Geschichten vom Goldfischteich

Am Schäferkamp in Hoisbüttel: Wie sich Ostflüchtlinge auf ehemaligem Ackerland eine neue Heimat gebaut haben

(aus Hinz&Kunzt 149/Juli 2005)

Es ist eine naive Vorstellung, die Stadt würde an der Hamburgischen Landesgrenze enden. Aber unwillkürlich denkt man an Felder und endlose Weiten, wenn der Pfeil außerhalb der dicken roten Linie eingeschlagen ist. Nicht, dass wir es drauf angelegt hätten. Aber treffen Sie mal Große Freiheit, Schöne Aussicht oder Lange Reihe, wenn Sie einen Pfeil rückwärts über die Schulter auf den Stadtplan schmeißen müssen.

Der Prinz von Barmbek

Ladeninhaber, Spediteur, Nachbar: Prince Shaaibu aus der Rümkerstraße

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Eon | Hanse präsentiert Die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Rümkerstraße in Barmbek.

Ajua Jibua, eine füllige Afrikanerin, betritt das kleine Geschäft. Sie entknotet das bunte Tuch vor ihrer Brust, zieht es über die Schulter nach vorn, und in dem Moment schlüpft aus dem Tuch ein kleines Mädchen, das gleich ganz mutig von der Mama wegläuft. Zusammen mit dem Ladenbesitzer Prince Shaaibu geht die Frau zu den Regalen. Die Okra-Schoten hat Prince nicht, aber er verspricht ihr, dass er sie besorgen wird. Nach einem kurzen Gespräch nimmt die Frau ein Glas Erdnuss-Creme, setzt sich auf einen der Stühle an der Kasse und holt das Geld heraus. Zeit für einen kleinen Schwatz.

Prince Shaaibu, in blauer Jeans, einem schwarzen T-Shirt und einer schwarzen Baseballmütze auf dem Kopf, ist kein richtiger afrikanischer Prinz. Den würde man wohl kaum hier treffen, in der Rümkerstraße in Barmbek-Nord, die eng von dunkelroten Backsteinhäusern umrahmt ist. Prince ist zwar sein richtiger Vorname, aber die meisten nennen ihn Babs.

Eine Tür weiter ist ein Döner-Laden, aber da sind Fremde unerwünscht. Ein Stehtisch draußen ist von den Stammgästen umlagert. Alle trinken Bier. Alle sind schon länger da. Dieser Stadtteil hat viele Arbeitslose. „Bevor ich hier eingezogen bin, standen noch mehr Tische da. Das war ein großer Treff für die, denen zu Hause langweilig ist, weil sie keinen Job haben“, sagt Prince. „Weil es meine Kunden gestört hat, habe ich sie gebeten auf die andere Straßenseite in den Park zu gehen. Sie haben es eingesehen.“

Eigentlich hat Prince ein Büro, von dem aus er Autos, Lastwagen und Container nach Westafrika und Dubai verschiffen lässt. „Die Autos sind Schrott“, sagt er. „Aber in Afrika ist nur wichtig, dass ein Auto Motor und Bremse hat.“ Die Fahrzeuge findet er in ganz Deutschland, viele kommen auch aus England. „Es ist viel kostengünstiger, die englischen Autos über Deutschland zu verschiffen als auf dem direkten Weg.“ Die Wagen aus England kommen nicht leer, sondern mit Produkten für den Laden. Prince denkt an alle Möglichkeiten, Geschäfte zu machen, auch an seine Kunden, die besondere Wünsche haben, wie Ajua Jibua.

Die Käufer aus Afrika finden zu dem Hamburger Spediteur „durch meinen guten Ruf. Es spricht sich schnell herum, wenn jemand zuverlässig und ehrlich ist“, sagt der 44-Jährige. Wenn ein passendes Fahrzeug gefunden ist, füllt Prince die Frachtpapiere aus und bringt sie zur Spedition und später zum Zoll. Die Autos, meist noch voll beladen mit alten, teilweise kaputten technischen Geräten, bringt er aufs Schiff. Die Autopapiere schickt er per Post zu den Kunden nach Afrika. Der Afro-Laden läuft erst seit etwa einem Jahr nebenbei. „Es war für mich einfach langweilig, den ganzen Tag am Telefon und PC zu sitzen“, sagt Prince. „Jetzt kommen Menschen zu mir, manche kaufen etwas, in dieser Gegend leben viele Afrikaner.“

