Holocaust-Überlebender : Erzählen, um auszuhalten

Bewegtes Leben: Die Liebe hat den Holocaust-Überlebenden Leon Shulkin gerettet. Foto: Dmitrij Leltschuk

Die Nazis haben Leon Shulkin alles genommen: seine Familie, seine Heimat, seine Zukunft. Doch sie haben den Mann aus Minsk nicht brechen können. Die Geschichte eines bewegten Lebens – nominiert für den INSP-Award.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Leon Shulkin drückt zu, quetscht förmlich die Hand von Fotograf Dmitrij Leltschuk. Dass hier bloß kein Missverständnis aufkommt: Dieser 93-jährige Mann hat noch Kraft. Er hat kaum noch eigene Zähne, er hört schlecht, aber er ist noch voll da. Das ist ihm wichtig. Denn Leon Shulkin, der wie Dmitrij aus Minsk kommt, will seine Geschichte erzählen, am liebsten immer wieder. Die Geschichte seines Überlebens. Als eine Methode, um all die Menschen am Leben zu erhalten, die im Holocaust umgekommen sind. Das Erzählen ist sein Ventil, um auszuhalten, was man eigentlich nicht aushalten kann. Und am liebsten hätte er es, wenn so viele wie möglich zuhörten.

Deswegen ist er auch ein bisschen enttäuscht. Der Fotograf und die Journalistin, die ihm im Hamburger Hotel gegenübersitzen – sie sind gar nicht vom „Spiegel“. Sie kommen von einem Magazin, das nur in Hamburg gelesen wird und dessen Namen er nicht mal aussprechen kann. Sie wollen mit ihm sprechen, weil er einer der letzten Zeugen ist.

Leon Shulkin überlebte 13 Konzentrationslager. Seine Verwandten sind, sofern er überhaupt noch welche hat, in der ganzen Welt zerstreut, auch in Hamburg. Er selbst lebt jetzt am anderen Ende der Welt – von Minsk aus betrachtet –, in Melbourne.

„Wenn Gott Manager wäre, wäre er längst gefeuert.“– Leon Shulkin

„Die Menschen glauben einfach nicht, was ich erzähle“, unterbricht er sich immer. Denn wenn sie es glaubten, davon ist er überzeugt, dann dürfte es doch keine Gewalt mehr geben, keinen Hass auf Menschen, nur weil sie anders sind oder einer bestimmten ethnischen Gruppe angehören. Ein Thema, das gerade wieder topaktuell ist. In seinem Fall, weil er Jude ist. Obwohl: Er glaubt nicht an einen Gott, hat es nie getan. Denn wenn es ihn gäbe, Gott, sagt Leon Shulkin, dann hätte er nie zugelassen, was auf der Welt passiert. „Und wenn Gott Manager wäre, wäre er längst gefeuert worden.“ Er sagt das wütend, auf eine Art routiniert. Das soll ein Witz sein, nur, dass er nicht lustig klingt.

1923 wurde Ljowa Shulkin, so heißt Leon eigentlich, in Minsk geboren. Seine Mutter erzählte ihm als Kind immer wieder eine nette – im Nachhi-nein makabre – Anekdote über seine Geburt. Er kam zwar mit einem dunklen Haarflaum auf die Welt, hatte aber ein Büschel weißer Haare am Hinterkopf. Die Hebamme war begeistert: „Er wird der Glücklichste in der ganzen ­Familie sein“, sagte sie. Im Hamburger Hotel und 93 Jahre später treten Leon Shulkin die Tränen in die Augen. Er hatte wirklich am meisten Glück. Denn alle anderen, seine Mutter, sein Bruder und seine vier Schwestern wurden von den Nazis ermordet.

Im Juni 1940 besetzten die Deutschen Minsk und errichteten im Nordwesten der Stadt ein Getto. Auch Ljowa, seine Eltern und Geschwister wurden 1941 zwangsumgesiedelt. Da half auch der Sonderstatus von Ljowas Vater nicht: Er kam kriegsversehrt aus dem Ersten Weltkrieg wieder.

Nominiert für den INSP-Award

Dieser Artikel aus unserer Januar-Ausgabe steht in der Kategorie „Best News Feature“ auf der Shortlist für den diesjährigen Award des internationalen Straßenzeitungsnetzwerks INSP. Außerdem nominiert sind Texte aus Faktum (Schweden), Sorgenfri (Norwegen), Surprise (Schweiz) und The Big Issue Korea. Der Gewinner wird Ende August auf dem jährlichen Treffen der Straßenzeitungen in Manchester gekürt.

