„Mission“ gerettet

Beinahe hätte das selbstverwaltete Obdachlosenprojekt schließen müssen. Jetzt zieht es in die Notunterkunft Pik As

(aus Hinz&Kunzt 177/November 2007)

Jeden Abend wird Missions-Chef Andrew Saathoff wieder obdachlos. Dann schließt der 50-Jährige die Tür des Aufenthaltsraums in der Kaiser-Wilhelm-Straße. Und muss sich einen trockenen Platz irgendwo in der Stadt zum Schlafen suchen.

Badetag im Pik As

Wellness statt Entlausung: In Hamburgs größter Notunterkunft für Obdachlose weht ein neuer Wind

(aus Hinz&Kunzt 178/Dezember 2007)

Blütenweiß wölbt sich der Schaum. Seifenbläschen zerplatzen auf nackter Haut. Es duftet nach Lavendel. So viel Schaum ist sonst nicht. Den gibt’s extra fürs Foto, wegen der Scham. Wenn Hollywood seine Badenden unter Schaumbergen verbirgt, höchstens mal ein bisschen nassglänzende Haut im Gegenlicht filmt, dann soll auch Torsten Pingel etwas Sichtschutz genießen.

Parteien-Check zur Wahl

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Zum zehnjährigen Bestehen von Hinz&Kunzt haben wir zehn Wünsche für Hamburg für Hamburg veröffentlicht. Einige Forderungen finden parteiübergreifend Zuspruch. Hier die Antwort der Bürgerschaftsfraktionen.

Nr. 1: Die Krankenstube für Obdachlose ist hoffnungslos überfüllt.

H&K fordert: Mehr Betten für kranke Obdachlose.

Geschäfte mit der Not

Vermieter schlagen Profit aus der Unterbringung von Obdachlosen – Sozialbehörde kündigt die Verträge

(aus Hinz&Kunzt 137/Juli 2004)

Der Mitbewohner von Ralf (Name geändert) lässt sich nicht stören. Es ist Nachmittag, und er schläft seinen Rausch auf der oberen Matratze des Stockbetts aus. „Hübsch, was?“, sagt Ralf (50) sarkastisch und zeigt sein Reich: Mehr Luxus als das Bett und einen Tisch mit einem Uralt-Fernseher bietet das zwölf Quadratmeter kleine Zimmer nicht. Dazu feuchte Flecken an der Wand. Ein unwohnlicher Raum in einem „Hotel“ am Hamburger Berg (St. Pauli), einer Straße mit vielen Kneipen und Discos, deren Besucher jede Nacht zum Tag machen. Ralf lebt hier seit mehr als einem Jahr. Er teilt sich das Zimmer mit einem Junkie, der ihm schon mal die Herzmedikamente klaut und verkauft, so Ralf. Einmal sei der Typ durchgedreht, habe ihn mit einer Eisenstange auf den Kopf schlagen wollen.

Die Mutmacher: Helmut

Wie Hinz&Künztler heute leben

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Rund 3400 Verkäufer haben seit 1993 bei Hinz & Kunzt angefangen. Vielen von ihnen ist der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit gelungen. Wie Helmut Feldtmann. Vor sieben Jahren war er ganz tief unten. Heute hat er eine Wohnung und einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma. Und er hilft anderen Alkoholikern beim Ausstieg aus der Sucht.

Eine Sekunde entschied mein Leben. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit, komme über den Hauptbahnhof und sehe einen Obdachlosen. Er kauert da am Boden, ist betrunken und hat seine Mütze aufgestellt. Er sieht niemandem ins Gesicht. Ich werfe ihm nichts in die Mütze, obwohl er mein ganzes Mitgefühl hat. Ich sehe nämlich mich selbst in ihm.

Es war 1996. Alle meine Säulen brachen bei mir weg, die ein Leben so ausmachen: Ich verlor meinen Job als Lagerarbeiter, meine Frau trennte sich von mir, und ich musste aus der Wohnung raus. Da stand ich dann mit meinen paar Sachen auf der Straße und wusste nicht weiter. Der Alkohol hatte alles zerstört. Ich hatte alles zerstört. Und natürlich war das nicht alles auf einmal passiert, sondern schleichend.

Aufgewachsen bin ich im Alten Land, ich komme aus einem alten Bauerngeschlecht. Da macht man alles mit sich selbst aus, gerade wenn man ein Junge ist. Okay, alle trinken auf dem Land. Es gab Leute, die sogar viel mehr getrunken haben als ich, aber die waren nicht unbedingt Alkoholiker. Ich wurde einer. Ich brauchte den Alkohol.

Bei so einer Großveranstaltung beispielsweise. Da sollte ich die Eröffnungsrede halten. Ich hatte Angst, kein Wort rauszukriegen. Also kippte ich mir kurz einen hinter die Binde. Es klappte. Ich war total locker, die Rede war gut, ich bekam Applaus. Oder in der Disko. Ohne dass ich etwas getrunken hatte, war ich viel zu schüchtern. Alkoholsucht kommt ja nicht von heute auf morgen, sondern dauert unter Umständen Jahre, bis sie richtig „ausbricht“. Man sagt sogar: Sie braucht zehn Jahre, bis sie entsteht, und zehn Jahre, bis man sie erkennt.

