich dran. Werde nach meinen persönlichen Daten gefragt. Werde gefragt, ob ich Waffen oder Alkohol bei mir habe. „Ein Taschenmesser“, antworte ich. Man schreibt meinen Namen drauf, verwahrt es. Weiter werde ich nicht kontrolliert. Ich bekomme eine „Bettkarte“.

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Vor dem Eingang zum Winternotprogramm warten Obdachlose auf den Einlass.

Ich komme in das Haupthaus, über eine Bautreppe erreiche ich die Extra-Etage für Frauen. Betrete den Flur. Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase, obwohl alles einen sauberen Eindruck macht. Ich suche Zimmer G9, das rechte Bett unten. Ich finde mein Zimmer, ich bin die Erste dort. Persönliche Gegenstände einer mir noch unbekannten Zimmerkollegin sind im Zimmer verteilt. Die anderen Betten sind leer. Ich gehe mich umschauen. Die Toiletten, die Duschen und Waschräume sind sauber. Aber es wird klar, woher der unangenehme Geruch stammt. Überall hängen Warnhinweisschilder: „Kein Trinkwasser“. Auf Nachfrage beim Personal wird mir gesagt, dass es nirgendwo im Haus die Möglichkeit gibt, Trinkwasser aus dem Wasserhahn zu bekommen.

In einem Raum im Erdgeschoss gibt es dafür Kaffee und Tee, so viel man mag. Aber nach dem ersten Kaffee bin ich mir sicher, dass man selten viel mag. Um 19 Uhr gibt es Abendbrot. Also Brot mit Belag. Man kann es sich aus einer Kiste nehmen. Auch mehr als eins, wenn man möchte. Ich gehe zurück auf die Frauenetage. Die Zimmer bieten den Bewohnern kaum Privatsphäre. Mittlerweile ist Leben eingekehrt und mir wird klar, dass die Bewohner nach Nationalitäten auf die Zimmer verteilt sind. Viele Frauen stehen im Waschraum und waschen ihre Wäsche per Hand. Ich lerne die Zimmerkollegin kennen, Simone W. (Name geändert). 55 Jahre, sie ist seit zwei Wochen hier und erklärt mir die Regeln. Bei all den Geschichten, die sie erzählt, bin ich froh, als sie sagt, dass wir zu zweit auf dem Zimmer sind. Sie schaltet das Radio ein. Es läuft derselbe Radiosender wie bei mir zu Hause. Doch hört man in der Notunterkunft der Wettervorhersage zu, ist es fast wie bei der Ziehung der Lottozahlen. Bei Schnee und frostigen Temperaturen hat man mehrfach verloren: Um 9 Uhr morgens muss man die Unterkunft verlassen haben. Rein kommt man erst um 17 Uhr wieder. Auch wenn man krank ist.

Was man in der übrigen Zeit macht, ist jedem selbst überlassen. Simone erzählt mir, dass sie am liebsten bei Saturn und Karstadt die Preise vergleicht. „Wenn ich wieder eine eigene Wohnung habe, brauche ich alles neu, darum vergleiche ich alles und weiß mittlerweile genau, wo ich was kaufen werde.“ Dazu läuft im Radio ein Bericht über das neue Musical in der Stadt – was für ein Kontrast.

Nach einem Becher Tee aus dem Aufenthaltsraum lege ich mich hin. Ich fühle mich taub und müde – all die lauten Gespräche in den Gängen, die Eindrücke, der Geruch, der nun von den gewaschenen und nassen Anziehsachen ausgeht und auf Heizungsluft trifft. Simone bietet mir eine von ihren Zeitungen an. Sie hat alles da, vom „Goldenen Blatt“ bis zur „Bild der Frau“. Gut gelaunte Prinzen und Prinzessinnen lächeln mir von den Titelblättern entgegen. Ich frage Simone, ob sie es nicht komisch findet, von all dem Luxus zu lesen, wenn man selbst so wenig hat. Sie sagt: „Die Welt in den Zeitungen ist mindestens genauso unrealistisch wie mein Leben seit ein paar Monaten. Es ist wie ein kleiner Ausflug.“

Ich liege auf der dünnen Matratze und lausche den unbekannten Geräuschen und Stimmen. Ich kann nicht unterscheiden, ob sie sich nebenan streiten oder gemeinsam über etwas lachen.

Tief schlafen werde ich diese Nacht nicht. Immer wieder werde ich von schlagenden Türen wach. Ich höre Simone mehrmals aus einem Albtraum hochschrecken.

7.30 Uhr. Die Tür geht auf. Eine Security-Frau schaltet das Licht an, murmelt: „Guten Morgen, aufstehen …“ Ich komme langsam zu mir, versuche mich zu orientieren. Simone versichert mir: „Daran gewöhnt man sich mit der Zeit, in der JVA ist es schlimmer, da geht nur das Licht an, ohne ‚Guten Morgen‘.“

Dann lacht sie und sagt, dass sie mir gestern nicht sagen wollte, dass sie mal im Gefängnis war, damit ich besser schlafen könne. Für einen Tag, weil sie eine Geldstrafe nicht zahlen konnte.

Auf dem Weg zum Kaffee begrüßen mich alle mit einem freundlichen Hustenanfall. Es gibt Frühstück. Brot mit Belag. Diesmal nehme ich nichts, beschließe, die zehn Euro anzubrechen, die ich für 48 Stunden mitgenommen habe.

9 Uhr. Alle haben die Unterkunft verlassen. Ich fühle mich irgendwie seltsam, brauche Platz und Stille, es zieht mich an die Elbe. Ich genieße die ersten Sonnenstrahlen.

