Die mit dem Herzen sehen

Wer sich im Stadthaushotel einquartiert, erfährt fröhliche Zuwendung bei bestem Service. Klitzekleine Katastrophen inbegriffen

(aus Hinz&Kunzt 155/Januar 2006)

Nikolai Gramüsch ist eigentlich ganz normal. Der 18-Jährige ist mittelgroß, hat sein braunes Haar nach hinten gegelt und sieht einen freundlich an. Ein ganz normaler Mensch? Ja, nur dass er schwerbehindert ist.

Er leidet am Tourette-Syndrom und an ADS, dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Nikolai ist jemand, der nirgendwo richtig reinpasst. Er hat etliche Schulen besucht, dann wurde ihm geraten, auf eine Förderschule zu gehen, doch geistig kann Nikolai viel mehr. Eine Bäckerausbildung hat er angefangen, allerdings gab es Probleme mit seinem Chef. Schließlich hat Nikolai ein Praktikum im Stadthaushotel in Altona absolviert und dort einen Ausbildungsplatz bekommen. Zwei Jahre lang lernt er nun, um „Fachkraft im Gastgewerbe“ zu werden. Wenn er möchte, kann er ein drittes Jahr dranhängen: und aus der „Fachkraft“ wird ein „Fachmann“.

Um 8.30 Uhr beginnt sein Acht-Stunden-Tag; wenn er Frühschicht hat, um 7 Uhr. Jeden Tag übernimmt er andere Aufgaben: Mal ist er fürs Putzen der Bäder zuständig, mal übernimmt er seine Lieblingsarbeit, den Zimmerservice. Vielleicht stehen auch Aufgaben in der hauseigenen Wäscherei an. Oder Bestellungen entgegennehmen. Oder einkaufen.

Im Stadthaushotel arbeiten Menschen mit Handicaps Hand in Hand mit ehemaligen Drogenabhängigen und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien – ein europaweit einzigartiges Projekt. Laut Geschäftsführer Christian Wagner ein Erfolg auf ganzer Linie: „Alle profitieren davon.“ Die Auslastung steigt, vergangenes Jahr bekam das Hotel drei Sterne – und unzählige Bewerbungen.

Das Haus ist barrierefrei gebaut, sieben der 13 Zimmer sind rollstuhlgerecht eingerichtet. Im Sommer wird das Café um den Innenhof erweitert. Es herrscht eine fröhliche Atmosphäre, denn die Behinderten sind keineswegs kontaktscheu. Beim Frühstück wird viel miteinander geredet. Hier muss niemand eine Rolle spielen, sondern kann ganz er selbst sein.

Das ist besonders wichtig bei Menschen mit Down-Syndrom, denn sie fühlen, ob ein Gesprächspartner sich verstellt. So wie Claudia Petersen. Die 34-Jährige kümmert sich heute um die ankommenden Gäste. Freudestrahlend wird man begrüßt, die Herzlichkeit zaubert einem ein Lächeln auf die Lippen, und man fragt sich: Wann wurde ich das letzte Mal so in einem Hotel empfangen?

Wenn Claudia Petersen Frühdienst hat, herrscht beste Stimmung: Sie sorgt für Gespräche zwischen den Gästen, verbindet mit ihrer natürlichen Freundlichkeit Unbekannte für ein Frühstück lang. „Die meisten fühlen sich wohl bei uns und kommen wieder“, so Christian Wagner. Neulich hat eine komplette Hochzeitsgesellschaft die Räume gemietet, erzählt Nikolai.