Immerhin: „Damals waren wir noch alle zusammen“, sagt Leon. Auch seine Schwester Leeza und ihr Mann Semjon und ihre kleine Tochter Sonia.Das Minsker Getto bestand aus zwei Teilen: Im einen lebten die russischen Juden, im anderen wurden immer mehr deportierte Juden aus Deutschland und der Tschechoslowakei einquartiert. Niemand durfte ohne Erlaubnis das Getto verlassen. Wer es nur versuchte, wurde eingesperrt – oder schlimmer: getötet.Wie Fanya, Ljowas Schwester.

1942 starb Ljowas Vater. Wenig später wurde Ljowas jüngerer Bruder Zala dabei erwischt, wie er Lebensmittel ins Getto schmuggelte. Auch er blieb verschollen.

Eines Tages veranlassten die Deutschen wieder eine Säuberungsaktion im Getto. Alle, die außerhalb arbeiteten, wie Ljowa und seine Schwester Manya, durften vier Tage das Getto nicht betreten. Als sie zurückkehrten, war das Haus leer. Der Schrubber, mit dem seine Mutter den Boden wischen wollte, stand noch in der Ecke. Als Ljowa klar wurde, dass seine Familie weg war, brach er auf dem Fußboden zusammen. Immerhin: Seine Schwestern Leeza und Manya, Semjon und die kleine Sonia waren noch da.

Zwischen den Juden aus Minsk und den Juden aus Deutschland gab es ein absolutes Kontaktverbot. Aber wer arbeitete, wurde in Lastwagen vom Getto zur Arbeit gefahren. Dabei lernte Ljowa Friedel kennen, sie stammte aus Ostfriesland. Sie lächelten sich immer wieder an. Er spürte, dass sie sich in ihn verguckt hatte.

„Ich will da sein, wo Ljowa ist“, flehte Friedel den Lagerleiter an.

Etwas später wurde Ljowa interniert, weil er auf dem Schwarzmarkt irgendwelche Gegenstände gegen Lebensmittel tauschen wollte. Nicht nur seine Schwestern machten sich Sorgen um ihn, sondern auch Friedel. Sie schaffte es, zum Lagerleiter vorgelassen zu werden. „Bitte lassen Sie mich hierbleiben“, flehte sie ihn an. „Ich will da sein, wo Ljowa ist.“ Der Mann war immerhin so ergriffen von Friedels Worten, dass die beiden sich kurz sehen durften. Aber dann musste sie gehen. Ljowa und sie versprachen sich noch, dass sie sich nach dem Krieg in Friedels Heimatstadt treffen würden. Wenn sie überleben würden …

Aber dann wurden alle deportiert. Alle in unterschiedliche Lager. Ljowas Rest-Familie wurde auseinandergerissen. Auch Friedel wurde verschleppt. „Ich habe keinen von ihnen wiedergesehen“, sagt Leon in Hamburg. Auch nach so vielen Jahrzehnten spürt man seinen Schmerz. Er zeigt uns seinen Arm. „KZ“ ist darauf tätowiert.  Keine Nummer. „Das gab es nur in Auschwitz“, sagt er, „ich war zwar in 13 KZs, aber eben nicht in Auschwitz. Dann säße ich jetzt vermutlich nicht hier.“

Aber wie hat er die Camps überlebt, psychisch und physisch?  „Ich habe oft russische Lieder gesungen“, sagt er. Gegen die Angst und um sich zu trösten. Die polnischen Wärter liebten seine Lieder. Sie schenkten ihm dafür oft einen Brotkanten. Aber natürlich war es nicht ganz so romantisch. „Sie hielten mich mit einem Minimum an Essen am Leben, weil ich mich mit Elektrik auskannte und die deutschen Flugzeuge warten konnte. Wir wurden am Leben erhalten, weil sie uns brauchten“, sagt er bitter. „Aber behandelt wurden wir oft schlimmer als ein Hund. Obwohl …“ Er korrigiert sich: „Sie liebten ihre Hunde. Sie behandelten sie wie Menschen und uns wie Tiere.“

Leon Shulkin will erzählen, um die Erinnerungen an all die wachzuhalten, die gestorben sind. Foto: Dmitrij Leltschuk

Wenn er erzählt, wechselt er manchmal vom Englischen ins Russische und wieder zurück. Manchmal merkt man es gar nicht, weil er das Ganze so erzählt, als erlebe er es noch einmal – und seine Zuhörer mit ihm, wie in einem Film. Und Fotograf Dmitrij übersetzt. Die Zeiten und Lager verschwimmen für uns. Aber kommt es darauf an?