10 Uhr. Noch sieben Stunden, bis die Notunterkunft wieder aufmacht. Ich gehe zu McDonald’s, 1-Euro-Frühstück. Ich treffe drei Leute aus der Notunterkunft. Dann Saturn, Topfpreise vergleichen. Das findet der Hausdetektiv anscheinend verdächtig, auffällig unauffällig folgt er mir.

Ich besuche Karstadt, den Weihnachtsmarkt, die kleine Alster. Es ist 12.30 Uhr. Ich stelle fest, dass ein Prospekt sich gut als Sitzunterlage eignet, wenn man mal ausruhen will. Zehn Grad zeigt ein Thermometer. Bei den Landungsbrücken bin ich mit Simone verabredet, die mir das CaFée mit Herz zeigen möchte. Man bekomme dort ein kostenloses Mittagessen, könne sich unterhalten. Leider hat es heute geschlossen.

Simone hat einen Vorschlag: das Herz As in der Nähe der Münzstraße. Dort erhalten wir für 50 Cent ein sehr leckeres Essen. Auch hier treffe ich einige Menschen aus der Notunterkunft. Viele versuchen zu schlafen – den Kopf auf den Tisch gelegt. Um 16 Uhr müssen wir gehen.

Simone und ich nehmen noch ein Sonderangebot an einem Kiosk wahr: zwei Bier zum Preis von zwei Euro. Wir setzen uns in einen Hauseingang, trinken aus der Flasche und lachen über das Klischee, das wir gerade erfüllen. Simone erzählt mir von der Treppe, die für sie immer weiter nach unten führte. Aber sie ist noch da. Und wird es auch bleiben. Das weiß sie genau.

17 Uhr. Die Containerburg wird wieder eröffnet. Wir stehen in der Schlange an und kommen mit den Menschen um uns herum ins Gespräch. Vor uns ein Mann, der von Hamburg schwärmt, von der guten Luft. Hinter uns drei Männer, Polen oder Russen. Ich will eine Wissenslücke schließen und frage, was das Wort „Kalinka“ aus dem gleichnamigen Song bedeutet. Kurz darauf singt die ganze Menschenschlange „Kalinka, kalinka, kalinka moja!“.

Ich hole mir bei der Verwaltung eine Tasse Shampoo und gehe unter die Dusche. Einen Föhn gibt es nicht, also ist die einzige Chance, die Haare zu trocknen, wenn man gleich nach dem Einlass duscht und sich dann eine Mütze aufsetzt. Ich lege mich ins Bett. Eine Sitzgelegenheit gibt es weder auf der Etage noch auf dem Zimmer. Im Radio läuft: „Somewhere over the Rainbow“.

Heute stehen freundliche Damen an der Essensausgabe, und es gibt Buchstabensuppe. Ich freue mich am meisten darüber, dass es etwas Warmes gibt. Eine Gruppe von Rumänen sitzt an einem Zwölf-Personen-Tisch im Essensraum. Ein Stuhl ist noch frei. Einer von ihnen schiebt mir den Stuhl hin. Unterhalten können wir uns nicht, aber wir tauschen Blicke aus. Andere Bewohner, die ich vom Warten auf Kaffee und Tee her kenne, klopfen mir dafür auf die Schulter. Gemeinschaft auf eine seltsame Art. Einerseits konkurriert man um das Wenige, das es hier gibt; andererseits bemühen sich alle, respektvoll und freundlich miteinander umzugehen.

Auch die Securitys sprechen mich an. Sie wollen wissen, was ich für Pläne habe und erzählen mir, dass ich Unterstützung in einem Beratungsgespräch finden kann, das sie hier im Haus vermitteln. Nach dem Essen teilt Simone ihre Zeitschriftensammlung mit mir. Ich erfahre, dass Helene Fischer gar nicht naturblond ist. Mein Weltbild gerät ins Wanken.

Diesmal schlafe ich früh ein. Mitten in der Nacht klopft es an der Tür. Erst ganz leise, dann immer lauter. Ich bin wach, sage aber nichts. Die Tür geht langsam auf, ein Kopf schiebt sich durch den Spalt. Simone wird ebenfalls wach, ruft laut: „Hallo!“ Die Tür geht schnell wieder zu. „Das kommt öfter vor“, sagt Simone. Es ist ein Test, ob man tief genug schläft. Wenn ja, wird man beklaut.

7.30 Uhr. Licht an. Aufstehen. Kaffee. Hustenchor. Einen Plan für den Tag machen. Heute regnet es, da eigne sich die Europapassage zum Aufenthalt, sagt Simone. Wir gehen gemeinsam los, trinken zuerst bei der Bahnhofsmission einen Kaffee. Um 17 Uhr sind die 48 Stunden vorbei. Ich gehe den Weg vom Stadtzentrum bis nach Barmbek zu Fuß, nur durch ruhige Nebenstraßen. Mir wird bewusst, dass man nicht nur ständig draußen ist, wenn man auf der Straße lebt, sondern vor allem auch permanent in der Öffentlichkeit. Ein Eindruck folgt auf den nächsten. Du fällst durch dein Äußeres auf, du wirst beobachtet. Kein Rückzugsort, keine Privatsphäre schützt dich. Ich frage mich, wie man so zur Ruhe kommen kann, um Kraft zu sammeln und sein Leben zu ändern.

Ich komme zu Hause an, schalte das Radio ein und denke an Simone.

Text und Foto: Lena Maja Wöhler