Der Laden ist nicht groß. Vier Regale insgesamt. Eins ist besonders attraktiv: bunte Frauenbilder auf den Verpackungen von Haarglättern, daneben künstliche Zöpfe und Haare, Kakaobutter für die Haut und andere afrikanische Pflegekosmetik. Unten liegen riesengroße Säcke mit Reis, nicht nur afrikanische Sorten, sondern auch asiatische. Auf dem Fußboden ein Korb mit Zwiebeln, ein anderer mit Kochbananen. Gleich daneben, wie ein Eisberg, eine Tiefkühltruhe mit Fisch. Modische Sportschuhe stehen auf der Fensterbank.

Auf der Ladentheke steht rechts die Waage, links die Kasse, dazwischen liegt die ganze Welt in Form einer Karte. An der Wand hängen Preislisten für Telefonkarten, mit denen man günstig in der ganzen Welt telefonieren kann. Vor dem Tisch stehen zwei Stühle: Beim Einkaufen werden Neuigkeiten ausgetauscht, man lässt sich Zeit für ein Gespräch. Aus der Küche dringt afrikanische Musik. Prince kann sich wie in seiner Heimat fühlen. Die meisten afrikanischen Spezialitäten kommen aus England und nur wenige direkt aus Afrika. Prince selbst kommt aus Ghana. Was ihn nach Hamburg geführt hat? „Mein Onkel war hier. Ich wollte studieren, und er versprach mir, zu helfen. Als ich nach Hamburg kam, war er längst in Amerika.“

Prince war damals 25 und wäre auch nach Amerika gegangen, wenn er nicht Anke kennen gelernt hätte. Die junge Hamburgerin sah Prince in einer Disco, und sie wusste gleich, dass sie nur ihn und keinen anderen will. Nach einem Jahr heirateten sie. Prince machte eine Ausbildung als Schlosser, arbeitete als Treppenbauer in Blankenese. Nach zwei Jahren schwerer körperlicher Arbeit machte er sich selbstständig.

An das Leben in der Hansestadt konnte er sich lange Zeit nicht gewöhnen. Die deutsche Mentalität war ihm fremd. Aus diesem Grund weigerte er sich zunächst, Deutsch zu lernen. „Wer mich verstehen will, soll mit mir Englisch reden“, war damals seine Einstellung. Nach nunmehr 18 Jahren ist sein Deutsch fast perfekt. An die deutsche Mentalität hat er sich gewöhnt, auch wenn sie ihm nicht gefällt. „Wenn mir in Afrika eine Zwiebel im Haushalt fehlt, dann gehe ich zur Nachbarin aber hier…“ Prince schüttelt resigniert den Kopf.

Jeden Monat schickt er seinen Eltern und Geschwistern in Ghana 50 Euro. So viel reicht dort für alle. Sein Traum ist es, irgendwann zurück nach Ghana zu gehen, aber er weiß, dass es wahrscheinlich nur ein Traum bleibt. „Zu Hause ist alles anders geworden, alle meine Freunde sind weggegangen, ich bin dort ein Fremder.“ Einmal im Jahr fährt der dreifache Vater mit seiner Familie in seine alte Heimat. Aber bevor traurige Gedanken aufkommen können, kommt der nächste Besucher.

„Hi, Chef!“, sagt der Mann und grinst. „Mister Brown!“, grüßt Prince zurück. Die beiden lachen sich an. Mister Brown lässt sich auf den Stuhl fallen und wirft den Schlüsselbund auf den Tisch. Er hat einen anstrengenden Tag hinter sich. „Babs ist mein Chef“, sagt Mister Brown, „ich bringe für ihn Lastwagen in den Hafen, weil Babs keinen Lkw-Führerschein hat. Babs erledigt die Formalitäten, aber ich habe mit den Zollbeamten zu tun. Was sind das bloß für Bürokraten?“ Der Mann aus Ghana im Jeansanzug, obligatorischer Baseballmütze und goldenem Kopf eines Indianer-Häuptlings um den Hals, spricht mit seinem Landsmann Englisch.

Zum Abschied zeigt Prince auf der Weltkarte sein Heimatland Ghana. „Fahren Sie mal hin“, sagt er und lächelt. „Sie werden nicht zurückkommen wollen, so schön ist es!“

Luba Dmitrieva

Die Baumkämpferin

In der Bellealliancestraße verteidigen Anwohner ihr Eimsbüttler Idyll

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

E.on | Hanse präsentiert Die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Bellealliancestraße in Eimsbüttel.