Ich wollte immer aussteigen. Ich dachte, ich könnte meinen Alkoholkonsum irgendwann kontrollieren. Das war natürlich eine Illusion. Man steigt nur aus, wenn man den Tiefpunkt erreicht hat. Und diesen Tiefpunkt musste ich erst mal erreichen. Der war grausam … Ich wohnte also auf der Straße, machte irgendwo Platte oder fuhr mit der S-Bahn oder U-Bahn, um mich aufzuwärmen. Manchmal verbrachte ich ein paar Nächte auf dem Wohnschiff. Zehn Tage wohnte ich im „Pik As“, hielt es da aber nicht mehr aus. Es war, als gucke man seinem eigenen Elend ins Gesicht. Nebenbei verkaufte ich Hinz & Kunzt.

Da gibt es Stephan, den Sozialarbeiter. Das wusste ich, aber ich wollte nichts mit ihm zu tun haben. Ich war jetzt schon mehr als ein Jahr auf der Straße, und der Winter stand vor der Tür. Eines Tages traf ich K. wieder, einen anderen Obdachlosen, einen Junkie, der in meinen Augen total fertig war. Der guckte mich von oben bis unten an und sagte: „Damals auf dem Wohnschiff sahst du aber noch besser aus.“

Das saß. Ich blickte ins Schaufenster, sah mein Spiegelbild und erschrak. So sehr, dass ich mich auf dem Absatz umdrehte und weglief. Einfach nur weg. Dabei konnte ich kaum laufen, mein ganzer Körper war krank, meine Beine waren total kaputt. Schlagartig wurde mir klar, dass ich jetzt nur eine Wahl hatte: Leben oder Tod. Und wenn ich sage Tod, dann meine ich nicht normal sterben, sondern elendiglich verrecken.

Am nächsten Tag stand ich pünktlich bei Hinz & Kunzt auf der Matte – und ging sofort zu Stephan. „Ich will hier raus“, sagte ich. Stephan lächelte mich an: „Ich habe schon lange auf dich gewartet“, sagte er. „Du siehst mich doch jeden Tag“, fragte ich erstaunt, „warum hast du mich nicht angesprochen?“ „Es hätte keinen Sinn gehabt, oder?“, sagte Stephan. Und leider muss ich zugeben: Das stimmt.

Von da an ging es bergauf. Langsam zuerst. Stephan vermittelte mir einen Schlafplatz im Bodelschwinghhaus. Die nächste Hürde war die Entgiftung. Ich wollte zwar eine machen, aber mich trotzdem nicht vom Alkohol trennen. Bevor ich in die Vorsorge nach Alsterdorf ging, um mich auf die Therapie vorzubereiten, habe ich mit Kumpels ordentlich Abschied gefeiert. So doll, dass die mich in Alsterdorf gleich wieder weggeschickt haben. Siehste, klappt nicht, sagte ich mir und kaufte mir sofort wieder einen Flachmann.

Aber irgendwas stimmte nicht. Irgendwie konnte ich den nicht mehr in Ruhe trinken. Die andere Stimme in mir, Mensch, hör auf, war zu laut. Da saß ich also und wusste nicht mehr weiter. Die wussten ja auch, dass ich eigentlich weg wollte vom Alkohol. Einer von der Heilsarmee – der sprach auch noch Platt, meine Muttersprache – sagte dann: „Ick foer di no Alsterdoerp hen.“ Okay, dachte ich, irgendwann. Und er: „Der Bus steht vor der Tür. Jetzt.“ Ich zögerte. „Du kannst in den Bus einsteigen oder auch nicht. Es ist ganz allein deine Entscheidung“, sagte der Mann von der Heilsarmee. Und ich stieg ein. Diese eine Sekunde hat mein Leben entscheidend verändert. Seitdem habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Ich brauche mir noch nicht mal zu sagen: „Alkohol tut dir nicht gut, du darfst keinen Alkohol trinken.“ Nein, Ich brauche ihn einfach nicht mehr.

Inzwischen habe ich auch wieder eine Wohnung und sogar einen Job. Ich arbeite bei einer Zeitarbeit und werde mal hier, mal dort eingesetzt. Aber der Schlüssel zu allem war die Entscheidung, dass ich selbst verantwortlich bin für mein Leben. Dass es egal ist, was Eltern oder sonst wer getan haben, dass du alleine es bist, der etwas verändern kann. Das sind natürlich nur Worte, aber sie stimmen. Ich bin bei den Anonymen Alkoholikern, habe dort viel Halt bekommen, aber auch meine eigene innere Kraft entdeckt. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Diese innere Kraft macht mich richtig zufrieden. Ich berate ehrenamtlich andere Alkoholiker – einfach, weil ich denen Hilfestellung geben will, die noch so leiden, wie ich damals gelitten habe.

