Barmbeker Zeitansage

Kleiner Park zwischen großen Straßen: Begegnung mit Zwei- und Vierbeinern am Biedermannplatz

(aus Hinz&Kunzt 142/Dezember 2004)

Die Uhr steht noch auf Sommerzeit. In großer Höhe hängt sie da am oberen Ende des Kirchturms, der zu einem monströsen Bau aus dunkelrotem bis schwarzen Backstein gehört. Seit dem Sommer ist die Bugenhagenkirche geschlossen und steht leer. Laub und mürbes Papier haben sich im Eingangsbereich verfangen und werden dort das Frühjahr erleben.

Jemand hat mit Filzstift etwas auf die Kirchentür geschrieben: „Welches Arschloch hat euch gesagt, dass ihr zu zweit allein leben sollt?“ Bestimmt ist der Verfasser dieser Worte geschieden. Seit kurzem. Nun unterhaltspflichtig. Schütteres Haar, hagere Statur, ein Mann natürlich. Frauen schreiben solchen Quatsch nicht.

Aber es passt zu Barmbek-Süd. Zu diesem verbeulten, zerstückelten Viertel zwischen Mundsburg, Dehnhaide und der Jarrestadt. Nie ist es still. Jede Menge vierspuriger Straßen durchschneiden das Quartier. Die Ampeln machen den Fußgängern Beine. Eine Art Ruhepol ist der Biedermannpark südlich der Weidestraße, der offiziell nicht so heißt, aber an beiden Seiten von Straßen eingerahmt wird, die je für sich wiederum „Biedermannplatz“ genannt werden. Merkwürdig. Unge-wöhnlich auch die Anlage des Parks: elliptisch die Form, geht es leicht eine Senke hinab, in der Mitte eine Ringmauer aus ebenfalls dunklem Backstein. Dazu kleine Sitzecken, auch sie von Backsteinmäuerchen eingefasst. Im hinteren Teil ein Teich, in dem Sumpfgras steht. Ein paar hohe Bäume drum herum, auf denen Krähen warten.

Eine ältere Frau betritt den Park. Sie hat die Schultern hochgezogen, den Kragen hoch geschlagen. Ein blaues Halstuch lugt keck hervor. An ihrer Rechten hält sie eine rote Leine, am Ende ein weißer Hund, Marke West Highland White Terrier. Weiß wie frisch gewaschen und gut gelaunt, springt er an einem hoch, obwohl er das natürlich nicht soll. „Nein“, sagt Frau Wruck und schaut verlegen drein. Sie weiß nicht, warum der Biedermannplatz Biedermannplatz heißt. „Nun geh ich schon so lange hier spazieren, da müsste ich das doch eigentlich wissen, oder?“ Aber dort, wo der Park ausläuft, da gebe es ein Straßenschild mit Informationen drauf. „Also, das heißt hier alles nach diesem Herrn Biedermann. Aber wer das war…?“

Wir kommen ins Plaudern. Sie wohnt hier in der Gegend schon seit mehr als 40 Jahren. Selbst Jahrgang 1930. Eigentlich kommt sie aus dem Memelland. War das schön da! Und immer waren sie draußen. Aber 1944 kam der Russe, und alles war verloren. Vor vier Jahren war sie mit ihrer Schwester noch mal da, mit dem Flugzeug sind sie hin. Sie haben nur geweint. Na ja. Aber schön sei der Park, auch wenn es heute so garstig nasses Wetter sei, das einem durch und durch gehe. Sie dreht jetzt hier ihre Runde, und geht man südwärts über die Straße, folgt noch ein Grünstreifen und noch einer, bis man an der Hamburger Straße steht: „Das letzte Stück Grün, das ist für mich der Karstadt-Park.“ Weil hier mal Möbel-Karstadt war. Ist jetzt auch geschlossen. Sie winkt ab. „Erst kamen die Einkaufszentren und haben die kleinen Geschäfte kaputt gemacht, nun gehen die großen Geschäfte, und was bleibt?“ Jedenfalls, wenn in den Nachrichten die Politiker anfangen zu reden, geht sie raus auf den Balkon. Auch dem Hund ist jetzt langsam langweilig. Hat alles abgeschnüffelt. Zieht an der Leine, will los. Heißt Locke und ist ein Rüde. Na, dann. Sie wünscht noch einen schönen Tag. Und Locke freut sich, dass es weiter geht, er in hohen Sätzen durch das Laub springen kann.

