Über Leben auf der Straße : Wieso brauchen Obdachlose ein Handy?

Auch als Jörg noch auf der Straße lebte, hatte er ein Handy. Foto: Mauricio Bustamante

Keine Wohnung, aber ein Smartphone in der Tasche? Das macht total Sinn, erklärt Ex-Hinz&Künzler Jörg in unserem neuen Sondermagazin. Darin beantworten Obdachlose 20 Fragen über Obdachlosigkeit.

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Handys und Smartphones sind oft Statussymbole: Die neuesten Produkte werden in Hochglanzoptik beworben, manche kosten mehr als 1000 Euro. Ist es da nicht Luxus, ein Handy zu besitzen, vor allem, wenn man obdachlos ist und sich das gar nicht leisten kann?

Ex-Hinz&Künztler Jörg sieht das anders: „Man sollte es nicht überbewerten“, sagt er, „aber ein Handy kann lebenswichtig sein.“ Gerade auf der Straße. Als Jörg noch Platte machte, glaubte er anfangs, kein Handy zu brauchen. Bis ihn beim Pfandsammeln ein alter Bekannter entdeckte. „Der sagte: ,Jörg, wir suchen dich schon eine Ewigkeit! Du sollst dich dringend bei deiner Mutter melden!‘“

Die schlimme Nachricht: Jörgs Bruder war schwer verunglückt. Und sein Vater war gestorben, schon vor Monaten. „Ich wusste davon gar nichts“, sagt Jörg. Danach sparte er auf sein erstes Mobiltelefon. „Mit meiner Mutter hatte ich abgemacht: Ein Mal in der Woche melden ist Pflicht.“ Nicht immer klappte das. Weil sein Gerät ein alter Knochen war, hielt der Akku nicht lange. „Ich bin dann zum Aufladen in Tagesaufenthaltsstätten wie das Herz As gegangen, zu Hinz&Kunzt oder zu McDonald’s. Da wusste ich, wo eine Steckdose ist.“

Aus unserem Sondermagazin

Was Sie schon immer über Obdachlosigkeit wissen wollten: 20 Fragen von Leser:innen und Antworten darauf von denen, die es wissen müssen – unseren Verkäufer:innen.
Zum Inhalt.

Sein zweites Handy bekam Jörg geschenkt. Er verkaufte damals Hinz&Kunzt vor einer Bäckerei. Eine Verkäuferin trieb ein neueres Gerät für ihn auf. Er behielt den kleinen Klotz, bis die Tasten blank gescheuert waren. Prepaid, für 4,95 Euro im Monat – das reichte ihm vorerst aus. Später war er sogar mobil online: Ein Kunde schenkte ihm ein altes Smartphone, inklusive Vertragsgebühr für ein Jahr. „Ich kann jetzt WhatsApp verschicken, hab ’ne Mailadresse – es ist Wahnsinn!“, schwärmte Jörg damals. Heute ist das alles Routine für ihn. Es hat sich viel geändert bei Jörg: Er arbeitet jetzt als Betreuer in einem Seniorenheim, fest angestellt, in Vollzeit.

An die Zeit ohne Handy auf der Straße kann er sich aber noch gut er­innern. „Du bist von der Außenwelt abgeschnitten“, sagt er. „Wenn dann was passiert, bekommst du keine Hilfe. Und kannst auch selbst nicht helfen.“

Artikel aus der Ausgabe:

Über Leben auf der Straße

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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