Melanie Mücher über die Wohncontainer für Obdachlose

„Große Unterkünfte bedeuten Stress“

Melanie Mücher sorgt sich um den Gesundheitszustand Obdachloser. Foto: Miguel Ferraz

Im November ist das diesjährige Hamburger Winternotprogramm angelaufen. Wir haben mit Melanie Mücher, Leiterin des Diakonie-Zentrums für Wohnungslose, über die begehrten Containerplätze und die Lage auf der Straße gesprochen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Auch dieses Jahr haben Sie die Containerplätze bei Kirchen­gemeinden und Hochschulen an Obdachlose per Los vergeben. Warum?

Melanie Mücher: Die Vergabe per Los ist aus der Not geboren. Denn das Interesse an den Wohncontainern ist immer deutlich größer als das Angebot. Wir wollen die Plätze möglichst fair vergeben. Würden Sozialarbeiter da­rüber entscheiden, wer reindarf und wer nicht, würde das in unseren Augen eine zu große Macht bedeuten. Genauso falsch wäre es, wenn die Menschen vor unserer Einrichtung tagelang in der Kälte campieren würden, um als Erste dranzukommen. Das war in der Vergangenheit so, doch das wollen wir auf keinen Fall mehr. Das jetzige ­Verfahren ist das kleinste Übel, weil zumindest jeder die gleiche Chance hat, einen Platz zu bekommen. Wohl fühlen wir uns damit nicht. Wir verwalten nur den Mangel.

Die Plätze werden ohne Vorbedingungen vergeben?

Grundsätzlich kann jeder, der ein Los zieht, einen Platz ­bekommen. Wir ­prüfen nur, ob die Person schon wo­anders untergebracht ist. Das kommt in Einzelfällen vor. Oder ob ein starker Alkohol- oder Drogenkonsum bekannt ist. Da muss man bei Kirchenge­meinden sensibel sein, ins­besondere wenn Kitas auf dem Gelände sind. Und es sind ja Ehrenamtliche, die sich um die Containerbewohner kümmern. Die müssen damit umgehen können.

Werden alle Plätze verlost?

Einen Teil vergeben wir an Härtefälle, die Anzahl stimmen wir sowohl intern als auch mit der Sozialbehörde ab. Aus dem ganzen Hilfesystem werden ­Menschen vorgeschlagen. In diesem Jahr hatten wir 16 Härtefallplätze für ­Männer und die Kemenate (Angebot für wohnungslose Frauen, Red.) hatte drei. Da geht es vor allem um die Menschen, von denen die Sozialarbeitenden schon wissen, dass sie die großen Unterkünfte unter keinen Umständen aufsuchen werden und stattdessen draußen schlafen würden.

Wie viele Menschen versuchen, einen Platz im Container zu bekommen?

In den vergangenen Jahren waren es ungefähr doppelt so viele, wie Plätze vorhanden waren. In diesem Jahr haben sich rund 150 Männer für 45 Plätze angestellt. Dazu kommen sechs Plätze, die wir für drei Paare anbieten konnten, und rund 30 Plätze für Frauen, die die Kemenate vergeben hat. Natürlich würden wir uns freuen, wenn noch mehr Kirchengemeinden bereit wären, Container aufzustellen.

Warum sind die Containerplätze so beliebt?

Weil die Menschen dort einen Ort für sich haben, an dem sie maximal zu zweit, in vielen Fällen sogar allein sind. An dem sie eine Tür hinter sich schließen können. An dem sie Privatsphäre haben. Die Menschen können zur Ruhe kommen – weil sie nicht tagsüber rausmüssen wie in den großen Unterkünften. So gut ich es finde, dass sich das städtische Winternotprogramm weiter­entwickelt und etwa kranke ­Obdachlose tagsüber in den großen Unterkünften bleiben können (siehe Meldung Seite 20): Auch jemand, der nicht akut krank ist, ist nicht in einem guten Allgemein­zustand. Auch für diese Menschen ist es eine enorme ­Belastung, jeden Morgen rauszumüssen und den Tag in ­einem Tagesaufenthalt mit 100 an­deren Menschen zu verbringen. Das bedeutet Stress. Der ganze Tagesablauf bedeutet Stress, die großen Unterkünfte an sich bedeuten Stress. All das hat man in einem Container nicht.

Im vergangenen Winternotprogramm konnten nur zwei Menschen aus einem Container in Wohnraum
ver­mittelt werden. In den großen Unterkünften ist das in keinem einzigen Fall gelungen. Warum ist es so schwierig, Wohnraum zu finden?

Viele Menschen haben keine Sozialleistungsansprüche und damit ist die Miete nicht gesichert, selbst wenn man eine Wohnung für sie findet. ­Diese Menschen haben oft nur eine Chance, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben. Doch auch wenn die Ver­mittlung in Arbeit gelingt, ist es auf dem ­Hamburger Wohnungsmarkt unglaublich schwer. Insbesondere für Menschen in so einer prekären Lebenslage. Wenn Menschen den Weg in eine eigene Wohnung finden, ist das dem Engagement der Kirchenge­meinden zu ver­danken. Die hängen sich da wirklich rein und sagen: Wir nehmen uns die Zeit. Wir wollen etwas für euch erreichen.

Wie nehmen Sie die Situation auf der Straße aktuell wahr?

Es ist schlimm. Wir nehmen wahr, dass die Menschen total angeschlagen und in einer schlechten Verfassung sind. Und dass es trotzdem Menschen in dieser schlechten ­Verfassung gibt, die sagen: „Ich kann nicht in eine
große ­Unterkunft gehen.“ Aufgrund von Gewalterfahrungen, ­psychischen Erkrankungen oder auch überwundenen Suchterkrankungen. Das ist immer besonders schlimm anzu­sehen, weil man diesen Menschen nichts anbieten kann, wenn sie nicht das Glück hatten, einen Containerplatz zu bekommen. Diese Menschen sind in ­Lebensgefahr – und das betrifft nicht wenige in Hamburg. Das macht uns Angst. Um dieses Problem zu lösen, brauchen wir kleinere Unterkünfte über die ganze Stadt verteilt und mehr Wohnraum. Das Winternotprogramm tagsüber für alle zu ­öffnen, wäre ein guter Anfang.

Artikel aus der Ausgabe:

Zuhause gesucht!

Unserer Gesellschaft fehlt der soziale Zusammenhalt? Das Gefühl scheint aktuell weit verbreitet. Wir haben das Projekt „Tausch & Schnack“ in Hamburg-Eimsbüttel besucht und mit dem Wissenschaftler Thomas Lux über die Kraft von sogenannten Triggerpunkten gesprochen und festgestellt: Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland ist gar nicht so klein. Außerdem: Weihnachten steht vor der Tür und wir bei Hinz&Kunzt haben bereits begonnen uns darauf einzustimmen. 

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Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Studium der Politikwissenschaft in Hamburg und Leipzig. Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.