„Klopfen Sie! Ist das hart?“, sagt Monika Bender und hält das Holzstück mit beiden Händen vor sich. Feines Sägemehl rieselt von dem Block auf den Wohnzimmerboden in der Bellealliancestraße. Als ich zögere, den vielleicht drei Kilo schweren Stammabschnitt anzufassen, wird die Rentnerin laut: „Na los, klopfen Sie schon! Ich will, dass Sie sich wehtun und spüren, dass dieses Holz hart ist.“ Auf den Fingern hinterlässt das Sägemehl einen Staubfilm – ein Hinweis darauf, das der Baum vor nicht allzu langer Zeit gefällt wurde. Die Kastanie, aus der der Block in Monika Benders Händen stammt, stand bis vor wenigen Wochen an der Grenze zu ihrem Hinterhof.

Zwei hellgrüne Plakate auf einem Fahrradhäuschen vor Haus Nummer 51 zeugen noch vom Gefecht um den Baum, für das Monika Bender und einige andere Anwohner eigens eine Bürgerinitiative „PRO Kastanie“ ins Leben gerufen hatten. Die Eigentümer der inzwischen gefällten Kas-tanie hatten einen Gutachter beauftragt, den Gesundheitszustand des Baumes zu bewerten. Seine Diagnose: Umsturzgefahr – zu viel Weichholz im Stamm.

An dem Fahrradhäuschen hat Monika Bender Auszüge eines von „PRO Kastanie“ in Auftrag gegebenen Gegengutachtens angeschlagen. Es bezeugt die Standfestigkeit des Baumes, wenn die Krone durch Schutzleinen gesichert würde. „Die hätten wir sogar bezahlt“, sagt sie. Auf dem Plakat prangt in fetten schwarzen Lettern: „Beweise!!!“ Das Wort hat sie doppelt unterstrichen. Heute erinnern nur noch zwei Dinge an den einstmals 24 Meter hohen Baum: der Rest des Stammes, den die Rentnerin auf ihrem Garderobenschrank im Flur deponiert, und der Baumstumpf im Hinterhof.

Wenn Monika Bender die Tür zum Hof öffnet, bleibt sie an der Schwelle stehen. Hinaus geht sie nicht. „Das letzte Mal, als ich den Stumpf besucht habe, standen die Nachbarn am Fenster und haben mich verhöhnt“, sagt sie und ballt die rechte Hand zur Faust. „Das – will – ich – nicht – mehr.“ Sie presst jedes Wort einzeln heraus. Die Faust hämmert in der Luft. Monika Bender ist eine Baumkämpferin. Und sie ist wütend. Wenn sie über das Erlebnis im Hinterhof spricht, sammeln sich Tränen in ihren Augen.

Vor dem Haus dagegen – von dort kann man den Baumstumpf nicht sehen – wirkt die Bellealliancestraße wie eine heile Welt: Verschnörkelte Fassaden reihen sich aneinander. Blau, rosa, altgelb, ein bunter Mix. Ein paar Designer klicken hinter den riesigen Schaufenstern ihres Büros auf ihren Maustasten herum. Ein Laden im Souterrain bietet Secondhand-Hosen an, ein anderer Haarpflegemittel aus Afrika. Eine Videofirma verleiht kostenlos Filme über den Wassermangel in Entwicklungsländern. In der Eckbar schlürft ein Mann mit Hut seinen Nachmittags-Kaffee. Ein kleiner Junge auf dem Gehsteig presst sich plärrend an die Hauswand. Die Mutter, vielleicht Mitte zwanzig, wartet in einiger Entfernung auf den Trotzigen. Die meisten Passanten lächeln ihr wissend zu.

In der Bellealliancestraße gibt es auffällig viele junge Mütter mit Kinderwägen. Und viele Bäume. Ein paar Kastanien, meistens aber Pappeln. An eine hat jemand einen Zettel gepinnt, auf dem er kalt geschleuderten Bienenhonig aus der Umgebung zum Verkauf anpreist. „Honig aus der Region ist wichtig zur Pollenimmunisierung (Heuschnupfen)“, steht da. Darüber ein Bild von Biene Maja. Drei der Telefonzettelchen sind schon weg. Die Bellealliancestraße, eine Idylle.