Birgit Müller

Die Mutmacher: Jojo

Wie ehemalige Hinz&Künztler heute leben

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Rund 3400 Verkäufer haben seit 1993 bei Hinz & Kunzt angefangen. Vielen von ihnen ist der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit gelungen. Wie Joachim Donath. Sein Spitzname Jojo passt zum Auf und Ab seines Lebens. Seit vergangenem Jahr steuert er 40-Tonnen-Tankwagen über Europas Straßen.

Das Kissen, ohne das Joachim Donath nicht losfährt, hat einen Fellüberzug, der einmal weiß war. Damit klettert der 50-Jährige auf den Fahrersitz der 470-PS-Zugmaschine. Mit dem Kissen verstärkt er die Rücklehne, sodass er weiter vorne sitzen kann. Sein Bauch berührt fast das Lenkrad. Ja, er hat zugenommen, seit er mit dem Rauchen aufhörte. Umso heftiger kaut er nun auf Kaugummis herum. Seine schwarze Kappe trägt er mit dem Schirm nach hinten. Ein lässiger Trucker.

Joachim Donath ist 1,37 Meter groß. Und wer als Erwachsener 1,37 Meter misst, muss mehr als andere dafür sorgen, nicht übersehen zu werden. Entsprechend energisch gibt Donath Ende der siebziger Jahre seinen Einstand in Hamburg. In einer Kneipe auf St. Pauli gerät er mit zwei Gästen aneinander. Wahrscheinlich unterschätzen die beiden seine Kraft und sein Geschick. Das ist ihr Pech. Jojo, damals Mitte 20, taucht plötzlich mit dem Kopf zwischen die Beine des Ersten, richtet sich auf, hebt den Widersacher hoch und befördert ihn durch die Scheibe nach draußen. Der zweite Gast folgt auf gleichem Wege.

Donath, der in Krefeld aufwuchs, teilte auch früher schon aus. Er verhaut Mitschüler, deren Eltern nicht glauben wollten, dass „der Kleine da“ das geschafft haben soll. Einmal würgt er einen größeren Kameraden im Schwitzkasten so sehr, dass es lebensgefährlich wird. Ein „streitsüchtiger und jähzorniger Gnom“ sei er gewesen, sagt Donath. Die Zeiten sind vorbei, der Mann ist 50 und kann einen Streit auslassen. Aber Jojo hat nicht nur Kraft, sondern auch einen schlauen Kopf. Er ist um Worte nie verlegen, mit seiner angenehmen, volltönenden Stimme kann er reden und reden. „Ich hätte beruflich etwas mit Sprachen machen sollen“, sinniert er. Ein „Sprach-Chamäleon“ sei er, und zum Beweis wechselt er für ein paar Sätze ins Englische, streut italienische, türkische und französische Brocken ein, gibt Wortspiele auf Platt zum Besten und klärt über die Sprache der Roma auf.

Aber damals, nach der Schule, war für diese Begabung kein Platz: Jojo beginnt eine Lehre als Kfz-Schlosser, die er nicht zu Ende bringt. Er arbeitet in Kanada als Taucher, möchte in Kiel sogar eine Tauch-Ausbildung beginnen, aber die Berufsgenossenschaft findet: Donath ist zu klein. 1977 kommt er nach Hamburg, schleppt im Hafen 75-Kilo-Säcke, wird Staplerfahrer und Kranführer. Die großen Maschinen, die Bagger, Kräne und die Lkws seien „wie Prothesen“. Eine kontrollierte Möglichkeit, die eigene Kraft nach außen zu übersetzen.

„Na, hast du dich kurzgelaufen?“, haben Kollegen in seinen zahlreichen Jobs gefragt. Aber das seien imme freundliche Sprüche gewesen, Verletzendes habe er von Kollegen nie gehört, sagt Donath. Eher Anerkennung, dass er anpackt wie jeder andere und sich nicht auf einen möglichen Status als Schwerbehinderter zurückzieht. Anders manche Arbeitgeber. „Wir beschäftigen keine Zirkusleute“, beschied ihm ein Bauunternehmen. Etwas feiner formulierte es eine Reederei: „Sie passen nicht in das repräsentative Gefüge unserer Firma.“

Ende der achtziger Jahre will Jojo finanziell größer werden, als er ist. Er lebt mit einer Frau und deren drei Kindern zusammen. Das Geld, das der Familie fehlt, möchte er erspielen, bei Roulette und Black Jack. Joachim Donath wird abhängig vom Glücksspiel. Einige Jahre später, die Beziehung ist längst beendet, bringt ihn die Sucht um seine Wohnung, anderthalb Jahre schlägt er sich auf der Straße durch. Voreiliges Mitleid durchkreuzt er sofort. Eine „gute Zeit“ sei das gewesen, „es entsprach meinem Unabhängigkeitssinn.“

Der Februar 1997 wird kalt. In der Innenstadt, auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz, stellt Hinz & Kunzt ein beheiztes Zelt für Obdachlose auf. Joachim Donath kommt sozusagen als Nachbar dazu, denn er macht Platte vor Karstadt in der Mönckebergstraße. Im Zelt hilft er bei der Organisation und übernimmt Nachtschichten. So entsteht der Kontakt zum Straßenmagazin. In den folgenden Monaten verkauft Donath die Zeitung und verfasst selbst Beiträge, von kecken Beobachtungen beim Betteln bis zu einem beklemmenden Bericht über seine Erfahrungen in der Psychiatrie.

