„Wenn ich nicht mithelfe, gibt es zu Hause nichts zu essen“

In Uganda haben es behinderte Kinder besonders schwer. Selbsthilfegruppen kämpfen gegen Vorurteile und für bessere Versorgung

(aus Hinz&Kunzt 179/Januar 2008)

Zur Schule gehen? Leider nicht selbstverständlich für ein behindertes Kind in Uganda. Brot für die Welt unterstützt Selbsthilfegruppen, die das ändern wollen. Ein solches Projekt für behinderte Kinder und ihre Eltern hat eine Hamburger Delegation unter Leitung von Landespastorin, Diakoniechefin und Hinz&Kunzt-Herausgeberin Annegrethe Stoltenberg besucht.

Im Hochland von Hoima, einige Stunden westlich von Kampala, drückt Annegrethe Stoltenberg wieder die Schulbank. Die Hamburger Landespastorin lernt gerade, wie das Wort „Mango“ in Gebärdensprache heißt. Abdella (12) macht es ihr vor: Sanft streichelt er seine Wange und guckt verzückt. Dass der taubstumme Junge überhaupt in die Schule geht und dass er die Gebärdensprache lernt, ist ein klarer Fortschritt in Uganda. Immer noch werden behinderte Kinder in der Familie misshandelt, bekommen keine ärztliche Hilfe und dürfen nicht in die Schule gehen. Deshalb unterstützt Brot für die Welt die Ugandische Gesellschaft für behinderte Kinder (USDC).

Erstaunlich offen sprechen Abdella und seine Mitschüler über ihre Probleme. Abdella erzählt, dass sein Vater tot ist und auch die Mutter ihn verlassen hat. Jetzt lebt er bei der Großmutter. „Aber wenn ich nicht mithelfe, gibt es nichts zu essen“, sagt er ernst. Selten lacht der Junge, höchstens, wenn es nach draußen geht zum Spielen. „Nach den Stärken und Möglichkeiten der Kinder suchen und damit ihre Integration ermöglichen – das ist dieselbe Aufgabe wie bei uns“, sagt Annegrethe Stoltenberg. „Denn behindert heißt nicht unfähig sein, disabled is not unabled.“ Doch genau das müssen die Schüler selbst erst einmal spüren. USDC hat deshalb einen Club für Kinderrechte eingeführt. Clubmitglieder sind die behinderten Schüler. Sie sollen lernen zu erzählen, was ihnen widerfährt. Moses (16) sagt in Gebärdensprache, dass er gerade mal wieder bestohlen worden ist. Tränen der Wut und der Ohnmacht steigen ihm in die Augen. Laut schreien kann er ja nicht, wenn ihm einer seine Tasche klaut. Aber früher hat er die Diebstähle und Knüffe einfach hinnehmen müssen. Das, so lernen die Kinder, sollen sie auf keinen Fall. Die Lehrer und USDC-Mitglieder versuchen, die Fälle aufzuklären, etwaige Täter werden zur Rede gestellt. „Gerade behinderte Kinder werden häufig Opfer“, sagt USDC-Regional-Direktorin Dolorence Were.

Dabei ist Uganda ziemlich weit beim Thema Aufklärung und Prävention. In der Klasse hängt ein riesiges Plakat: „Lass dich nicht missbrauchen!“ steht darauf, und damit es auch jeder versteht, sind Bilder aufgemalt: beispielsweise Eltern, die ihre Kinder schlagen oder ein Mann, der ein Mädchen angrapscht.

Auf die nächste Geschichte sind wir nicht vorbereitet. Zaghaft malt Anna Mary ihre Gebärden in die Luft. Ihre Lehrerin übersetzt: Anna Mary ist wahrscheinlich 15 oder 16 Jahre alt, so genau weiß sie das nicht mehr. Vor zwei Jahren wurde sie von einem Mann vergewaltigt und bekam ein Kind. Ihre kleine Tochter wird von der Familie aufgezogen. Der Täter wurde nicht gefasst. Bestraft für die Tat wurde vor allem Anna Mary selbst. Sie durfte kaum noch raus, wurde im Dorf gemieden, und in die Schule durfte sie auch nicht gehen. Es dauerte lange, erläutert Dolorence Were, bis USDC die Eltern davon überzeugt hatte, dass das Mädchen es wert ist, die Schule zu besuchen.

Dass die Eltern oft ablehnend oder gar aggressiv auf ihre behinderten Kinder reagieren, hat handfeste Gründe. Die Mütter sind meistens mit der Versorgung überfordert. Sie müssen Wasser und Holz holen, Essen kochen, den Acker bewirtschaften. Sie können sich nicht um ein Kind kümmern, das ständig betreut werden muss. Häufig finden Eltern und Kinder keine gemeinsame Sprache. Gerade kleinere Kinder oder Kinder mit geistiger Behinderung werden oft angebunden, damit sie im Haus keinen Unfug anstellen können, wenn die Eltern arbeiten.

