Hamburg ist nicht Florida!

Ein Hinz&Kunzt-Kommentar

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Da einen zahlen brav ihre Steuern, und der Rolf lässt sich in Florida die Sonne auf den Pelz brennen und wirft noch ein paar Viagra ein, um den Anforderungen des wilden Lebens durchzustehen. Bezahlen lässt er sich das auch noch vom Sozialamt, von uns allen also. Rolf hat die Gemüter ganz schön in Wallung gebracht. Klar, kann man da angesichts der leeren Kassen ins Grübeln geraten.

Aber selbst Sozialbehördensprecherin Anika Wichert sagt: „Wir haben keinen Florida-Rolf!“ Und wir können nur aus Erfahrung sagen: Der Alltag unserer Leute sieht anders aus. Hamburg ist nicht Florida. Schon gar nicht im Obdachlosenbereich.

Neulich war beispielswiese unser Verkäuferbetreuer Jürgen Jobsen mit einem Hinz & Künztler beim Landessozialamt. An einem Montag Morgen, ganz früh haben sie sich angestellt. Und wurden weggeschickt. Nicht zum ersten Mal. Begründung: Die Sachbearbeiter wären noch dabei, die Fälle, die sich seit Mittwoch aufgestaut hätten, zu bearbeiten. Wieder einmal ist der Krankenstand im Sozialamt so hoch, dass eine geregelte Arbeit gar nicht zu denken ist. Beratung? Fehlanzeige. Eine unhaltbare Situation – für die Sozialhilfeempfänger und für die Mitarbeiter. Aber symptomatisch für die vergangenen Jahre. Ob’s spürbar besser wird mit den drei neuen Mitarbeitern, die jetzt anfangen?

Die Hoffnung auf eine große baldige Veränderung ist gerade geplatzt. Denn die Stärkung der Sozialämter in den Bezirken und die Einrichtung von Fachstellen, in denen Obdachlose und solche, die es werden könnten, aus einer Hand beraten werden sollen, ist verschoben. Ein Armutszeugnis, zumal eigentlich nicht nur die Regierungsparteien, sondern auch SPD und Grüne hinter dem Konzept stehen. Gemunkelt wird schon die ganze Zeit, dass Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) sich genauso die Zähne an der Wohnungswirtschaft ausbeißt wie ihre rote Amtsvorgängerin und wie letztendlich die gesamte Hamburger Sozialarbeit. Denn die Vermieter wollen sich nicht darauf verpflichten, genügend bezahlbaren Wohnraum für Obdachlose bereitzustellen.

Derweil fallen immer mehr Leute aus dem sozialen Netz. Bei der diesjährigen Besucher-Befragung in der Tagesaufenthaltsstätte Herz As kam heraus, dass inzwischen 15 Prozent der Besucher (2002: 10 Prozent) keinerlei Einkünfte mehr haben. Das heißt: Sie beziehen weder Stütze, Arbeitslosengeld noch Rente.

Vermutlich wird diese Zahl noch ansteigen. Die Sozialbehörde will jetzt flächendeckend denen die Stütze kürzen oder streichen, die keine – wie auch immer geartetet Arbeit – annehmen oder sich selbst nicht genug kümmern. Und das, ohne die Betroffenen vorher an soziale Jobagenturen zu überweise. Und das, obwohl die Sachbearbeiter kaum in der Lage sind, ihre Klienten zu beraten.

Die Schillianer wollen noch nachlegen und Kontrolleure zu allen Sozialhilfeempfänger schicken. Peter Schröder-Reineke (Diakonisches Werk) „regt das richtig auf“. „Wir haben eine Missbrauchsquote von zwei Prozent, da sind die Kontrolleure zig mal teurer als das, was durch ihre Arbeit eingespart wird.“ Viel gravierender findet er den Missbrauch, der durch die Ämter passiert. „Einer Menge Menschen werden ihre Rechte vorenthalten.“

Auch das Winternotprogramm mit rund 200 Schlafplätzen zusätzlich wird abgespeckt. Es läuft jetzt vier Wochen vorher aus zum 31. März. Fast sah es so aus, als würde es die Containerplätze bei den Kirchengemeinden nicht mehr geben. Das konnte abgebogen werden. Aber die Betreuungspauschale wird drastisch gekürzt.

