Der Puppenspieler von Havanna

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Wolf Hermsen hat sich seinen Traum erfüllt. Zweieinhalb Jahre hat der 44-Jährige an seinem ersten Spielfilm gearbeitet. Jetzt kommt „Der Puppenspieler von Havanna“ ins Kino. Gedreht hat Hermsen den Film auf Kuba – mit einheimischen Schauspielern

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

Der skurrile Held heißt Roberto. Er ist Puppenspieler von Beruf und hat nur einen Wunsch: Er hofft, dass ein norwegischer Festivalmanager, den er vor Jahren kennengelernt hat, ihn und seine Marionetten nach Oslo einlädt. Aus dem Traum wird eine fixe Idee, und Robertos Familie beginnt, an dessen geistiger Gesundheit zu zweifeln. Was er niemandem verrät, ist, dass er in einem verfallenen Hinterhof einen weiteren Satz Marionetten versteckt hält. In diesen arbeitete er einst die Haare und das Blut seiner verstorbenen Frau Olga ein, um so den Puppen zu einem kraftvolleren Ausdruck zu verhelfen. Seine Freundin Maria und sein Sohn Oscar haben ihn schon abgeschrieben, als „der Norweger“ plötzlich tatsächlich auftaucht. Er macht Roberto ein Angebot, das sein Leben völlig verändert.
Auch sonst passiert so einiges in dem Film: Robertos Freundin Maria hat eine Affäre mit dem jungen deutschen Touristen Gerhardt, dem sie später nachstellt, weil er angeblich Robertos Marionetten gekauft hat. Maria will Gerhardt die Puppen wieder abluchsen. Bei der Observation überfährt sie ihren Ex-Geliebten aus Versehen, begeht Fahrerflucht und wird später von einer Zeugin erpresst. Das hört sich grausam an, aber ist noch ganz witzig. Im Gegensatz zu den unheimlichen Puppenszenen auf Robertos geheimer Probebühne. Die mysteriösen, albtraumhaften Szenen hat Filmemacher Wolf Hermsen übrigens wirklich geträumt.
Schließlich taucht auch noch Robertos tote Frau Olga auf, um von ihrem Mann die Puppen einzufordern. Ob real oder nur in der Fantasie Robertos, das bleibt offen wie das Ende. „Ich habe ganz bewusst dem Zuschauer Interpretationsspielraum gelassen“, sagt Wolf Hermsen.
Wie kommt ein Hamburger Filmemacher dazu, einen Film auf Spanisch über einen Puppenspieler auf Kuba zu drehen? Für Hermsen ist das ganz logisch: „Ich komme aus einer Künstler­familie und habe als Jugendlicher selbst Theater gespielt. Meine Mutter war Intendantin und Geschäftsführerin am Klecks-Theater. Das hat mich sicher geprägt.“ Nach dem Abitur beginnt Hermsen ein Philosophie- und Jurastudium und jobbt nebenbei als Kameramann. Er landet beim NDR, kündigt aber nach sechs Monaten wieder. „Die haben sich gewundert: Schließlich ist das fast wie eine Beamtenstelle, aber die Kunst ging vor.“ Er geht nach Berlin und später für einige Jahre nach Argentinien, da er sehr gut Spanisch spricht und etwas von der Welt sehen möchte. Von dort produziert er Kulturbeiträge, Dokumentationen und Reisesendungen aus Lateinamerika für deutsche Sender.
„Jetzt mache ich selbst etwas mit Kunst“, beschließt Hermsen 2005. Zurück zu den Wurzeln. „Zum Dreh auf Kuba kam es eher zufällig. Ich hatte dort schon Kurzfilme gemacht und tolle Schauspieler kennengelernt, die mein Projekt interessant fanden.“ 2006 und 2007 entsteht der „Puppenspieler.“ Aus eigener Tasche finanziert, mit Minibudget und kleinen Gagen. Und mit viel Improvisationstalent und Leidenschaft. Die braucht Wolf Hermsen auch in Zukunft, denn die Ideen für vier weitere Drehbücher hat er schon im Kopf.