Dann der Absprung aus Hamburg. Ein Kurierfahrer, der in einer Kiez-Kneipe kräftig getankt hat, sucht lallend einen Ersatzmann, der ihm den Transporter nach Schweden weiterfährt. Jojo sagt zu. Bald darauf folgt er dem Auftraggeber an den Bodensee, wo er Jobs bei Baufirmen annimmt. Donath wird „trocken“: Er spielt nicht mehr. „Die Arbeit hat mich gefordert, das Spielen wurde uninteressant.“

Inzwischen lebt Donath wieder in Krefeld, bei seiner 81-jährigen Mutter. 2001 macht er den Lkw-Führerschein. Jahrelang hatte es beim TÜV geheißen: Da müssen wir erst mal die Pedal- und Lenkkräfte messen, und dann sind da einige Auflagen nötig, und der Lkw muss umgerüstet werden. „Das hätte sich nicht gelohnt“, sagt Donath. Erst als sich ein aufgeschlossener TÜV-Mitarbeiter ansieht, wie Donath tatsächlich einen 40-Tonner lenkt, wie er schaltet und bremst, ist der Weg frei. Einzige Auflage: das Kissen vor der Rückenlehne, um die Sitzfläche zu verkürzen.

Heute arbeitet er bei der Tankwagen-Spedition Rohrbach in Krefeld. „Er hat sich ganz normal beworben“, sagt Chef Günter Rohrbach. Fuhrparkleiter Ewald Keller fügt an: „Eine gewisse Skepsis hat man schon. Aber er hatte sein selbst geschnitztes Kissen dabei, wir haben eine Probefahrt gemacht – das war völlig unproblematisch.“ Donath wird eingeplant wie jeder andere Fahrer auch, er hat keinen speziellen Lkw, keine spezielle Strecke. Von Sonntagabend bis Freitagabend ist er unterwegs – ein Job für Junggesellen. Er schläft im Lkw, wie es das Gerüst von Fahr-, Arbeits- und Ruhezeiten gerade vorsieht. An Bord hat Jojo einen Laptop mit Routenplaner, auf dem er sich gelegentlich einen Film auf DVD ansieht. Das war’s dann auch mit Freizeitvergnügen.

In den wenigen Nächten zu Hause wacht Donath manchmal auf: „Habe ich eine Kurve verpasst?“ Die Konzentration am Steuer wirkt nach. Bald geht’s wieder los. Gegen 22 Uhr wird er auf dem Hof der Spedition einen leeren Lkw in Empfang nehmen. Am Montag um 6 Uhr soll er im französischen Saint Avolt Acryl laden. Für den Fernfahrer Joachim Donath beginnt eine weitere Woche auf der Straße.

Detlev Brockes

Zehn Zahlenspiele

Eine Bilanz zum 10-jährigen Geburtstag von Hinz & Kunzt

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Buchstaben haben mich schon immer mehr gereizt als Zahlen. Aber als messbare und nachvollziehbare Einheiten sind sie für Erfolge eben unerlässlich. Und zu den Zahlen gehören zum Glück auch immer Geschichten. Jedenfalls bei Hinz&Kunzt. Von beidem sind in den vergangenen zehn Jahren reichlich zusammengekommen.

I. 3500 Verkäufer haben zwischen November 1993 und 2003 einen Verkäuferausweis bekommen. Das heißt, an jedem Arbeitstag hat ein Obdachloser in unseren Vertriebsräumen ein Gespräch geführt, einen Verkäuferausweis und eine Chance bekommen.

II. Rund 10 Millionen Zeitungen sind seit der Gründung von Hand zu Hand gegangen. Ebenso häufig sind darüber Wohnungsbesitzer und Wohnungslose ins Gespräch gekommen.

III. 25.000 Gespräche hat unser Sozialarbeiter mit Verkäufern geführt. Über Wohnung und Arbeit, Liebeskummer und Krankheit, Schulden und Einsamkeit. Für viele ist das die einzige Möglichkeit, über Gefühle zu sprechen – ein Prozess, der für beide Seiten oft schmerzhaft ist.

IV. 250 Verkäufer haben mit Hilfe von Hinz & Kunzt wieder einen Arbeitsplatz gefunden. Weil sie hier zuerst die Chance bekamen, ohne Druck wieder einer regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen.

V. Mehrere hundert Verkäufer haben durch uns wieder ein Dach über dem Kopf gefunden. Entweder ein Zimmer in einem Wohnheim oder eine eigene Wohnung. Der Bedarf war allerdings noch weitaus höher.

VI. 15 ehemals Obdachlose haben im Lauf der Jahre bei Hinz & Kunzt wieder einen festen Arbeitsplatz bekommen und arbeiten dort in einem bunt gemischten Team ganz verschiedener Experten. Sechs von ihnen arbeiten heute noch hier.