Aber eben nicht nur. Hinter den Fassaden brodelt es. „Als sie den Baum abgeholzt haben, dachte ich, ich bekomme einen Herzschlag“, sagt Monika Bender. Nachdem die Motorsägen zu kreischen aufgehört, die Holzfäller ihre Helme eingepackt und die 46 Jahre alte Kastanie fortgeschafft hatten, verordnete sich die Baumkämpferin für einige Wochen Ruhe. Kraft tanken, die Enttäuschung verarbeiten. Doch daraus wurde nicht viel. Vielleicht auch, weil die Wut ins Unerträgliche steigt, wenn man nur herumsitzt.

Die Bellealliancestraße ist eine Zwischenwelt. Durch sie schwappen politische Konflikte aus der benachbarten Sternschanze ins ansonsten eher ruhige Eimsbüttel. Der Blumenladen wirbt mit dem Spruch: „Zur schönen Verbindung“. Belle Alliance. Die Mitglieder von „PRO Kastanie“ nehmen den Straßennamen wörtlich. Sie haben sich zusammengetan, die Idylle zu erhalten. Statt lange um die Kastanie zu trauern, haben sie sich in einen neuen Kampf gestürzt – diesmal um die Linden rund um den Wasserturm im Schanzenpark. Die Mövenpick-Kette will den Turm als Hotel nutzen und einen Glasanbau errichten. „Wenn das Bezirksamt den Bauarbeitern keine zwingenden Auflagen macht, können die Bäume ganz leicht umgeholzt werden“, sagt Monika Bender. Sie befürchtet, dass sich ein Fall wiederholen könnte, der sie für die Bäume mobilisiert hat. Da ließ ein Autohaus in der Nähe der Bellealliancestraße rund 40 Bäume fällen – die Bauarbeiter wussten nicht, dass die Bäume geschützt waren. Seitdem sieht Monika Bender dreimal hin, wenn es um Anbauten geht.

Um das Bezirksamt zu strengen Schutzauflagen für die Linden im Park zu bewegen, haben Monika Bender und ihre Mitstreiter ein Bürgerbegehren gestartet. Bis Mai verteilen sie Unterschriftenlisten in Cafés, Bars und Geschäften. Die ausgefüllten Listen sammelt der Getränkehändler Claus Ebeloe, der seinen Laden ebenfalls in der Belle-alliancestraße betreibt. Gerade ist eine neue Bierlieferung angekommen. Claus Ebeloe verfrachtet die Kisten mit einer Sackkarre vom Bürgersteig in sein Geschäft, stapelt sie zu mannshohen Türmen. Er arbeitet allein. Für das Bürgerbegehren kann der Kleinunternehmer nur wenig Zeit aufbringen. „Aber als Frau Bender mich gefragt hat, ob sie die Adresse vom Laden auf den Zetteln angeben darf, habe ich zugesagt. Das ist doch das Mindeste als Nachbar“, sagt er. Schon hat er den nächsten Kasten gepackt, hält dann aber ein, stellt ihn wieder zurück.

Er richtet sich auf und krempelt seine Ärmel hoch. „Ich weiß nicht, warum Frau Bender sich so verschleißt. Die Lobby können wir doch ohnehin nicht überzeugen“, sagt er. Genau das will Monika Bender: „Ich mache das, weil die Leute die Einsicht brauchen, dass Bäume für uns Menschen unersetzlich ist. Unersetzlich!“ Wieder hämmert die Faust im Rhythmus der Worte. Für Monika Bender gibt es da keine Diskussion.

Die Initiatoren des Bürgerbegehrens müssen rund 6000 Einwohner des Bezirks Eimsbüttel von dieser Einsicht überzeugen – und zur Unterschrift bewegen. Dann kommt es zur Volksabstimmung über den Erhalt der Linden im Schanzenpark. „Das Gute ist: Schon wenn wir ein Drittel dieser Unterschriften zusammen haben, darf bis zur Abstimmung kein Baum gefällt werden“, sagt Bender, die sich inzwischen im Behördendschungel auskennt. Seitdem die Kastanie in ihrem Hinterhof gefällt wurde, weiß sie auch: Hat das Amt erst einmal eine Genehmigung erteilt, kann es die nur schwer zurücknehmen. Ob Monika Bender den Beamten mit dem nötigen Drittel der Unterschriften rechtzeitig zuvorkommt, weiß sie nicht. Sie kann nur hoffen. Und Zettel verteilen. Und derweil auf Holz klopfen.

