Wohnungslosenhilfe : Sterben auf der Straße

„Herr Meyer kommt gar nicht mehr.“ Obdach- und Wohnungslose haben oft große Angst vor Fachärzten und Krankenhäusern. Werden sie schwer oder sogar unheilbar krank, können Mitarbeiter in Einrichtungen deswegen oft nur hilflos zusehen, wie sie leiden. 

Holtel Obdachlos.
Ein Hamburger Obdachloser an seinem Schlafplatz. Mit dem Tod setzen sich Menschen ohne Wohnung selten auseinander, selbst wenn sie sehr krank sind. Wichtiger ist für sie, wo Sie Lebensmittel bekommen oder ihr Hab und Gut lassen können.

Im Sterben und im Tod sind eben doch nicht alle Menschen gleich. Wohnungs- und Obdachlose sind von medizinischer Versorgung oft abgekoppelt. Das liegt nicht nur am Gesundheitssystem, sondern auch an ihnen selbst – vor allem daran, dass es ihnen Angst macht. Das sagt Dr. Frauke Ishorst-Witte, die als Ärztin seit vielen Jahren Obdach- und Wohnungslose betreut. Was sie besonders beschäftigt: „Es gibt eine Versorgungslücke von schwerstkranken sterbenden Wohnungslosen.“ Dabei entwickele sich die Palliativ- und Hospizbewegung in Deutschland gut, sowohl was die Versorgung als auch die Auseinandersetzung damit angehe: „Tod und Sterben sind in der Gesellschaft nicht mehr die Tabus, die sie lange waren.“ Zumindest gelte das für die Normalbevölkerung.

Wohnungslose allerdings sind davon oft ausgeschlossen, sagt Ishorst-Witte. Auf der einen Seite erreiche die Bewegung Wohnungslose nicht gut: „Die Mitarbeiter haben wenig Erfahrung mit deren Lebensbedingungen und wissen nicht: Was brauchen sie in ihrer letzten Lebensphase?“ Auf der anderen Seite die Wohnungslosen, die Tod und Sterben sehr stark tabuisieren. Das sei kein Wunder, sagt Ishorst-Witte: „Sie haben andere Probleme: Wo kriege ich morgens meinen Kaffee her? Wo lasse ich meinen Schlafsack? Solche Fragen.“ Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ende tritt da in den Hintergrund. Und das macht es für Mitarbeiter der Wohnungslosenhilfe so schwierig, die letzte Lebensphase zu begleiten.

Herr Meyer will nicht zum HNO-Arzt

Wie bei Herrn Meyer (Name geändert), dessen Geschichte Ishorst-Witte tief bewegt. „Wir kannten uns gut“, erzählt die Ärztin. Herr Meyer lebte in der Notunterkunft Pik As, mehrere Jahre schon. Immer wieder ließ er sich von Ishorst-Witte bei akuten Beschwerden helfen. Doch plötzlich hatte er etwas ganz anderes: „Er hatte viel Gewicht verloren und starke Schluckstörungen. Ich versuchte ihn dazu zu bewegen, einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt aufzusuchen. Aber er hatte zu große Angst davor.“ Herr Meyer ging nicht zum Facharzt. Was er hatte, wurde nicht festgestellt und konnte so auch nicht behandelt werden. Eines Wintermorgens wurde er tot auf der Straße in der Nähe des Pik As gefunden. Eine Obduktion der Hamburger Rechtsmedizin ergab: Er ist an seinem Krebs erstickt. „Das ist der Gau“, sagt Ishorst-Witte.

„Wir haben das Problem oft“, so die Ärztin. „Viele unserer Leute sind sehr krank, aber wir haben keine konkrete Diagnose.“ In der Durchschnittsbevölkerung passiere so etwas eher selten. Das mag auch an der mangelnden sozialen Einbindung Wohnungsloser liegen: Ihnen fehlen oft Familie und Freunde, die sie gut kenneb, Veränderungen bemerken und drängen, sich untersuchen zu lassen. Aber über allem, sagt Ishorst-Witte, steht die Angst, dass die Selbständigkeit und Eigenständigkeit verloren geht. „Da sind wir hilflos. Wir sehen: Den Leuten geht es schlecht. Aber wir können nicht helfen.“

Ohne Diagnose keine Behandlung – und keine umfassende Sterbebegleitung

Denn eine konkrete Diagnose ist notwendig, um Patienten palliativmedizinisch zu behandeln, das heißt, Schwerstkranke zu begleiten und ihre Schmerzen und Nöte zu lindern. Ohne Diagnose gebe es auch keine Möglichkeit, Menschen in einem Hospiz unterzubringen – so denn Wohnungslose überhaupt bereit wären, dort hinzuziehen. Denn sie haben nicht nur die Ängste, die jeder hat: Nämlich an einen Ort zu kommen, der ein Endpunkt ist. Wohnungslose sind außerdem unsicher: Passe ich in so eine „bürgerliche“ Einrichtung? Kann ich meine Selbstbestimmung behalten? Ja, sagt Ishorst-Witte: „Die, die ich im Hospiz untergebracht hatte, fühlten sich dort wohl. Sie durften zum Beispiel in ihren Zimmern rauchen und auch Alkohol trinken.“

Gerne würde Ishorst-Witte öfter Wohnungslose in Hospize vermitteln: „Langfristig wollen wir die Kooperation ausbauen. Die Hamburger Hospize sind offen dafür, auch für ambulante Dienste in den Einrichtungen. Es gibt schon Mitarbeiter, die Einrichtungen besuchen und zum Beispiel im Pik As Sterbebegleitung anbieten. Das bewegt etwas.“

Es gehe nicht darum, „alle in saubere Betten zu kriegen“. Es geht darum: Wie kann es einem sterbenden, kranken Menschen so gut gehen wie möglich? Wie kann ihm die Angst ein Stück weit genommen werden? Wie kann man das schaffen, was er sich wünscht? Gibt es Bedürfnisse, die er selbst nicht stillen kann? „Es ist okay, wenn jemand auf der Straße sterben möchte“, sagt Ishorst Witte. Vielleicht hat Herr Meyer sich das sogar gewünscht. Doch wie es passiert ist, hätte Dr. Ishorst-Witte ihm gerne erleichtert. „Er hätte nicht qualvoll ersticken müssen.“

Text: Beatrice Blank
Foto: Mauricio Bustamante

Gestorben wird überall – Krankheit, Tod und Trauer in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, Do, 18.4., 9.30–16.15 Uhr, Hamburger Bestattungsforum Ohlsdorf. Tagung der Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit, Arbeitskreis „Wohnungslosigkeit und Gesundheit“ für Fachkräfte und Ehrenamtliche der Wohnungslosenhilfe, Palliativhilfe und Sterbebegleitung und für Interessierte. Mit Vorträgen u.a. von Ärztin Dr. Frauke Ishorst-Witte („Stimmt, Herr Meyer kommt gar nicht mehr!“), Prof. Dr. Annelie Keil (Universität Bremen, „Der menschliche Auftrag im begleiteten Sterben“) und Peggy Steinhauser (Hamburg Leuchtfeuer Lotsenhaus, „Lebendige Trauerkultur“). Nachmittags Workshops. Im Anschluss an die Veranstaltung Möglichkeit zu geführtem Spaziergang auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Teilnahmegebühr: 35 Euro. Mehr Informationen: www.hag-gesundheit.de

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