Termine und Infos finden Sie unter hier.

Sybille Arendt

Das Urteil, der Guido und Hartz IV

Rund 6,7 Millionen Arbeitslosengeld-II-Empfänger können auf mehr Geld hoffen. Die Regelsätze müssen neu berechnet werden, entschied das Bundesverfassungsgericht, weil sie ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ nicht sichern. Sozialverbände begrüßten das Urteil. FDP-Chef Westerwelle warnte dagegen vor „spätrömischer Dekadenz“ und klagte, „diejenigen, die arbeiten, werden mehr und mehr zu den Deppen der Nation“.

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

Dringend gesucht: Eine Vision für die ganze Stadt

Es könnte mehr gegen die soziale Spaltung in Hamburg getan werden. Der Senat setzt aber weiterhin auf
Wirtschaftswachstum und „kreative Viertel“. So droht die soziale Frage trotz eines neuen Stadtteil-Programms wieder aus dem Blick zu geraten.

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

Hamburg ist eine gespaltene Stadt. Angesagte Szene-Stadtteile in zentraler Lage liegen auf der einen Seite des Grabens, Wohngebiete mit Betonklötzen und verschärften sozialen Problemen auf der anderen. Nein, neu ist diese Erkenntnis wirklich nicht. Neu ist aber, dass soziale Fragen derzeit so heftig diskutiert werden. Dazu haben die politischen Protest-Initiativen mit ihrem gemeinsamen Slogan „Recht auf Stadt“ beigetragen, aber auch die Künstler, die im Gängeviertel einen viel beachteten Etappensieg errungen haben.
Allerdings stehen „Kreative“ in der Wirtschaft und Politik sowieso auf der Liste der Gruppen, deren Förderung sich rechnet. Metropolen brauchen kreative Nischen für den internationalen Wettbewerb, davon sind die Stadtplaner schon länger überzeugt. Aber was ist mit den wirklich Benachteiligten, mit Alten, Migranten und Hartz-IV-Empfängern?
Mehr Öffentlichkeit für diese Menschen fordern die Wissenschaftler und Experten aus der Praxis, die auf der Konferenz „Hamburg – Eine Stadt für alle!“ gemeinsam die soziale Spaltung diskutiert haben. „Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass die Stadt in arme und reiche Viertel zerfällt. Wir wollen soziale Teilhabe und mehr Gerechtigkeit“, fasste Mitorganisator Jörg Herrmann, Leiter der Evangelischen Akademie der Nordelbischen Kirche, die Ziele der Teilnehmer zusammen.
Die wichtigste Erkenntnis: Obwohl es Hamburg wirtschaftlich relativ gut geht, verhärtet sich die soziale Spaltung. Professor Jürgen Oßenbrügge, Stadtforscher an der Uni Hamburg, kann das empirisch belegen. So werden nach seinen Daten ältere Menschen, Arme und Migranten durch steigende Mieten an den Stadtrand gedrängt – diese Dynamik entsteht durch die Aufwertung „kreativer Viertel“. Und wer in einem „Problemstadtteil“ wohnt, hat oft allein deshalb Probleme. Ein Bewerbungsgespräch endet manchmal schon, wenn man erzählt, wo man aufgewachsen ist. Dieses Negativ-Image des eigenen Wohnortes ist demotivierend. „So entstehen räumliche Fallen, die Probleme weiter verstärken“, so Oßenbrügge.