Steffen Kraft

Eine Straße, eine Familie

Wo man sich kennt: Krügers Redder in Bramfeld

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Eon | Hanse präsentiert: Die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: Die Straße „Krügers Redder“.

Heinz Martens’ Wohnung endet nicht an seiner Wohnungstür. Wenn er seine Mütze aufsetzt und hinaustritt, steht er auf der Straße, in der er schon seit mehr als 40 Jahren wohnt. Dann dreht er seine Runde. Auf dem Weg sammelt er Gespräche ein. Er kennt fast jeden, der seinen Weg kreuzt. Ein Plausch hier, eine Flachserei da, dann lässt er Krügers Redder hinter sich. So heißt die kleine Straße in Bramfeld, in der Herr Martens wohnt. Er geht am Zeitschriftenladen vorbei, in dem er immer seinen Lottoschein ausfüllt, zum Bäcker um die Ecke.

Dort steht der 80-Jährige mindestens zwei Mal am Tag hinter der großen Glasscheibe und trinkt seinen Kaffee. Allerhöchstens hier endet seine Wohnung. Aber auch das ist nicht sicher, denn seine wachen Augen hinter der großen Brille haben viel von der Welt gesehen und tun es noch.

„So ein Leben als Rentner ist äußerst stressig“, sagt er, und seine Augen schmunzeln. Er ist gern unter Leuten, früher schon, was soll er denn den ganzen Tag in seinen 16 Wänden? Er lebt allein in den vier Zimmern, ein Fernseher ist da, aber höchstens am Abend mal eingeschaltet. Die kleine Straße vor seinen Fenstern ist schmal und läuft in einem engen Weg aus. Krügers Redder ist eine Sackgasse, die den Namen einer alten Milchhändlerfamilie trägt, und in ihrer Ruhe und Abgeschlossenheit viele alte und neue Geschichten bewahrt.

Herr Martens steht auf dem Weg zwischen Hecken und roten Klinkerhäusern und schnackt mit Jens Timmermann. Der 65-Jährige ist Verwalter und Vermieter fast aller Wohnungen im Krügers Redder. Seit 250 Jahren gehört der Familie Timmermann das Grundstück, auf dem vor einem halben Jahrhundert noch Kühe weideten und ein Bauernhof stand. Dann wurde die Landwirtschaft allmählich vom Verkehr überrollt. „Wir kriegten die Heuwagen nicht mehr nach Hause gefahren und die Kühe nicht mehr zurückgetrieben“, erzählt Jens Timmermann. Eine Kuh hatte sich mal mit einem Autofahrer angelegt, der ihr in die Hacken fuhr. Die Kuh gewann. Kühlwasser floss auf die Straße, der Autofahrer fluchte. Aber es war nur ein Sieg auf Zeit. Jens Timmermann besitzt ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Bild. Darauf die letzte Kuh von Krügers Redder mit ihrem Kalb auf der Wiese. Das Kalb kam als einziges und letztes in den Genuss, am Euter der Mutter zu saugen und nicht mit Ersatznahrung abgespeist zu werden. Dadurch wurde es so stark, dass es aus dem Stand über den Zaun springen konnte. Aber das Kalb verlor. Es wurde geschlachtet. Der Bauernhof der Familie musste weichen. Ende der fünfziger Jahre entstanden hier die ersten Wohnhäuser.

Die Mieter kamen sofort und in Scharen. Wohnungen waren extrem knapp zu der Zeit. Für viele war es das erste eigene Heim. Auch Herr Martens wohnte bei einem Freund, bevor er als einer der ersten Mieter hier einzog. „Damals herrschte noch Ordnung!“, sagt Jens Timmermann und lacht. Er erzählt von seinem Vater, dem alten Timmermann. „Machense dat mal wech da“, pflegte er seinen Mietern zu sagen, wenn die Leute Slips auf den Balkon hängten statt auf den Trockenboden. Und die Witwe Neumann stellte er vor die Wahl: „Heiraten oder ausziehen“, als sie in Erwägung zog, sich einen neuen Lebensgefährten zu suchen. Sie blieb, unverheiratet. „Vielleicht ist mir so einiges erspart geblieben“, zog sie als Resümee.

