„Mission“ gerettet

Beinahe hätte das selbstverwaltete Obdachlosenprojekt schließen müssen. Jetzt zieht es in die Notunterkunft Pik As

(aus Hinz&Kunzt 177/November 2007)

Jeden Abend wird Missions-Chef Andrew Saathoff wieder obdachlos. Dann schließt der 50-Jährige die Tür des Aufenthaltsraums in der Kaiser-Wilhelm-Straße. Und muss sich einen trockenen Platz irgendwo in der Stadt zum Schlafen suchen.

Badetag im Pik As

Wellness statt Entlausung: In Hamburgs größter Notunterkunft für Obdachlose weht ein neuer Wind

(aus Hinz&Kunzt 178/Dezember 2007)

Blütenweiß wölbt sich der Schaum. Seifenbläschen zerplatzen auf nackter Haut. Es duftet nach Lavendel. So viel Schaum ist sonst nicht. Den gibt’s extra fürs Foto, wegen der Scham. Wenn Hollywood seine Badenden unter Schaumbergen verbirgt, höchstens mal ein bisschen nassglänzende Haut im Gegenlicht filmt, dann soll auch Torsten Pingel etwas Sichtschutz genießen.

Geschäfte mit der Not

Vermieter schlagen Profit aus der Unterbringung von Obdachlosen – Sozialbehörde kündigt die Verträge

(aus Hinz&Kunzt 137/Juli 2004)

Der Mitbewohner von Ralf (Name geändert) lässt sich nicht stören. Es ist Nachmittag, und er schläft seinen Rausch auf der oberen Matratze des Stockbetts aus. „Hübsch, was?“, sagt Ralf (50) sarkastisch und zeigt sein Reich: Mehr Luxus als das Bett und einen Tisch mit einem Uralt-Fernseher bietet das zwölf Quadratmeter kleine Zimmer nicht. Dazu feuchte Flecken an der Wand. Ein unwohnlicher Raum in einem „Hotel“ am Hamburger Berg (St. Pauli), einer Straße mit vielen Kneipen und Discos, deren Besucher jede Nacht zum Tag machen. Ralf lebt hier seit mehr als einem Jahr. Er teilt sich das Zimmer mit einem Junkie, der ihm schon mal die Herzmedikamente klaut und verkauft, so Ralf. Einmal sei der Typ durchgedreht, habe ihn mit einer Eisenstange auf den Kopf schlagen wollen.

Die Mutmacher: Helmut

Wie Hinz&Künztler heute leben

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Rund 3400 Verkäufer haben seit 1993 bei Hinz & Kunzt angefangen. Vielen von ihnen ist der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit gelungen. Wie Helmut Feldtmann. Vor sieben Jahren war er ganz tief unten. Heute hat er eine Wohnung und einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma. Und er hilft anderen Alkoholikern beim Ausstieg aus der Sucht.

Eine Sekunde entschied mein Leben. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit, komme über den Hauptbahnhof und sehe einen Obdachlosen. Er kauert da am Boden, ist betrunken und hat seine Mütze aufgestellt. Er sieht niemandem ins Gesicht. Ich werfe ihm nichts in die Mütze, obwohl er mein ganzes Mitgefühl hat. Ich sehe nämlich mich selbst in ihm.

Es war 1996. Alle meine Säulen brachen bei mir weg, die ein Leben so ausmachen: Ich verlor meinen Job als Lagerarbeiter, meine Frau trennte sich von mir, und ich musste aus der Wohnung raus. Da stand ich dann mit meinen paar Sachen auf der Straße und wusste nicht weiter. Der Alkohol hatte alles zerstört. Ich hatte alles zerstört. Und natürlich war das nicht alles auf einmal passiert, sondern schleichend.

Aufgewachsen bin ich im Alten Land, ich komme aus einem alten Bauerngeschlecht. Da macht man alles mit sich selbst aus, gerade wenn man ein Junge ist. Okay, alle trinken auf dem Land. Es gab Leute, die sogar viel mehr getrunken haben als ich, aber die waren nicht unbedingt Alkoholiker. Ich wurde einer. Ich brauchte den Alkohol.