Etwas Positives gibt es allerdings: Die Sozialbehörde will auch den Stützeempfänger Miete und Krankenversicherung weiter bezahlen, denen zeitweise die Hilfe gestrichen wurde. „Wir wollen nicht, dass noch mehr Menschen obdachlos werden“, sagt Behördensprecherin Annika Wichert. „Vor allem wenn Kinder im Spiel sind.“

Birgit Müller

Nr. 4: Kundenfreundliches Amt

Zehn Jahre Hinz & Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Darum geht es:

Sozialhilfeempfänger müssen oft stundenlang warten, bis ihnen geholfen wird. Sie bekommen ihren Sachbearbeiter nicht ans Telefon oder werden nur mangelhaft beraten. Anträge bleiben liegen, weil die Sozialämter überlastet sind. Die Mitarbeiter müssen zu viele Hilfeempfänger betreuen – und sollen jeden Euro dreimal umdrehen, bevor sie ihn bewilligen. Die Atmosphäre in den meisten Dienststellen ist abweisend, schon die Ausstattung der Räume signalisiert: Bürger, bleib lieber weg! Doch Sozialhilfe ist kein Almosen, sondern gesetzlich verbürgter Anspruch.

Der Hintergrund:

Rund 110.000 Menschen in Hamburg sind auf Sozialhilfe angewiesen. Die Sozialämter in den Bezirken sollen ihnen helfen. Betroffene klagen jedoch über ein zunehmend raues Klima. Der Umgangston werde immer unfreundlicher, Anträge würden Wochen und Monate lang nicht bearbeitet, Unterlagen mitunter verschwinden. Eine Gruppe Hamburger Hilfe-Empfänger („Initiative Projekt Class Action“) spricht von „massenhaften und staatlich organisierten Grund- und Menschenrechtsverletzungen“ mit dem Ziel, „Menschen von der Sozialhilfe fernzuhalten und dadurch Kosten einzusparen“. So habe zum Beispiel eine Kranke, die dringend einen Kühlschrank benötigte zur Aufbewahrung ihrer Medikamente, ein dreiviertel Jahr auf die Bewilligung ihres Antrags warten müssen. Die Initiative will die Hansestadt auf Basis von 80 dokumentierten Fällen vor einem US-amerikanischen Gericht verklagen.

Offensichtlich sollen immer weniger Sachbearbeiter immer mehr Notleidenden helfen. Statt 1300 Mitarbeitern 1992 sitzen heute nur noch rund 730 Kollegen in Hamburgs Bezirks-Sozialämtern, so ein Sachbearbeiter, der ungenannt bleiben möchte. „Seit Jahren herrscht Einstellungsstopp, die Kollegenschaft ist überaltert, bei vielen schwinden die Kräfte.“ Weiteres Problem: Wer einmal im Sozialamt arbeite, komme von dort nicht mehr weg. Die Folgen: hohe Krankenstände, oft wenig motivierte Sachbearbeiter, schlechte Betreuung der Hilfesuchenden. „Bei uns waren vergangenes Jahr manchmal nur zwei von zehn Kollegen am Arbeitsplatz“, so der Sozialamts-Angestellte. Gleichzeitig werde die Kundschaft zunehmend schwieriger: „Wir haben immer mehr psychisch Kranke.“ Dennoch steige der Druck von oben, die Zahl der Hilfeempfänger zu senken. Lieber wäre dem Sachbearbeiter stattdessen die Verdoppelung des Personals: „Dann hätte man Zeit, tatsächlich nach Lösungen zu suchen.“

Das Bezirksamt Harburg teilt mit, die Zahl der Mitarbeiter in den Sozialämtern sei „in etwa gleichbleibend“. Jeder der 95 Sachbearbeiter habe 160 bis 170 Haushalte zu betreuen, „Sicherstellung laufender Leistungen hat Vorrang“. Der Bezirk Eimsbüttel beantwortet „Fragen zur Personalausstattung und Arbeitsbelastung der Mitarbeiter generell nicht“. In dringenden Fällen würden Anträge „innerhalb weniger Tage oder in ganz besonderen Ausnahmefällen innerhalb eines Tages entschieden“. Im Bezirk Mitte muss jeder der 145 Sachbearbeiter rund 150 Fälle bearbeiten, so das Bezirksamt.