VII. 6000 Zeitungsseiten wurden bedruckt. Und vorher natürlich ausführlich recherchiert, geschrieben, fotografiert und gestaltet.

VIII. 5 Millionen Euro Spenden haben dazu beigetragen, dass Hinz & Kunzt erfolgreiche Arbeit leisten konnte. Darunter ist die Rentnerin, die sich ihre 10 Euro vom Munde abspart, und der Firmenchef, der auf den Kauf von Weihnachtsgeschenken für seine Kunden verzichtet und stattdessen 1000 Euro überweist.

IX. 1500 Anzeigenschaltungen, durch die Hamburger Firmen gezeigt haben, dass sie die Idee des Projekts und die mediale Wirkung des Magazins gleichermaßen schätzen. Das gilt für die kleine Uhrmacherwerkstatt genauso wie für den regionalen Energieversorger.

X. Hunderte von Arbeitsstunden, die Hinz & Kunzt in Form von ehrenamtlicher Arbeit durch Agenturen, Freiwillige und Dienstleistern zu Gute gekommen sind. Omis stricken warme Strümpfe, Musiker singen, Art Directoren planen Kampagnen, und Schüler verkaufen Kekse für uns – geschenkte Lebenszeit, die eine enge Verbindung an unser Projekt schafft.

Nicht gezählt haben wir die vielen ermutigenden Worte, die uns erreicht haben. Die Verkäufer, die es „geschafft“ und die es „nicht geschafft“ haben, die Tränen, die geflossen sind, die Obdachlosen, die den Weg nicht zu uns gefunden haben, und die Momente, in denen wir stolz waren auf die Verkäufer oder auf uns. Zahlen sind eben doch nicht alles.

Sybille Arendt

Hamburg ist nicht Florida!

Ein Hinz&Kunzt-Kommentar

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Da einen zahlen brav ihre Steuern, und der Rolf lässt sich in Florida die Sonne auf den Pelz brennen und wirft noch ein paar Viagra ein, um den Anforderungen des wilden Lebens durchzustehen. Bezahlen lässt er sich das auch noch vom Sozialamt, von uns allen also. Rolf hat die Gemüter ganz schön in Wallung gebracht. Klar, kann man da angesichts der leeren Kassen ins Grübeln geraten.

Aber selbst Sozialbehördensprecherin Anika Wichert sagt: „Wir haben keinen Florida-Rolf!“ Und wir können nur aus Erfahrung sagen: Der Alltag unserer Leute sieht anders aus. Hamburg ist nicht Florida. Schon gar nicht im Obdachlosenbereich.

Neulich war beispielswiese unser Verkäuferbetreuer Jürgen Jobsen mit einem Hinz & Künztler beim Landessozialamt. An einem Montag Morgen, ganz früh haben sie sich angestellt. Und wurden weggeschickt. Nicht zum ersten Mal. Begründung: Die Sachbearbeiter wären noch dabei, die Fälle, die sich seit Mittwoch aufgestaut hätten, zu bearbeiten. Wieder einmal ist der Krankenstand im Sozialamt so hoch, dass eine geregelte Arbeit gar nicht zu denken ist. Beratung? Fehlanzeige. Eine unhaltbare Situation – für die Sozialhilfeempfänger und für die Mitarbeiter. Aber symptomatisch für die vergangenen Jahre. Ob’s spürbar besser wird mit den drei neuen Mitarbeitern, die jetzt anfangen?

Die Hoffnung auf eine große baldige Veränderung ist gerade geplatzt. Denn die Stärkung der Sozialämter in den Bezirken und die Einrichtung von Fachstellen, in denen Obdachlose und solche, die es werden könnten, aus einer Hand beraten werden sollen, ist verschoben. Ein Armutszeugnis, zumal eigentlich nicht nur die Regierungsparteien, sondern auch SPD und Grüne hinter dem Konzept stehen. Gemunkelt wird schon die ganze Zeit, dass Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) sich genauso die Zähne an der Wohnungswirtschaft ausbeißt wie ihre rote Amtsvorgängerin und wie letztendlich die gesamte Hamburger Sozialarbeit. Denn die Vermieter wollen sich nicht darauf verpflichten, genügend bezahlbaren Wohnraum für Obdachlose bereitzustellen.

Derweil fallen immer mehr Leute aus dem sozialen Netz. Bei der diesjährigen Besucher-Befragung in der Tagesaufenthaltsstätte Herz As kam heraus, dass inzwischen 15 Prozent der Besucher (2002: 10 Prozent) keinerlei Einkünfte mehr haben. Das heißt: Sie beziehen weder Stütze, Arbeitslosengeld noch Rente.

Vermutlich wird diese Zahl noch ansteigen. Die Sozialbehörde will jetzt flächendeckend denen die Stütze kürzen oder streichen, die keine – wie auch immer geartetet Arbeit – annehmen oder sich selbst nicht genug kümmern. Und das, ohne die Betroffenen vorher an soziale Jobagenturen zu überweise. Und das, obwohl die Sachbearbeiter kaum in der Lage sind, ihre Klienten zu beraten.

