Thomas war 15 Jahre lang obdachlos. Im Januar zog er ins Hinz&Kunzt-Haus ein.
Thomas hat Muskelkater, den hatte er schon lange nicht mehr. Er, der jeden Tag auf dem Rad saß und, wenn ihm alles zu viel wurde, immer weiterfuhr, einmal bis nach Portugal. Gestern ist er nach Wochen zum ersten Mal wieder losgefahren: durch ganz Hamburg, überall dorthin, wo sein Alltag stattfand, als er noch auf der Straße lebte. Das war anstrengend, sagt er: wegen dem Fahren, aber auch für seinen Kopf, der in letzter Zeit immer so voll ist. Er befinde sich gerade in einem Übergang, sagt Thomas, vom „Überleben zum Leben“.
Thomas trägt eine Kappe über seinen langen Haaren und Pantoffeln, auf denen steht: Home. Am 1. Januar ist Thomas in eine der Wohngemeinschaften im Hinz&Kunzt-Haus eingezogen. Er habe nicht damit gerechnet, dass er mit seinen 56 Jahren, nach 15 Jahren auf der Straße, noch einen Platz finde. „Ich war skeptisch gegenüber der Gesellschaft“, sagt er.
In den ersten Nächten in seinem WG-Zimmer bekam er Albträume. Zuletzt hatte er an der Station Baumwall geschlafen, die U-Bahn jeden Abend, jeden Morgen über sich. Jetzt musste er die Fenster aufreißen, ist auf die Straße gerannt, weil es so leise war in seinem Zimmer. Er hatte schon damit gerechnet, dass ihm alles zu viel wird und er wieder auf sein Fahrrad steigt und abhaut. Doch vor zwei Wochen sei er morgens das erste Mal aufgewacht und habe gedacht: Du bist echt nicht mehr auf der Straße.
Jeder in seiner Wohngemeinschaft habe eigene Probleme, er selbst habe in den ersten Nächten viel geschrien. Dann ist auch mal einer seiner beiden Mitbewohner rübergekommen. Der andere kocht fast jeden Tag für ihn mit. Thomas ist derjenige, der repariert, wenn etwas kaputt geht. Dieses Miteinander, sagt er, sei ein „angenehmes Hochschaukeln“. Durch „die kleinen Dinge, mit denen man sich das Leben schöner macht“.
Als Kinder wurden Thomas und seine Geschwister in ihrer Familie sexuell missbraucht. Seit er 14 Jahre alt war, ist er immer wieder abgehauen, von Nordrhein-Westfalen bis nach Hamburg und Berlin, immer wieder wurde er zur Familie zurückgebracht. Als er 18 war, ist er ausgezogen. „Mir fehlt bis heute das Urvertrauen, das man wohl hat, wenn man in einer richtigen Familie aufwächst“, sagt Thomas.
Später saß er mehrere Jahre lang im Gefängnis, danach wurde er obdachlos. Seit 2007 verkauft er Hinz&Kunzt, das wurde seine Basis. Er staunt darüber, wie er sich offenbar verändert hat in all den Jahren, wie „sozialverträglich ich doch bin“.
Seitdem Thomas im Hinz&Kunzt-Haus wohnt, bekommt er Bürgergeld. In seiner Freizeit repariert er Laptops, und weil er so geschickt ist, übernimmt das Jobcenter eine Weiterbildung. Leute wie ihn, sagt er, suchten sie offenbar. Im Internet sei er in „Linux-Foren“ unterwegs, tauscht sich darüber aus, wie man alte Macbooks recycelt. „Da kann ich ein bisschen Freak bleiben“, sagt er.
Was er sich für die Zukunft wünsche? „Mensch zu sein, dafür würde ich alles tun“, sagt Thomas. Er denkt, damit jemand zurück in die Gesellschaft findet, muss die ihm zeigen: Da kommt noch was. Wie bei ihm.