Bei so einer Großveranstaltung beispielsweise. Da sollte ich die Eröffnungsrede halten. Ich hatte Angst, kein Wort rauszukriegen. Also kippte ich mir kurz einen hinter die Binde. Es klappte. Ich war total locker, die Rede war gut, ich bekam Applaus. Oder in der Disko. Ohne dass ich etwas getrunken hatte, war ich viel zu schüchtern. Alkoholsucht kommt ja nicht von heute auf morgen, sondern dauert unter Umständen Jahre, bis sie richtig „ausbricht“. Man sagt sogar: Sie braucht zehn Jahre, bis sie entsteht, und zehn Jahre, bis man sie erkennt.

Ich wollte immer aussteigen. Ich dachte, ich könnte meinen Alkoholkonsum irgendwann kontrollieren. Das war natürlich eine Illusion. Man steigt nur aus, wenn man den Tiefpunkt erreicht hat. Und diesen Tiefpunkt musste ich erst mal erreichen. Der war grausam … Ich wohnte also auf der Straße, machte irgendwo Platte oder fuhr mit der S-Bahn oder U-Bahn, um mich aufzuwärmen. Manchmal verbrachte ich ein paar Nächte auf dem Wohnschiff. Zehn Tage wohnte ich im „Pik As“, hielt es da aber nicht mehr aus. Es war, als gucke man seinem eigenen Elend ins Gesicht. Nebenbei verkaufte ich Hinz & Kunzt.

Da gibt es Stephan, den Sozialarbeiter. Das wusste ich, aber ich wollte nichts mit ihm zu tun haben. Ich war jetzt schon mehr als ein Jahr auf der Straße, und der Winter stand vor der Tür. Eines Tages traf ich K. wieder, einen anderen Obdachlosen, einen Junkie, der in meinen Augen total fertig war. Der guckte mich von oben bis unten an und sagte: „Damals auf dem Wohnschiff sahst du aber noch besser aus.“

Das saß. Ich blickte ins Schaufenster, sah mein Spiegelbild und erschrak. So sehr, dass ich mich auf dem Absatz umdrehte und weglief. Einfach nur weg. Dabei konnte ich kaum laufen, mein ganzer Körper war krank, meine Beine waren total kaputt. Schlagartig wurde mir klar, dass ich jetzt nur eine Wahl hatte: Leben oder Tod. Und wenn ich sage Tod, dann meine ich nicht normal sterben, sondern elendiglich verrecken.

Am nächsten Tag stand ich pünktlich bei Hinz & Kunzt auf der Matte – und ging sofort zu Stephan. „Ich will hier raus“, sagte ich. Stephan lächelte mich an: „Ich habe schon lange auf dich gewartet“, sagte er. „Du siehst mich doch jeden Tag“, fragte ich erstaunt, „warum hast du mich nicht angesprochen?“ „Es hätte keinen Sinn gehabt, oder?“, sagte Stephan. Und leider muss ich zugeben: Das stimmt.

Von da an ging es bergauf. Langsam zuerst. Stephan vermittelte mir einen Schlafplatz im Bodelschwinghhaus. Die nächste Hürde war die Entgiftung. Ich wollte zwar eine machen, aber mich trotzdem nicht vom Alkohol trennen. Bevor ich in die Vorsorge nach Alsterdorf ging, um mich auf die Therapie vorzubereiten, habe ich mit Kumpels ordentlich Abschied gefeiert. So doll, dass die mich in Alsterdorf gleich wieder weggeschickt haben. Siehste, klappt nicht, sagte ich mir und kaufte mir sofort wieder einen Flachmann.

Aber irgendwas stimmte nicht. Irgendwie konnte ich den nicht mehr in Ruhe trinken. Die andere Stimme in mir, Mensch, hör auf, war zu laut. Da saß ich also und wusste nicht mehr weiter. Die wussten ja auch, dass ich eigentlich weg wollte vom Alkohol. Einer von der Heilsarmee – der sprach auch noch Platt, meine Muttersprache – sagte dann: „Ick foer di no Alsterdoerp hen.“ Okay, dachte ich, irgendwann. Und er: „Der Bus steht vor der Tür. Jetzt.“ Ich zögerte. „Du kannst in den Bus einsteigen oder auch nicht. Es ist ganz allein deine Entscheidung“, sagte der Mann von der Heilsarmee. Und ich stieg ein. Diese eine Sekunde hat mein Leben entscheidend verändert. Seitdem habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Ich brauche mir noch nicht mal zu sagen: „Alkohol tut dir nicht gut, du darfst keinen Alkohol trinken.“ Nein, Ich brauche ihn einfach nicht mehr.