Die Schillianer wollen noch nachlegen und Kontrolleure zu allen Sozialhilfeempfänger schicken. Peter Schröder-Reineke (Diakonisches Werk) „regt das richtig auf“. „Wir haben eine Missbrauchsquote von zwei Prozent, da sind die Kontrolleure zig mal teurer als das, was durch ihre Arbeit eingespart wird.“ Viel gravierender findet er den Missbrauch, der durch die Ämter passiert. „Einer Menge Menschen werden ihre Rechte vorenthalten.“

Auch das Winternotprogramm mit rund 200 Schlafplätzen zusätzlich wird abgespeckt. Es läuft jetzt vier Wochen vorher aus zum 31. März. Fast sah es so aus, als würde es die Containerplätze bei den Kirchengemeinden nicht mehr geben. Das konnte abgebogen werden. Aber die Betreuungspauschale wird drastisch gekürzt.

Etwas Positives gibt es allerdings: Die Sozialbehörde will auch den Stützeempfänger Miete und Krankenversicherung weiter bezahlen, denen zeitweise die Hilfe gestrichen wurde. „Wir wollen nicht, dass noch mehr Menschen obdachlos werden“, sagt Behördensprecherin Annika Wichert. „Vor allem wenn Kinder im Spiel sind.“

Birgit Müller

Zurück auf die Straße

Ende des Winternotprogramms

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Das Winternotprogramm ist vorbei. Kirchencontainer, Wohnschiffe und Notquartiere in Fachhochschulen schließen ihre Türen. Für hunderte von Obdachlosen heißt es jetzt: Zurück auf die Straße. Denn selten zuvor schienen die Aussichten auf eine eigene Wohnung so schlecht zu sein wie in diesem Jahr.

„Es sieht ganz düster aus. Die großen Wohnungsgeber sträuben sich immer häufiger, Sozialhilfeempfänger aufzunehmen“, sagt Sigrid Hochdörfer vom Verein „Trotzdem“, der Haftentlassenen hilft, eine Wohnung zu finden. „Wahrscheinlich denken die, wer den ganzen Tag zuhause hockt, der randaliert schnell mal. Und die Saga ist ja zur Zeit auf einem totalen Sanierungskurs.“ Da passen Problemmieter wie ehemalige Obdachlose, Haftentlassene und Sozialhilfeempfänger nicht mehr ins Bild.

Das Integrationsprojekt unterhält 30 Übergangswohnungen für Haftentlassene und schaffte es bislang noch, zwischen 67 und 70 Prozent der Ex-Knackies in eigene feste Wohnungen zu vermitteln. „Aber es wird immer schwieriger“, sagt Sigrid Hochdörfer. Im zweiten Halbjahr 2000 fanden noch 19 Männer mit Hilfe des Vereins eine eigene Wohnung, 2001 waren es nur elf. Zahlen für das vergangene Jahr liegen noch nicht vor.

Ähnliche Erfahrungen macht auch das Bodelschwingh-Haus, eine stationäre Einrichtung des Diakonischen Werkes, in der 70 Männer vorübergehend wohnen können: Die Männer würden im Schnitt zwei bis drei Monate länger im Bodelschwingh-Haus wohnen. Einfach deshalb, weil sie trotz großer Anstrengung keine eigene Wohnung finden. Dieser Trend verschärfe sich in den kommenden Monaten noch, weil das Winternotprogramm ausgelaufen sei. Dann werden die etwa 215 Männer und Frauen, die den Winter über in zusätzlich eingerichteten Notunterkünften hausten, zusätzlich auf den Wohnungsmarkt drängen.

Doch den Beratungsstellen bleibt oft nichts anderes übrig als die Leute an Notlösungen wie das Pik As zu vermitteln. Der Traum von der eigenen Wohnung bleibt für viele ein frommer Wunsch. Denn die Vermittlungszahlen der sieben Beratungsstellen für Personen mit Wohnungsproblemen sprechen eine deutliche Sprache: Konnten die Sozialarbeiter vor fünf Jahren noch 40 Prozent der Wohnungslosen bei der Saga oder der Gesellschaft für Bauen und Wohnen GWG unterbringen, waren es im Jahr 2001 nur noch 20 Prozent.

Besonders dramatisch macht sich die Weigerung der stadteigenen Wohnungsunternehmen in der Beratungsstelle Billstedt bemerkbar. Dort nahmen Saga und GWG im Jahre 1998 fast 90 Prozent aller Menschen auf, die die Beratungsstelle der Caritas in Billstedt und Bergedorf vermittelt hatte. Im Jahr 2001 waren es nur noch acht Prozent. Für das vergangene und das laufende Jahr erwarten die Sozialarbeiter vor Ort keine Besserung. Und das, obwohl die beiden Wohnungsunternehmen mit insgesamt 134.000 Wohnungen nicht nur wirtschaftlichen Grundsätzen, sondern auch sozialen Aspekten verpflichtet sind.