Die Ursachen der sozialen Spaltung, weiß Oßenbrügge, sind letztlich europaweit gleich: der Niedergang der Industrie seit Ende der 70er-Jahre, prekäre Arbeitsverträge, Niedriglöhne, der Umbau des Sozialstaats. Die langfristigen Trends werden aktuell durch die Wirtschaftskrise verstärkt. Aber Hamburg könne trotzdem weit mehr für benachteiligte Stadtteile tun. „Das Problem ist, dass es kaum Möglichkeiten oder Treffpunkte in diesen Quartieren gibt“, sagt der Stadtgeograf, „dort ist es einfach zu langweilig.“ Daher brauche es vor Ort mehr Bildungs- und Kulturförderung, auch in Zeiten leerer Staatskassen. „Wenn wir einerseits viel Geld und Energie in die Elbphilharmonie stecken und andererseits zu wenig für die Problemquartiere tun, dann stellt sich bald die Frage, wie viel soziale Spaltung Hamburg vertragen kann.“
Der schwarz-grüne Senat hat diese Spaltung durchaus im Blick. Im Juli 2009 wurde das „Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung“ (RISE) aus der Taufe gehoben. Es soll mit 30 Millionen Euro Förderprojekte bündeln und es setzt auf Bürgerbeteiligung und lokale Initiativen. Professor Oßenbrügge erwartet von RISE dennoch keine wirklichen Lösungen. Die sozialen Prob­leme würden wieder nur in den Problemquartieren bearbeitet, es fehle eine echte Vision. „Der Senat legt exakt fest, wie stark der Hamburger CO2-Ausstoß bis 2020 reduziert werden soll. Dann soll man auch Ziele im sozialen Bereich definieren, zum Beispiel, wie viele Kinder aus benachteiligten Stadtteilen 2020 Abitur machen sollen.“ Er befürchte, dass der Senat die soziale Spaltung eher verwalten als bekämpfen wolle.
Diese Befürchtung wird von vielen Konferenzteilnehmern geteilt. Aber sie haben konkrete politische Vorschläge, was zur Lösung der sozialen Frage in der Stadt getan werden könnte. Es sind Vorschläge, die anderswo bereits umgesetzt wurden. Der Geschäftsführer von „Stattbau Hamburg GmbH“, Tobias Behrens, stellt klar: „Es gibt wirksame Instrumente, mit denen man auf die Luxusbremse treten könnte. Dass Mieten steigen und immer mehr Mietwohnungen in Eigentum umgewandelt werden, könnte durch eine soziale Erhaltungsverordnung für ganze Stadtteile verhindert werden.“ Außerdem müsse der Verkauf von städtischem Bauland überprüft werden: „Wir müssen stärker auf soziale Aspekte achten und für Neubauten längere Mietpreisbindungen festlegen. In München geht das schließlich auch.“ Zwar plane der Senat, wieder mehr Sozialwohnungen zu bauen und weniger Grundstücke nach dem Höchstpreisverfahren zu vergeben. Ob das in der Praxis wirklich umgesetzt werde, müsse aber kritisch überprüft werden, da die Finanzbehörde weiterhin auf den höchsten Verkaufserlös schiele.
Auch für eine bessere Stadtteil-Arbeit gibt es Ideen. „RISE wiederholt alte Fehler“, sagt Professor Ingrid Breckner von der HafenCity Universität, „es geht wenig von den Problemen vor Ort aus und ist wieder für vier Jahre befristet.“ Die Lösung sozialer Probleme bräuchte einen langen Atem statt präsentierbarer Erfolge für den nächsten Wahlkampf. Die Niederlande könnten da ein Vorbild sein. „Dort hat man zuerst übliche Prob­leme definiert und dann nachgeschaut, wo sie verstärkt vorkommen“, erzählt Breckner. „Die Beamten auf nationaler und regionaler Ebene mussten Patenschaften für Stadtteile übernehmen und dann zwei Tage die Woche vor Ort sein. So verhindert man auch, dass in irgendwelchen Büros über die Köpfe der Bewohner hinweg geplant wird!“

Auf der „1. Konferenz zur sozialen Spaltung“ nahmen Anfang Februar 250 Wissenschaftler und Experten aus dem sozialen Bereich teil. Eingeladen hatte unter anderem die Evangelische Akademie der Nordelbischen Kirche und einige Fachbereiche der Hamburger Universität. Die Konferenz soll jährlich wiederholt werden.