„Wir sind eigentlich das einzige normale Hotel“, sagt Christian Wagner. „Unsere Mitarbeiter sehen mit dem Herzen!“ Der gelernte Hotelbetriebswirt hatte sich auf eine Stellenanzeige beim Stadthaushotel beworben. Zuvor hatte er in Fünf-Sterne-Hotels im mondänen St. Moritz oder im Kempinski in Frankfurt gearbeitet. Doch nach drei Jahren im Stadthaushotel weiß er: „Hier möchte ich nicht mehr weg!“

Jeden Tag wird er von den Fähigkeiten seines Teams überrascht; jeden Tag gilt es, kleine Katastrophen zu verhindern. Denn die Mitarbeiter brauchen feste Strukturen, was zum einen vorteilhaft ist, zum anderen aber eine gewisse Spontaneität verhindert. Die Check-Out-Zeit zum Beispiel liegt bei elf Uhr. Ist der Gast um 11.30 Uhr allerdings noch immer im Zimmer und ein Mitarbeiter möchte es säubern, so ist ein Wutanfall nicht ausgeschlossen. Christian Wagner muss dann so schnell wie möglich eine Lösung finden.

Bewerbungen beim Stadthaushotel gibt es viele, doch das neunköpfige Personal reicht für die 13 Zimmer vollkommen aus. So lag die Eröffnung eines neuen Hotels nahe, und tatsächlich ist es auch schon in Planung: in der HafenCity, mit 80 Zimmern und 90 Arbeitsplätzen. Es soll ebenfalls barrierefrei gebaut werden, so dass auch größere Gruppen von Rollstuhlfahrern Platz finden. Unterstützt wird das Projekt von Prominenten wie Henning Voscherau, Hellmuth Karasek und Samy Deluxe mit der Werbekampagne „Ich will, dass es wahr wird!“ In zwei bis drei Jahren soll das neue Haus eröffnen.

Die Beschäftigten machen Mittagspause. Außer Nikolai und einem anderen Azubi haben alle einen Halbtagsjob, aufgeteilt in Früh- und Spätschicht. Nikolai hat sich eine Pizza gemacht, Claudia Petersen isst einen Apfel. Sie ist momentan auf Diät, und Christian Wagner sagt: „Claudia, jetzt musst du willensstark sein.“ Und Claudia ist willensstark. Sie erzählt uns von ihrem Mann Sönke, der auch hier arbeitet und den sie hier kennen gelernt hat. Seit sieben Jahren sind sie nun verheiratet und wohnen ein paar Häuser weiter in ihrer eigenen Wohnung. Claudia Petersen ist stolz, denn sie und ihr Mann sind unabhängig, verdienen ihr eigenes Geld. Wie normale Leute. Und auch nach sieben Jahren sind die beiden noch glücklich – und fröhlich. Dafür gibt es aber auch eine Zauberformel, erzählt Claudia. „Nach der Arbeit immer raus an die frische Luft!“

An der Rezeption liegt ein Gästebuch. In einem der Einträge heißt es: „Dem Leben Farbe geben, wie einfach das sein kann, das haben wir hier eindrucksvoll erlebt!“

Autoren: Lisa Haarmeyer, Florian Hesse

Das Stadthaushotel ist auf den ersten Blick ein normales, sehr familiär geführtes Haus. Dahinter verbirgt sich „Europas berühmtestes Integrationshotel“. 1987 gründen die Eltern von acht behinderten Kindern den Verein Werkstadthaus. Sie wollen ihren Kindern auch im Erwachsenenalter eine dauerhafte Verbindung von Arbeit und Wohnen ermöglichen.

Nach jahrelangem Kampf wird das Projekt 1993 mit eigenem Geld und Fördermitteln der Stadt realisiert. Über dem Hotel, das anfangs nur neun Zimmer umfasst, entsteht bald eine Wohngemeinschaft für die Mitarbeiter, die – anders als in Behindertenwerkstätten – Tariflohn erhalten. Als nach einiger Zeit die Fördergelder auslaufen, können die Eltern das Hotel finanziell nicht mehr halten.

Da hilft der Zufall: Der Verein „jugend hilft jugend“ plant nebenan ein Cafe, um ehemalige Drogenabhängige in den Arbeitsalltag einzugliedern. Beide Träger schließen sich zusammen. Das Ergebnis: ein Neubau mit weiteren rollstuhlgerechten Zimmern, Wohnungen für Mitarbeiter und dem „Café MaxB.“ entsteht. Hier arbeiten Behinderte, Ex-Junkies und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien gemeinsam.

Holstenstraße 118, Tel. 040/38 99 20-0 oder unter www.stadthaushotel.com

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