Da hilft es auch wenig, dass die Organisatoren des Winternotprogramms zumindest keinen Anstieg der Obdachlosenzahlen bemerkt haben: „Die Zahl der Obdachlosen, die im Winternotprogramm Schutz vor der Kälte suchten, ist ungefähr gleich geblieben“, sagt Kay Ingwersen, Sprecher von pflegen & wohnen. Insgesamt wurden auf dem Wohnschiff „Bibby Altona“ in Neumühlen vom 1. November 2002 bis Anfang April dieses Jahres 12.400 Übernachtungen gezählt. „Das sind 3100 Übernachtungen weniger als im Vorjahr“, so Ingwersen. Dafür seien im gleichen Zeitraum wesentlich mehr Obdachlose ins Pik As gezogen. „Dort sind wir eigentlich ständig mit Überlast gefahren“, sagt Ingwersen. Obwohl das Pik As eigentlich nur 190 Schlafplätze bereitstelle, seien bis zu 245 Männer pro Nacht dort gewesen. Das Haus sei im Schnitt zu 125 Prozent überbelegt gewesen.

Warum in diesem Winter mehr obdachlose Männer ins Pik As gingen, könne er nur vermuten. Im Vorjahreszeitraum zählten die Mitarbeiter von pflegen & wohnen auf dem damaligen Wohnschiff „Bibby Challenge“ immerhin noch 15.500 Übernachtungen. „Ein Grund könnte sein, dass die ‚Bibby Challenge‘ damals einen großen Schlafsaal hatte, der sehr beliebt war“, so Ingwersen. „Es gab dort insgesamt mehr Platz für den Einzelnen.“ Doch auch das könnte ein Grund für sinkende Zahlen sein, wird in der Szene vermutet: In den vergangenen Jahren hätten Drückerkolonnen das Winternotprogramm der Wohnschiffe missbraucht, um ihre Mitarbeiter kostenlos unterzubringen. In diesem Jahr müssen die Männer auf dem Wohnschiff ihre Ausweise vorzeigen. Es sollen nur noch wirkliche Obdachlose an Bord. Selbst zum Ende des Programms im April seien die Belegzahlen noch immer sehr hoch gewesen. „Das liegt“, so Ingwersen, „auf jeden Fall an dem langen Winter, den wir dieses Jahr hatten.“

Zu einer anderen Bilanz kommen dagegen die Mitarbeiter der Tagesaufenthaltsstätte Bundesstraße, die die Containerplätze vermittelt hat: „Der Andrang war riesig“, sagt Mitarbeiterin Rika Klauzsch. „Am Anfang standen die Männer bis auf die Straße hinaus Schlange. Wir haben absolut steigende Zahlen und hätten noch mehr Kapazitäten gebraucht. Sowohl beim Winternotprogramm als auch bei der Essensausgabe: Zum ersten Male haben wir über das Jahr gesehen mehr als 20.000 Essen ausgegeben.“

Auch Peter Lühr, der Leiter der Beratungsstelle für Haftentlassene in der Kaiser-Wilhelm-Straße, sieht wenig Anlass zu Optimismus: In Hamburg werden täglich fünf Strafgefangene aus der Haft entlassen, die keine Wohnung haben, so Peter Lühr. Die Chancen für diese Männer, in absehbarer Zeit in eine eigene Wohnung zu kommen, hätten sich drastisch verschlechtert. „Die Stadt gibt gern Menschen zu uns in die Haftanstalten ab“, sagt Peter Lühr, „aber wieder nehmen will sie sie nicht.“

Petra Neumann

Nr. 1: Mehr Betten für kranke Obdachlose

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Darum geht es:

Wer Fieber hat, gehört ins Bett. Für Menschen, die auf der Straße leben müssen, gelten andere Gesetze: Sie können sich nirgends auskurieren, ob bei Grippe oder offenen Beinen. Denn ein Fall fürs Krankenhaus ist das nicht. Zwar betreibt die Caritas eine Krankenstube für Obdachlose. Aber die hat nur 14 Betten – viel zu wenig für die mindestens 1281 Menschen, die laut der jüngsten Zählung der Sozialbehörde auf der Straße leben. Pflegedienstleiter Klaus Scheiblich: „Wir sind immer überbelegt.

Die Situation heute:

Obdachlose, die ein Bett ergattert haben und gepflegt werden müssen, sind trotzdem nicht aus dem Schneider. „Die häusliche Krankenpflege ist an die Bedingung geknüpft, dass es einen Haushalt gibt“, erläutert AOK-Sprecherin Renate Hillig die aktuelle Gesetzeslage. Diese wird strikt ausgelegt: Selbst Kassen-Mitglieder, die lange in einem Nachtasyl wie dem Pik As oder in einem Hotelzimmer leben, aber keine eigene Küche haben, haben bei schweren Krankheiten keinen Anspruch auf häusliche Pflege – ein Umstand, den laut Hillig auch manch Senior in einem Altenheim zu spüren bekommt.