Die Entwicklung der Mitarbeiter-Zahl „wurde statistisch nicht erfasst“. Die Wartezeit auf den Ämtern schwanke zwischen „zehn Minuten, in Einzelfällen auch über eine Stunde“. Interne zeitliche Vorgaben, wann Anträge spätestens entschieden werden müssen, gibt es auf den Sozialämtern nicht.

Eine eigene Anlaufstelle bietet die Stadt für Menschen ohne festen Wohnsitz. Sie müssen ins Referat „Hilfen für wohnungslose Menschen“, das ehemalige Landessozialamt. In dem Gebäude an der Kaiser-Wilhelm-Straße (Neustadt) herrschen zeitweise chaotische Zustände. In der Vergangenheit waren Stellen unbesetzt, überdurchschnittlich viele Mitarbeiter meldeten sich krank, die Sprechzeiten wurden eingeschränkt. Hilfeempfänger können ihre Anliegen gar nicht mehr oder nur nach stundenlangem Warten vorbringen.

Derzeit suchen an den wichtigsten Sprechtagen, montags und donnerstags, zwischen 300 und 500 Menschen das Haus auf. Sie müssen eine Wartenummer ziehen und werden aufgerufen. „Aufgrund des hohen Besucheraufkommens ist die telefonische Erreichbarkeit der Sachbearbeiter oft schwierig“, räumt Behördensprecherin Anika Wichert ein. Die Wartezeit sei „zurzeit noch sehr lang, bis zu sieben Stunden“. 40 Mitarbeiter sind im „Landessozialamt“ tätig, darunter auch Teilzeitkräfte. Nach Behördenangaben wurde das Personal in den vergangenen Jahren aufgestockt, 2001 gab es nur 32 Mitarbeiter. Eine Vollzeitkraft ist im Schnitt für 110 Hilfeempfänger zuständig.

Zwei „Schnellschalter“ (auch hier müssen aber Nummern gezogen werden) sollen seit diesem Monat die Wartezeiten verkürzen. Die Counter sind für Anliegen gedacht, die keiner Beratung bedürfen, zum Beispiel das Ausstellen eines Krankenscheins. Außerdem will die Behörde drei zusätzliche Sozialarbeiter einsetzen, die sich um Hilfeempfänger kümmern sollen – vor allem um junge Erwachsene, um Betroffene, die ihre Wohnung gerade erst verloren haben, und um Menschen, bei denen mehrere Probleme zusammenkommen, etwa Obdachlosigkeit und Sucht.

Wie andere es besser machen:

Kein Hilfesuchender soll länger als zehn Minuten warten: Das ist die Vorgabe für Mitarbeiter der „Job Center“ in Großbritannien, wo Sozial- und Arbeitsämter bereits zusammengelegt sind. Freundlich eingerichtet sind die Räume, von neun bis 18 Uhr sind die Beratungszentren werktags geöffnet, sonnabends bis zur Mittagszeit. Die Idee: Hilfesuchende sollen vor allem spüren, dass sie hier Unterstützung finden. Solche Konzepte sind nicht billig. Drei Milliarden Euro hat die britische Regierung in den Aufbau der Job Center investiert. Doch am Ende könnte sich das Modell rechnen: Mit jedem, der Arbeit findet, spart der Staat schließlich Geld.

Lernen lässt sich auch von deutschen Behörden: Im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf zum Beispiel, stehen den 160 Sachbearbeitern auf den Sozialämtern immerhin 20 Sozialarbeiter zur Seite. „Es erfordert eine bestimmte Qualifikation, die Schwierigkeiten der Menschen zu sehen“, sagt Sozialstadträtin Martina Schmiedhofer. Dennoch mag sie nicht behaupten, die Sozialämter in ihrem Bezirk seien kundenfreundlich: „Man kann das tollste System haben: Wenn nicht genügend Mitarbeiter da sind, gibt es immer Hetze und Stress.“

So müsste es laufen:

– deutlich mehr Mitarbeiter in den Sozialämtern

– mehr und besser ausgebildete Sozialarbeiter, die sich auch um „schwierige Fälle“ kümmern bessere telefonische Erreichbarkeit der Ämter und Sachbearbeiter

– kürzere Wartezeiten, vor allem in der Kaiser-Wilhelm-Straße

Detlev Brockes/Ulrich Jonas