Inzwischen habe ich auch wieder eine Wohnung und sogar einen Job. Ich arbeite bei einer Zeitarbeit und werde mal hier, mal dort eingesetzt. Aber der Schlüssel zu allem war die Entscheidung, dass ich selbst verantwortlich bin für mein Leben. Dass es egal ist, was Eltern oder sonst wer getan haben, dass du alleine es bist, der etwas verändern kann. Das sind natürlich nur Worte, aber sie stimmen. Ich bin bei den Anonymen Alkoholikern, habe dort viel Halt bekommen, aber auch meine eigene innere Kraft entdeckt. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Diese innere Kraft macht mich richtig zufrieden. Ich berate ehrenamtlich andere Alkoholiker – einfach, weil ich denen Hilfestellung geben will, die noch so leiden, wie ich damals gelitten habe.

Birgit Müller

Zurück auf die Straße

Ende des Winternotprogramms

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Das Winternotprogramm ist vorbei. Kirchencontainer, Wohnschiffe und Notquartiere in Fachhochschulen schließen ihre Türen. Für hunderte von Obdachlosen heißt es jetzt: Zurück auf die Straße. Denn selten zuvor schienen die Aussichten auf eine eigene Wohnung so schlecht zu sein wie in diesem Jahr.

„Es sieht ganz düster aus. Die großen Wohnungsgeber sträuben sich immer häufiger, Sozialhilfeempfänger aufzunehmen“, sagt Sigrid Hochdörfer vom Verein „Trotzdem“, der Haftentlassenen hilft, eine Wohnung zu finden. „Wahrscheinlich denken die, wer den ganzen Tag zuhause hockt, der randaliert schnell mal. Und die Saga ist ja zur Zeit auf einem totalen Sanierungskurs.“ Da passen Problemmieter wie ehemalige Obdachlose, Haftentlassene und Sozialhilfeempfänger nicht mehr ins Bild.

Das Integrationsprojekt unterhält 30 Übergangswohnungen für Haftentlassene und schaffte es bislang noch, zwischen 67 und 70 Prozent der Ex-Knackies in eigene feste Wohnungen zu vermitteln. „Aber es wird immer schwieriger“, sagt Sigrid Hochdörfer. Im zweiten Halbjahr 2000 fanden noch 19 Männer mit Hilfe des Vereins eine eigene Wohnung, 2001 waren es nur elf. Zahlen für das vergangene Jahr liegen noch nicht vor.

Ähnliche Erfahrungen macht auch das Bodelschwingh-Haus, eine stationäre Einrichtung des Diakonischen Werkes, in der 70 Männer vorübergehend wohnen können: Die Männer würden im Schnitt zwei bis drei Monate länger im Bodelschwingh-Haus wohnen. Einfach deshalb, weil sie trotz großer Anstrengung keine eigene Wohnung finden. Dieser Trend verschärfe sich in den kommenden Monaten noch, weil das Winternotprogramm ausgelaufen sei. Dann werden die etwa 215 Männer und Frauen, die den Winter über in zusätzlich eingerichteten Notunterkünften hausten, zusätzlich auf den Wohnungsmarkt drängen.

Doch den Beratungsstellen bleibt oft nichts anderes übrig als die Leute an Notlösungen wie das Pik As zu vermitteln. Der Traum von der eigenen Wohnung bleibt für viele ein frommer Wunsch. Denn die Vermittlungszahlen der sieben Beratungsstellen für Personen mit Wohnungsproblemen sprechen eine deutliche Sprache: Konnten die Sozialarbeiter vor fünf Jahren noch 40 Prozent der Wohnungslosen bei der Saga oder der Gesellschaft für Bauen und Wohnen GWG unterbringen, waren es im Jahr 2001 nur noch 20 Prozent.

Besonders dramatisch macht sich die Weigerung der stadteigenen Wohnungsunternehmen in der Beratungsstelle Billstedt bemerkbar. Dort nahmen Saga und GWG im Jahre 1998 fast 90 Prozent aller Menschen auf, die die Beratungsstelle der Caritas in Billstedt und Bergedorf vermittelt hatte. Im Jahr 2001 waren es nur noch acht Prozent. Für das vergangene und das laufende Jahr erwarten die Sozialarbeiter vor Ort keine Besserung. Und das, obwohl die beiden Wohnungsunternehmen mit insgesamt 134.000 Wohnungen nicht nur wirtschaftlichen Grundsätzen, sondern auch sozialen Aspekten verpflichtet sind.