Der Park hat sich unterdessen belebt. Eine Kindergruppe hat sich über den Spielplatz verteilt. Die große Rutsche, die kleine Rutsche, die Sandkiste mit der Drehscheibe, wo einem so schön schlecht werden kann, wenn man zu lange darauf sitzt – belegt von ein, zwei, drei Kindern. In wattierten Hosen, dicken Jacken, Mützen und Handschuhen. Eine der beiden Erzieherinnen stellt ihren Rucksack an der Sandkiste ab, drapiert zwei flache Sitzkissen auf die Umrandung, stellt eine Flasche Wasser ab. „Wie viele Kinder hast du?“, ruft sie ihrer Kollegin an der großen, silberglänzenden Röhrenrutsche zu. Die schaut sich kurz um, reckt die Hand hoch. Fünf also. Elvira Schöneich zählt ihrerseits durch. Auf neun kommt sie, macht vierzehn. Sollen es auch sein. Sie kommen aus dem Kindergarten „Flohkiste“, ein paar Straßen entfernt. Im Sommer sei hier Remmidemmi! Alles voller Kinder, erst recht wenn die Pumpe läuft und man mit Sand und Erde und Wasser matschen kann. Zwei der Mädchen backen schon. Elvira Schöneich muss probieren. „Schmeckt lecker“, sagt sie. Die Mädchen trollen sich wieder in ihre Backstube. „Was hab’ ich das gehasst, dieses Rumstehen am Sandkasten und in Parks, als mein Sohn klein war“, sagt sie, „aber so als Job ist das toll.“ Sie schaut vergnügt in die Runde. Ein Höhepunkt des Tages sei das; wenn sie an die frische Luft gingen, sich austoben: „Wenn die Kinder den ganzen Tag drinnen hocken, ist schlechte Laune garantiert.“ Neulich haben sich ihre Kleinen ausgemalt, Vampire hätten den Spielplatz verwüstet. Was haben sie sich gefreut, als am nächsten Tag alles heile da stand!

Na klar, das Kita-Chaos. Kann einem gleichfalls den Spaß verderben. Sie war bei der Demo neulich, aber will jetzt erst mal Pause machen. „Man muss sich davor schützen, man kann das nicht unbegrenzt an sich heranlassen“, sagt sie. Und: „Der große Hammer kommt noch.“ Besonders gefallen hat ihr, wie Ole von Beust neulich gemeint habe, ein Kind mehr pro Gruppe, das dürfe doch kein Problem sein. Sie zählt wieder durch. Lautlos bewegen sich ihre Lippen. Alle da.

Es wird Zeit, sich das Straßenschild vorzunehmen, um zu klären, warum dieser Platz so heißt. „Biedermannplatz“ steht da in großen weißen Lettern und darunter kleiner: „Adolf Biedermann, 1881 bis 1933, Bürgerschafts- und Reichstagsabgeordneter“. Aber welcher Partei gehörte er an, und was geschah mit ihm? Adolf Biedermann war Mitglied der SPD, erklärter Nazigegner und wurde am 11. Mai 1933 in Recklinghausen neben den Bahngleisen ermordet aufgefunden. Von wegen, schlimm wurde es erst später, mit dem Krieg. 1947 wurde der Park nach ihm benannt, der vorher Schleidenplatz hieß, nach Matthias Jakob Schleiden; Botaniker und einer der ersten, der hierzulande die Evolutionstheorie Darwins anerkannte (danke, Internet).

Eine letzte Runde noch, es ist wirklich kalt, auch wenn die Sonne vorsichtig um die Ecke lugt. Ein Radfahrer eiert dick eingepackt vorbei. Grüßt nicht, guckt nicht. Die Kinder haben sich jetzt Stöcke gesammelt und dreschen auf die kleinere Rutsche ein, dass es weithin schallt. Und über allem wacht die Uhr, die unbeirrt falsch geht.

Frank Keil

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