Musiker Jan Delay: „Alles wird dem Reim untergeordnet“

Wir treffen Jan Delay im Büro seines Labels auf St. Pauli. Der Künstler sieht cool aus mit seinem Basecap und den Streetwear-Klamotten. Er ist höflich und konzentriert, obwohl er schon einen langen Interview-Tag hinter sich hat. Außerdem ist er bedrückt. Vor wenigen Tagen ist die Hamburger Graffiti- und Hip-Hop-Legende Eric im Alter von 40 Jahren von einem Zug erfasst und getötet worden. Jan Delay zeigt uns mehrere frisch gesprühte Bilder, die von Trauernden aus der Szene zum Andenken an Eric direkt um die Ecke der Agentur an Hauswände gesprüht wurden. Er möchte auch unbedingt dort fotografiert werden.

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

01HK205_Titel_05.inddHinz&Kunzt: Wer war Eric?
Jan Delay: Eric war so etwas wie der „Godfather of Hamburg Hip-Hop“. Das erste ernst zu nehmende Graffiti-Piece in Hamburg ist von ihm. Es war in diversen Zeitungen und es gab sogar Postkarten davon. Nicht durch dieses Bild, sondern durch seine Aktivitäten war er der Pionier und Pate der Szene und hat sich immer aufopfernd um alle gekümmert.

H&K: Inwiefern?
Delay: Er hat in der Hafenstraße gewohnt und wann immer jemand Stress hatte zu Hause, dann konnten wir bei ihm pennen. Und er hatte einen Treffpunkt, wo wir jede Woche zusammen zeichnen, malen, auflegen und rappen konnten. Mit Eric hat Hamburg jemanden verloren, der mit ganzem Herzen dafür gesorgt hat, dass die Hamburger Kids kreativ sind und bleiben und dass die Gewalt draußen bleibt.

Behütet und gewaltfrei ist auch Jan Delay aufgewachsen. Er wird 1976 als Jan-Philipp Eißfeldt in Hamburg geboren und wächst in einem künstlerisch sehr aufgeschlossenen Elternhaus in einer Jugendstilvilla in Hamburg-Eppendorf auf. Ein Stadtteil, um den er inzwischen einen weiten Bogen macht.

H&K: Hat deine Herkunft deine Musik beeinflusst?
Delay: Als Kind fand ich es in Eppendorf schön. Ab zehn bin ich dann aber in Eimsbüttel zur Schule gegangen und habe da auch Abi gemacht. Meine ganzen Freunde waren auch in Eimsbüttel oder Winterhude. Das eklige Eppendorf habe ich erst später kennengelernt.

H&K: Was war denn so schrecklich an Eppendorf?
Delay: Während meines Zivildienstes musste ich mich tagsüber auf den Straßen von Eppendorf herumtreiben, mit den militanten, reichen Müttern, die ihre Töchter im Geländewagen von der Schule abholen und in schicken Cafés die Übernahme der nächsten Boutique planen. An dem Tag, als der Zivildienst zu Ende war, konnte ich endlich Eppendorf verlassen. Ich bin an dem Tag ausgezogen. Es gibt auch null Ausländer in Eppendorf, es ist nicht auszuhalten.

Der Rap, den Jan Delay mit zehn Jahren entdeckt, lässt ihn nicht mehr los. Mit 13 Jahren gründet er mit einem Freund ein Hip-Hop-Fanzine und taucht in die sich gerade formierende deutsche Hip-Hop-Szene ein. Später gründet er mit Freunden die Rap-Band „Absolute Beginnerz“, die große Erfolge mit deutschem Rap feiert.

H&K: Wie bist du damals eigentlich darauf gekommen, auf Deutsch zu singen? Das war zum Beginn deiner musikalischen Karriere ja eher ungewöhnlich.
Delay: Ich wusste, ich will nicht auf Englisch rappen, weil ich nicht so gut Englisch kann. Auch die, zu denen ich spreche, können kein Englisch. Martin und Dennis damals bei den Beginnern fanden das peinlich und wollten auf Englisch singen, aber die Tapes der Pioniere von Advanced Chemistry (Urväter des deutschen Rap, d. R.) haben sie überzeugt. Auf einmal war es nicht mehr peinlich. Und so wurden aus uns die Absoluten Beginner. Wir haben dann sogar Texte vom Englischen ins Deutsche übersetzt, die wir schon hatten.