Auch Obdachlose, die nicht krankenversichert sind und für deren Behandlungskosten eigentlich das Sozialamt aufkommt, gehen nach dieser Definition leer aus: „Krankenhilfeleistungen sind laut Gesetz entsprechend den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu entrichten“, sagt die Sprecherin der Sozialbehörde, Anika Wichert, und gesteht: „Da gibt es eine Lücke.“

Pflegen & wohnen (p&w), Betreiber der Übernachtungsstätte Pik As, führt derzeit Gespräche, um Pflegekosten in den Übernachtungsstätten erstattet zu bekommen. „Der Bedarf ist da“, so Sprecher Kay Ingwersen. „Es ist immer ein fürchterlicher Kampf um den Einzelfall“, ergänzt ein ehemaliger Sozialarbeiter.

Immerhin: Die Sozialbehörde unterstützt die Krankenstube für Obdachlose mit 280.000 Euro jährlich, 230.000 Euro beträgt schon heute der Eigenanteil der Caritas. Die Krankenkassen zahlen nichts, dabei waren laut Caritas allein im vergangenen Jahr 27 Prozent der Krankenstuben-Patienten bei der AOK versichert. Eine vom Hamburger Diakonischen Werk 2002 vorgelegte Studie belegt, dass sogar 60 Prozent der Wohnungslosen Mitglied einer Krankenkasse sind.

Die Zukunft:

Künftig wird alles noch schlimmer: Vom Jahr 2004 an brauchen auch diejenigen ein Bett, die sich bisher im Krankenhaus auskurieren konnten. Denn Krankenhäuser sind künftig gesetzlich verpflichtet, Behandlungen nicht mehr nach Krankenhaustagen, sondern nach so genannten Fallpauschalen (DRG) abzurechnen.

Das vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen überwachte System hat zum Ziel, Behandlungskosten bundesweit zu vereinheitlichen, Leistungen transparent zu machen und teure Liegezeiten im Krankenhaus zu verkürzen. Aus wirtschaftlicher Sicht und für das Gros der Patienten, die schneller nach Hause entlassen werden, um sich dort in vertrauter Umgebung auszukurieren, ist diese Regelung von Vorteil. „Für Obdachlose und alleinstehende Wohnungslose ist sie fatal“, so die Ärztin Dr. Frauke Ishorst-Witte, die in der Tagesaufenthaltsstätte Bundesstraße (TAS) eine Sprechstunde für Obdachlose anbietet. Sie müssen auf die Straße entlassen werden.

Eine soziale Indikation, die es Ärzten bisher erlaubt hat, auf Probleme eines Patienten einzugehen und ihn länger als aus medizinischer Sicht erforderlich im Krankenhaus zu behalten, ist künftig kaum mehr möglich. Aufwändige Gespräche und Zeitverluste, die durch wenig kooperative Patienten entstehen, können nicht abgerechnet werden. Obdachlose gelten aber als besonders schwierige – und somit künftig unwirtschaftliche Patienten.

Doch darf Wirtschaftlickeit auf Kosten der Patienten gehen? Für Lungenentzündung hat eine US-Studie vor und nach Einführung der Fallpauschalen ergeben, dass die Verweildauer im Krankenhaus tatsächlich um 35 Prozent zurückging, die Sterblichkeit dort um 15 Prozent sank und die Krankenhauskosten um 25 Prozent. Dafür aber stieg die Sterblichkeit außerhalb des Krankenhauses innerhalb der ersten 30 Tage um 35 Prozent.

„Es ist notwendig, das ambulante System jetzt schon auszuweiten“, so Dr. Ishorst-Witte – und auf finanziell sichere Beine zu stellen. Denn: „Wohnungslose haben so viele Probleme, da sind manche selbst mit der regelmäßigen Einnahme ihrer Medikamente überfordert.“ Die Ärztin plädiert für eine stärkere Vernetzung zwischen niedergelassenen und Krankenhausärzten und der Obdachlosenhilfe: „Ärzte sollten sich mit der Caritas-Krankenstube in Verbindung setzen und, wenn die kein Bett haben, zumindest die Mobile Hilfe oder die TAS informieren.“ Manch Rückfall oder Krankenhausaufenthalt, der wegen Verschleppung einer Krankheit nötig wird, könnte vermieden werden.

Schon heute liegt die Lebenserwartung Obdachloser bei nur 44,5 Jahren, so eine Studie des Instituts für Rechtsmedizin an der Hamburger Uniklinik. Das sind 30 Jahre weniger als der Bevölkerungsdurchschnitt in Deutschland.

So sollte es laufen:

– Mehr Krankenstuben-Betten für Obdachlose, wo geschultes Personal auch mit schwierigen Patienten umzugehen weiß.

– In Übernachtungsstätten muss häusliche Pflege möglich sein und finanziert werden.

– Krankenkassen und Sozialbehörde müssen auch bei Obdachlosen die Kosten für häusliche Pflege übernehmen.

– Stärkere Vernetzung zwischen niedergelassenen Medizinern, Krankenhausärzten und der Obdachlosenhilfe.

Annette Bitter