Da hilft es auch wenig, dass die Organisatoren des Winternotprogramms zumindest keinen Anstieg der Obdachlosenzahlen bemerkt haben: „Die Zahl der Obdachlosen, die im Winternotprogramm Schutz vor der Kälte suchten, ist ungefähr gleich geblieben“, sagt Kay Ingwersen, Sprecher von pflegen & wohnen. Insgesamt wurden auf dem Wohnschiff „Bibby Altona“ in Neumühlen vom 1. November 2002 bis Anfang April dieses Jahres 12.400 Übernachtungen gezählt. „Das sind 3100 Übernachtungen weniger als im Vorjahr“, so Ingwersen. Dafür seien im gleichen Zeitraum wesentlich mehr Obdachlose ins Pik As gezogen. „Dort sind wir eigentlich ständig mit Überlast gefahren“, sagt Ingwersen. Obwohl das Pik As eigentlich nur 190 Schlafplätze bereitstelle, seien bis zu 245 Männer pro Nacht dort gewesen. Das Haus sei im Schnitt zu 125 Prozent überbelegt gewesen.

Warum in diesem Winter mehr obdachlose Männer ins Pik As gingen, könne er nur vermuten. Im Vorjahreszeitraum zählten die Mitarbeiter von pflegen & wohnen auf dem damaligen Wohnschiff „Bibby Challenge“ immerhin noch 15.500 Übernachtungen. „Ein Grund könnte sein, dass die ‚Bibby Challenge‘ damals einen großen Schlafsaal hatte, der sehr beliebt war“, so Ingwersen. „Es gab dort insgesamt mehr Platz für den Einzelnen.“ Doch auch das könnte ein Grund für sinkende Zahlen sein, wird in der Szene vermutet: In den vergangenen Jahren hätten Drückerkolonnen das Winternotprogramm der Wohnschiffe missbraucht, um ihre Mitarbeiter kostenlos unterzubringen. In diesem Jahr müssen die Männer auf dem Wohnschiff ihre Ausweise vorzeigen. Es sollen nur noch wirkliche Obdachlose an Bord. Selbst zum Ende des Programms im April seien die Belegzahlen noch immer sehr hoch gewesen. „Das liegt“, so Ingwersen, „auf jeden Fall an dem langen Winter, den wir dieses Jahr hatten.“

Zu einer anderen Bilanz kommen dagegen die Mitarbeiter der Tagesaufenthaltsstätte Bundesstraße, die die Containerplätze vermittelt hat: „Der Andrang war riesig“, sagt Mitarbeiterin Rika Klauzsch. „Am Anfang standen die Männer bis auf die Straße hinaus Schlange. Wir haben absolut steigende Zahlen und hätten noch mehr Kapazitäten gebraucht. Sowohl beim Winternotprogramm als auch bei der Essensausgabe: Zum ersten Male haben wir über das Jahr gesehen mehr als 20.000 Essen ausgegeben.“

Auch Peter Lühr, der Leiter der Beratungsstelle für Haftentlassene in der Kaiser-Wilhelm-Straße, sieht wenig Anlass zu Optimismus: In Hamburg werden täglich fünf Strafgefangene aus der Haft entlassen, die keine Wohnung haben, so Peter Lühr. Die Chancen für diese Männer, in absehbarer Zeit in eine eigene Wohnung zu kommen, hätten sich drastisch verschlechtert. „Die Stadt gibt gern Menschen zu uns in die Haftanstalten ab“, sagt Peter Lühr, „aber wieder nehmen will sie sie nicht.“

Petra Neumann

Die neue Hinz&Kunzt ist da!

Ab sofort auf Hamburgs Straßen und Plätzen zu kaufen: Die Hinz&Kunzt-Aprilausgabe.

Titel_206Auf dem Titelbild zu sehen: die bezaubernde Sibel Kekilli. Bekannt wurde sie mit Fatih Akins Filmerfolg „Gegen die Wand“, in „Die Fremde“ verkörpert sie die Deutsch-Türkin Umay, deren Leben zwischen zwei Kulturen tragisch verläuft. Unserem Autor Frank Keil sagte die Schauspielerin, warum sie ihren neuesten Film so sehr mag.