Eine gute Entscheidung, denn die Band kommt groß heraus. Seit 2004 ist Jan Delay solo unterwegs und hat sich zum Superstar entwickelt. Auf der Straße erkennt ihn inzwischen beinahe jedes Kind. Musikalisch lässt er sich abseits vom Rap inspirieren: Für seine drei Solo-Alben bediente er sich bei Reggae, Soul und Funk. Im Sommer 2009 erschien „Wir Kinder vom Bahnhof Soul“.

H&K: Gibt es Themen, über die du nicht singen würdest?
Delay: Nicht direkt. Ich würde niemals etwas Politisches-Kritisches machen, wenn mir dazu keine schönen Bilder, keine schöne Geschichte, keine entertainende Sprache einfällt. Dann würde ich es lassen. Alles wird dem Reim untergeordnet, dem guten Reim. Wenn es keinen Reim zu dem Thema gibt, dann wird das Thema fallen gelassen.

H&K: Was wird dein nächstes Projekt?
Delay: Weiß ich noch nicht. Ich bin jetzt erst mal noch ein dreiviertel Jahr unterwegs und was danach kommt, darüber mache ich mir keine Sorgen. Bisher hat sich immer etwas ergeben.

H&K: Und wirtschaftlich kannst du dir eine
Pause leisten?
Delay: Ja, ich habe ein Dach über dem Kopf, um jetzt im Hinz&Kunzt-Vokabular zu reden.

Diagnose: manisch-depressiv

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt: Klaus Lenuweit ist seit 15 Jahren Hinz&Künztler – und manisch-depressiv. Mal will er sich mit einem Messer am liebsten die Arme aufschnibbeln, dann wieder durch den Park tanzen. Die Geschichte einer Krankheit – von innen betrachtet.

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

„Ich habe die Lust auf ein normales Leben verloren“

Christian H. verkauft Hinz&Kunzt seit 2004 an seinem Stammplatz an der U-Bahn-Haltestelle Mönckebergstraße

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

ChristianChristian ist ein freundlicher Mensch, der gerne lacht und erzählt. Wenn der 55-Jährige allerdings von seiner Vergangenheit berichtet, klingt seine Stimme belegt. Christian wächst in Duisburg auf, der Vater ist ein starker Trinker. „Schöne Kindheitserinnerungen habe ich nicht“, sagt er. Nach der Schule lernt er Maler und Lackierer. Als er 25 Jahre alt ist, stirbt sein Vater an seiner Sucht. Das ist auch der Grund, warum Christian noch nie einen Tropfen Alkohol angerührt hat: „Ich habe gesehen, was das anrichtet.“
Mit 30 Jahren heiratet Christian seine Freundin, aber dann verliert er 1988 seinen Job, die Ehe geht in die Brüche. Das wirft ihn so aus der Bahn, dass er auf die Straße flüchtet. Seitdem ist er obdachlos, zieht durch unterschiedliche Städte. Ende der 90er-Jahre findet er in Celle wieder eine Wohnung und eine Arbeit in einem Café für Obdachlose. Als er länger krank ist, verliert er diesen Job. Ohne Kontakte und Beschäftigung hilft ihm auch die Wohnung nichts: „Ich saß immer alleine zu Hause“, erzählt er, „mir ist die Decke auf den Kopf gefallen, und da bin ich wieder auf die Straße“. Seit im Jahr 2000 seine Mutter gestorben ist, hat er auch seinen letzten emotionalen Rückhalt verloren. „Einmal im Jahr konnte ich wenigstens meine Mutter besuchen“, erzählt Christian traurig, „jetzt habe ich die Lust verloren, ein normales Leben zu führen.“
Seit Anfang Februar hat Christian einen Schlafplatz in einem Wohncontainer, den er mindestens bis März behalten kann. „Vorher habe ich Platte in St. Georg gemacht“, erzählt er, „das ist bei der Kälte selbst mit einem guten Schlafsack zu hart.“

H&K: Was hast du diese Woche Besonderes erlebt?
Christian: Ich habe endlich Hartz IV beantragt. Die Beamtin am Empfang wollte mich sofort wegschicken, weil mir ein Formular fehlte. Aber als ich höflich nach ihrem Vorgesetzten gefragt habe, durfte ich plötzlich doch reinkommen und die haben mir sogar mit dem Antrag geholfen. Man darf sich eben nicht so einfach abspeisen lassen!