In einem Lager sitzt er ausgehungert und todmüde an einem Flugzeug, das er warten soll – und schläft ein. Wacht erst wieder auf, als ihm ein Arbeiter mit einem Brenner im wahrsten Sinne des Wortes Feuer unterm Hintern macht. „Das hat furchtbar wehgetan. Ich habe dem Mann gesagt, dass ich nicht mehr kann. Aber der sagte, er würde mich wegen Sabotage melden, wenn ich nicht sofort weitermachen würde.“

Wenn man sich vorstellt, dass Menschen jahrelang von einem Lager, sogar von einem Land ins andere geschafft wurden. Tausende von Kilometern. Russland, Polen, Deutschland. 1945 landete Ljowa  Shulkin schließlich in einem Lager im niederbayrischen Ganacker. Jetzt mischen sich auch deutsche Brocken in seine Erzählung. Es gab Gerüchte, dass die Russen kommen. Morgens um vier Uhr wurden die Gefangenen geweckt und aus dem Lager getrieben. „Schnell!“, brüllten die Wärter.

Mit dem Gewehrlauf im Rücken wurden die apathischen Gefangenen weitergetrieben. „Wer sich bückte, um aus einer Pfütze zu trinken, oder zu langsam war, bekam eine Kugel in den Kopf.“ Plötzlich ein neuer Befehl: „Hinsetzen!“ Ljowa und die Mitgefangenen gehorchten. „Das ist das Ende, dachten wir“, sagt Leon. „Wir saßen im Kreis und haben voneinander Abschied genommen.“ Dann wurden sie in Gruppen aufgeteilt und sollten mit ihren Wärtern in unterschiedliche Richtungen fliehen.

Ljowa beschloss zu fliehen. Sein polnischer Freund Henry hatte Angst. „Wovor?“, fragte Ljowa. „Was ist die Alternative?“ Also kam Henry mit. Sie versteckten sich im Wald. Sie hatten Angst, aber da war noch ein neues Gefühl: „Das erste Stückchen Freiheit – seit vier Jahren.“

Von der Straße hörten sie die Jeeps der Russen. Dachten sie zumindest. ­Irgendwann trauten sie sich raus. Entdeckten ein Haus, in der Küche saß eine Frau mit ihren zwei Kindern. „Das könnte eine Chance sein“, dachte Ljowa. „Ein Mann würde uns sofort anzeigen, aber eine Frau hat vielleicht ein Herz.“ Sie klopften. Und tatsächlich. Die Frau sah zwar sofort, dass sie Häftlinge waren und war total verängstigt, gab ihnen aber trotzdem zu trinken und sogar etwas zu essen.

Sie mussten weiter. Kamen zu einem Bauernhaus. Der alte Bauer sah sofort, dass sie KZ-Insassen waren und wollte sie wegschicken. Inzwischen kamen die Detonationen immer näher. Ljowa überredete den Bauern, sie aufzunehmen: Jetzt, wo die Russen kommen, könnte es ja für ihn ein Vorteil sein, wenn er einen Russen und einen Polen beherbergte. „Wir werden sagen, dass Sie uns gut behandelt haben.“ Der Bauer nahm sie tatsächlich auf. Sie bekamen Brot und Milch und machten sich in der Scheune im Heu ein Bett.

Ins Haus dürften sie nicht, sagte der Bauer. Dort lag sein Sohn, der schwerverletzt aus dem Krieg gekommen war. Entkräftet wie sie waren, arbeiteten sie mit auf dem Feld, wie die anderen. Der Bauer hatte ihnen sogar andere Kleidung besorgt.

Die Russen kamen. Nur: Es waren keine Russen. Auch keine Deutschen. Dass es Amerikaner waren, erkannte Ljowa daran, dass einer der Offiziere eine sechseckige Brille trug. Und so eine Brille hat er nur einmal gesehen: auf einem Foto, das einen Onkel zeigte, der nach Amerika ausgewandert war. Ein Jeep hielt direkt vor dem Bauernhaus. Ljowa und Henry gingen sofort zu den Männern, erzählten ihre Geschichte. Und plötzlich änderte sich alles. „Es waren so freundliche Männer, so etwas hatten wir seit Jahren des Elends nicht mehr erlebt.“

Die Amerikaner ordneten an, dass Ljowa und sein Freund je ein Bett bekommen sollten – im Haupthaus. Und dass sie vorläufig nicht mehr arbeiten sollten, um wieder zu Kräften zu kommen. Es war Juni 1945, und der Krieg war offiziell beendet.

Kurze Zeit später erfuhren sie von ihrem Bauern, dass in der kleinen Nachbarstadt Eggenfelden einige Holocaust-Überlebende untergekommen seien, die von der US-Armee unterstützt würden. Auch Ljowa und Henry zogen nach Eggenfelden, versuchten, sich im Leben wieder zurechtzufinden. Die beiden machten einen kleinen Elektrohandel auf. Henry heiratete eine Überlebende. Sie alle blieben bis 1949 in Eggenfelden.