So wie Judith. Wir treffen die Vierjährige im Krankenhaus, wo sie an beiden Beinen operiert wird. Das Kind war von seinen Eltern regelrecht verschnürt worden, wenn sie weggingen, vielleicht sogar auch, wenn sie daheim waren. Die Oberschenkel des Mädchens haben sich so verformt, dass das vorher nur leicht behinderte Kind völlig gehunfähig war. Erst durch eine Operation, die die Ärzte auf Vermittlung von USDC kostenlos durchführen, hat es die Hoffnung, wieder laufen zu können.

Im Bett gegenüber sitzt ein anderes behindertes Kind und lehnt sich an seinen Koffer. Seine Tante ist bei ihm. Für die Familien, die oft mehrere Stunden entfernt irgendwo in einem kleinen Dorf leben, ist es extrem aufwendig, ein Kind ins Krankenhaus zu bringen. Zumal die Verwandten für den Patienten im Krankenhaus auch kochen müssen. Dazu kommen die Kosten! Die wenigsten wissen, dass sie hier – vermittelt durch USDC – umsonst behandelt oder gar operiert werden können. Obendrein fördern die traditionellen Heiler noch die Ängste der Eltern, dass ihr Kind in Wirklichkeit verhext sei und man medizinisch nichts machen könne.

Nachmittags begleiten wir einen Arzt bei Hausbesuchen. Wieder fahren wir stundenlang über eine Piste, auf der sich Schlagloch an Schlagloch reiht. Wir brauchen ewig, um den ersten Patienten zu sehen. Eine Verwandte hat den Verband schon gewechselt. Der Fuß, der gebrochen war, heilt gut, stellt der Arzt fest. Mehr gibt es diesmal nicht zu tun.

Der Besuch war trotzdem wichtig. Neugierig haben sich die Dorfbewohner um den Doktor und seinen kleinen Patienten gedrängt. Der Arzt, auf dem Lande immer noch so eine Art Gott in Weiß, hat sich die Mühe gemacht und ist ins Dorf gekommen, nur wegen eines behinderten Kindes! Man spürt es förmlich: Die Achtung vor der Familie steigt. „Unser Besuch wertet das Kind auf“, sagt der Arzt, der von USDC bezahlt wird. „Deswegen ist es auch mehr als nur eine medizinische Maßnahme, wenn wir auf die Dörfer fahren.“

Damit sich an der Situation der Kinder etwas ändert, muss sich die Einstellung der Eltern ändern, ist die Maxime von USDC. Die Organisation initiiert deshalb Selbsthilfegruppen, in denen Eltern sich über ihre Probleme austauschen können und sich gegenseitig informieren. Die Eltern wollen unbedingt den Besuch aus Deutschland kennenlernen. „Wir haben früher unsere behinderten Kinder beschimpft und ihnen schlimme Namen gegeben“, gibt der Vater eines Epileptikers zu. „Ich war überzeugt davon, dass mein Kind verhext sei.“

Aber durch das Projekt und die Selbsthilfegruppe sei er ermutigt worden, einen richtigen Arzt aufzusuchen. Inzwischen ist sein 13-jähriger Sohn „gut eingestellt“ und hat nur noch selten Anfälle. Insofern bräuchte der Vater die Gruppe nicht mehr. „Ich bleibe trotzdem“, sagt er. „Denn wir müssen unbedingt die anderen Eltern behinderter Kinder über all diese Möglichkeiten informieren.“

Eine dieser Möglichkeiten ist, sich auch wirtschaftlich helfen zu lassen. Die meisten Eltern behinderter Kinder sind arm. Auf Wunsch vermitteln die USDC-Mitarbeiter Hilfesuchende weiter: Durch kleine Darlehen des Landwirtschaftsministeriums können sich die Eltern zu Farmergruppen zusammenschließen. Sie halten Hühner, Ziegen oder Kühe und erwirtschaften ein höheres Einkommen. Auch für die behinderten Kinder soll es eine Zukunftsperspektive geben: Sie sollen handwerklich ausgebildet werden und so später einmal ihr eigenes Geld verdienen können.

Und ganz wichtig: Kinder mit Behinderungen sollen nicht nur die Grundschule besuchen können, sondern auch weiterführende Schulen. Das ist bisher nur ganz selten möglich. Immerhin: In einer anderen Schule in der Nähe von Hoima gibt es das schon für einige blinde Kinder. Die besuchen jetzt die benachbarte „Secondary School“, kommen aber zurück in ihre Grundschule, um ihre Hausaufgaben und Klausuren zu schreiben, denn nur hier gibt es spezielle Schreibmaschinen mit Blindenschrift für sie.

Viele Geschichten von behinderten Kindern in Uganda haben insofern ein Happy End. Deshalb ist Abdellas Berufswunsch vielleicht gar nicht so utopisch. „Was willst du denn später einmal werden?“, lässt Annegrethe Stoltenberg den Jungen in Gebärdensprache fragen. „Arzt will ich werden“, malt der der taubstumme Junge in die Luft – und lächelt selbstbewusst.

Birgit Müller

BROT FÜR DIE WELT ist eine Hilfsaktion der evangelischen Landes- und Freikirchen in Deutschland. In mehr als 1000 Projekten leistet sie gemeinsam mit einheimischen Kirchen und Partnerorganisationen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropas Hilfe zur Selbsthilfe. Mehr Infos im Internet unter www.bfdw.de

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