H&K: Wie hat dir die Februar-Ausgabe gefallen?
Christian: Sehr gut, vor allem die Geschichte mit den beiden Verkäufern Klaus und Klaus. Schließlich habe ich die beiden zu Hinz&Kunzt geholt!

H&K: Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?
Christian: Ich würde mir wünschen, dass ich möglichst lange gesund bleibe. Und dass ich irgendwann doch mal Glück habe und in meinen eigenen vier Wänden meine Ruhe finden kann.

Text: Hanning Voigts

Foto: Mauricio Bustamante

Konferenz: 5 Jahre Hartz IV in Hamburg

Eine Konferenz mit dem Titel „Agenda 2010 – Ziel erreicht? Hartz IV in der Krise“ zieht am Samstag, 10. April, Bilanz: Was haben fünf Jahre Hartz IV in Hamburg verändert? Was ist von den Versprechungen übrig geblieben? Wie hat sich die Reform auf das Leben der Betroffenen ausgewirkt?

Die von Gerhard Schröder und der rot-grünen Bundesregierung von 2003 bis 2005 umgesetzte „Agenda 2010“ hatte als Kernstück eine grundlegende Reform der Arbeitsmarktpolitik und der sozialen Sicherungssysteme.

Foto: Benne Ochs
Foto: Benne Ochs

Wirbel um „Hamburgs übelsten Vermieter“

So sehen Kuhlmanns Wohnungen aus!Im Oktober 2009 berichtete Hinz&Kunzt von skandalösen Vorgängen auf dem Hamburger Wohnungsmarkt: Thorsten Kuhlmann, stellvertretender Ortsvorsitzender der CDU Osdorf, besitzt Wohnungen in einem Haus in Eilbek, die er vor allem an Hartz-IV-Empfänger, Menschen mit Schulden und ehemalige Obdachlose vermietet. Die Wohnungen, die Hinz&Kunzt im Laufe der Recherche besuchte, waren in einem erbärmlichen Zustand: Feuchtigkeit, Schimmel, bröckelnder Putz. Vor allem aber waren die Wohnungen wesentlich kleiner als in den Mietverträgen angegeben. Die überteuerten Mieten bezahlte der Staat, da die meisten Mieter auf Sozialleistungen angewiesen waren. Aus Angst, ihr Dach über dem Kopf wieder zu verlieren, unternahmen diese in den meisten Fällen nichts. Auf Nachfrage erklärte die Arge, sie könne in solchen Fällen nichts gegen den Vermieter unternehmen, weil die Vertragspartner Kuhlmann und seine Mieter seien. Fünf Monate später ist aus der Hinz&Kunzt-Geschichte ein handfester Skandal geworden.

Noch mehr Kältetote!

Die Zahl der in diesem Winter erfrorenen Obdachlosen muss weiter nach oben korrigiert werden. Wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. heute mitteilte, sind bisher mindestens 16 obdachlose Männer im Alter von 45 bis 62 Jahren in Deutschland erfroren. Zuletzt starb am 27. Januar ein 55-Jähriger in seinem Schlafsack im Stadtwald von Iserlohn (NRW). Seit dem Winter 1996 / 1997 waren nicht mehr so viele Kältetote in Deutschland zu beklagen, damals erfroren mindestens 25 Menschen. Die BAG Wohnungslosenhilfe bekräftigte noch einmal ihre Forderungen nach bedarfsgerechten Schlafgelegenheiten, die ein Mindestmaß an Privatsphäre bieten und möglichst auch tagsüber geöffnet sein sollten. Außerdem könnten U-Bahnhöfe oder öffentliche Gebäude geöffnet werden, um weitere Opfer zu vermeiden.