Ljowa spielte mit anderen Überlebenden regelmäßig Fußball. Auf einem Lastwagen fuhr seine Mannschaft nach Frankfurt zu einem Turnier. Die Trikots der Spieler waren von der Fahrt so staubig, dass der Gastgeber ein Mädchen anwies, eine Kleiderbürste zu holen.

Ljowa und Ruth guckten sich unverwandt in die Augen.

Das Mädchen kam wieder, überreichte Ljowa die Kleiderbürste. Die beiden sahen sich an. Guckten sich unverwandt in die Augen. Das Mädchen hieß Ruth. Aber abends fuhren die Fußballer wieder nach Eggenfelden. Ljowa konnte das Mädchen mit der Kleiderbürste nicht vergessen. Aber er hatte andere Sorgen.

Stalin hatte vertraglich zugesichert, dass alle überlebenden russischen Juden aufgenommen würden. Ljowa wollte auf keinen Fall zurück nach Minsk, er hatte Horrorgeschichten gehört: dass Rückkehrer als Verräter abgestempelt und deshalb wieder interniert und  nach Sibirien geschickt oder gar erschossen würden. Zusammen mit Henry und dessen Frau wollte er deshalb in die USA auswandern.

Er brauchte jemanden, der ihn einlud. Aber er hatte nur noch einen Verwandten: den Onkel mit der sechseckigen Brille, der um die Jahrhundertwende ausgewandert war. Den kannte er eigentlich gar nicht, er wusste noch nicht mal, wie er richtig hieß. Aber tatsächlich konnte der Onkel ausfindig gemacht werden. Der wusste zwar nicht wirklich, wer der Neffe war, lud ihn aber trotzdem ein. Ljowa und Henry schafften es wirklich: Die beiden Freunde machten sich 1949 auf die Reise.

„Wie heißen Sie?“, fragte der Beamte bei der Einwanderung irritiert. „Lover?“ Für ihn hörte sich „Ljowa“ wie das englische Wort „lover“ (Liebhaber, Geliebter) an. „Nenn dich lieber Leon“, riet ihm sein Onkel. „Ljowa führt doch nur zu Missverständnissen.“

Dass Leon wieder lieben konnte, hat ihn gerettet.

Henry bezog mit seiner Frau eine Wohnung in New York, Leon wohnte am anderen Ende der Stadt. An einem Wochenende lud Henry seinen alten Freund ein. Als Henry die Tür öffnete, sah Leon im Zimmer ein Mädchen sitzen. „Es war Ruth“, sagt Leon und lächelt in der Erinnerung glücklich. „Das Mädchen aus Frankfurt.“ Sie war damals 19, er 26. Sie wurden schnell ein Paar. 1950 heirateten sie, 1952 wurde ihre Tochter Diane geboren, 1957 ihr Sohn Joel.

Leon ist der Einzige in seiner Herkunftsfamilie, der überlebt hat. Aber er kann wieder lieben. Das hat ihn gerettet. Die nächsten 50 Jahre im Zeitraffer: Materiell ging es bergauf. Er konnte in der Büstenhalter-Fabrik anfangen, in der Ruth arbeitete – als Hausmeister. Und er arbeitete sich hoch zum General Manager.

32 Jahre bleibt er in den USA, wird amerikanischer Staatsbürger. Inzwischen lebt er in Melbourne in Australien, wo Joel mit seiner Familie wohnt.

Mehr als zwei Stunden sind vergangen. Leon Shulkin ist etwas erschöpft. Und hat noch ein Essen mit der Familie vor sich. Dem Hamburger Teil. Denn er hat doch noch Überlebende gefunden: Semjons Tochter und seine Familie haben überlebt und sind 1995 nach Hamburg gezogen. „Familie“, sagt Leon Shulkin. „Das bedeutet mir alles.“

Seit 1960 reist er durch die Welt, um Verwandte zu besuchen. Vielleicht ist es seine letzte Reise nach Minsk und Hamburg. Zu Hause in Melbourne hat er ein großes Haus. „Aber dort lebt niemand mehr außer mir“, sagt er. Ruth ist vor zwei Jahren mit 84 Jahren gestorben. Seine Tochter lebt in New York.

„Im Haus ist es leer“, sagt er. Aber sein Sohn Joel, der ihn auch nach Hamburg begleitet hat, und seine Familie sind da. Und – unter anderen – seine Enkelin Leeza. „Sie hat den gleichen Namen wie meine große Schwester – und sie ist so schön, wie sie es war“, sagt Leon. „Ich vermisse sie alle immer noch so sehr. Und ich werde keinen von ihnen vergessen.“

Autor:in
Birgit Müller
Birgit Müller
Birgit Müller hat 1993 Hinz&Kunzt mitgegründet. Seit 1995 ist sie Chefredakteurin.

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