Auch jetzt hängen keine Slips auf den Balkons von Krügers Redder. Obwohl sie es könnten. Allenfalls mal Kakteen statt Blumen in den Fenstern. Dafür stehen auf den Klingelschildern heute oft zwei Namen. Die Zeiten haben sich also geändert. Aber nicht in jeder Hinsicht. Denn Jens Timmermann ist nicht nur mit der Vergangenheit vertraut. Er wohnt ja selbst hier, ganz oben, über den beinahe 200 Wohnungen der Straße. Auch er dreht jeden Tag hier seine Runde. Er trägt einer alten Frau die Gehhilfe die Treppen hinauf. „Wir sind hier eine große Familie, ohne aber einander in den Pott zu gucken“, charakterisiert er das Leben in der kleinen Straße. „Die Paketdienste lieben Krügers Redder. Es gibt keinen, der ein Paket für den Nachbarn nicht annehmen will.“ Niemand geht ohne einen Gruß vorbei. Einmal im Jahr gibt es ein Mieterfest.

Eine kleine Oase, diese Straße, so grün, dass die Luft merklich frischer wird, wenn man von der hektischen Bramfelder Chaussee einbiegt. Ein großer Baum zwischen zwei Backsteinhäusern schließt die Lücke zu der lauten, verkehrsbeladenen Straße. Die Mieter haben ihn täglich gegossen und so über den trockenen Sommer gebracht. Eine abgeschlossene, ruhige Welt. „Was fotografieren Sie denn da?“, fragt eine Frau im Blumenrock den Fotografen, der für diese Geschichte gerade nach Motiven sucht. „Das hat schon seine Richtigkeit“, beruhigt Herr Martens sie. Jens Timmermann ruft einem Fahrradfahrer, der viel zu schnell über die Steinplatten flitzt, im Scherz nach: „Das ist ein Gehweg, du Holzkopf!“ „Selber Holzkopf!“

Und Herr Martens spaziert derweil die Straße und sein Leben entlang. Auch früher war er immer unterwegs. Sein Beruf und sein Naturell verlangten es. Er arbeitete als Journalist und machte die Öffentlichkeitsarbeit für ein großes amerikanisches Unternehmen in Hamburg. Er sah Paris, Stockholm, New York, Singapur. Seine Frau war so oft allein, dass sie sich irgendwann dachte: Dann kann ich auch allein allein sein. „Wir haben aber heute noch Kontakt“, sagt Herr Martens jetzt etwas ernster, „man muss sich ja nicht mit der Pfanne den Schädel einschlagen, nur weil man sich trennt“, und da ist er wieder, der Schalk in seiner Stimme.

Er holt drei Presseausweise aus den siebziger und achtziger Jahren aus der Schublade. Auf jedem Foto sieht er ein wenig anders aus. Aber immer die verschmitzten Augen durch eine große, manchmal sehr große Brille, wie es damals Mode war. Auch heute reist er noch gern. Mit dem Schiff bis nach China. Zu Hause dreht er kleinere Runden, hilft Kindern bei den Hausaufgaben, für die er „der Heinzi“ ist. Er repariert auch mal einen Durchlauferhitzer vom Nachbarn, wenn der Hausmeister keine Zeit hat. Und weil Herr Martens Geplänkel und Scherze so liebt, ist kein Gespräch mit ihm todernst. „Wollen sie ihren Kaffee heut mit Zyankali?“ „Klar, wenn sie einen mittrinken!“ So ein typischer Dialog beim Bäcker. Dann fragt er in scherzhaftem Ernst: „Sie können doch bestätigen, dass ich ein ernsthafter Mensch bin?“ Herr Martens, das wandelnde Tageblatt. Der bunte Hund. Der Spinnbeutel. Der Charmeur. Herr Martens, der Mann, der die Geschichten weiß.

Jetzt trinkt er seinen Kaffee beim Bäcker. Er beobachtet die Menschen draußen. Sie kommen über die Straße, wenn die Ampel auf Grün zeigt, aus dem Baumarkt gegenüber, aus dem Bus, der alle fünf Minuten direkt vor dem Bäcker hält. Herr Martens kennt viele von denen, die vorübergehen.

Katja Thomas

Grüne Zuflucht

Ansichten in einer Schrebergarten-Anlage in Altona

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Kleingartenanlage Altona Nord II.

Mein Dartpfeil ist in einer Schrebergartenanlage gelandet. Ich bin ihm gefolgt und stehe nun inmitten von Grün. Es ist still. Es riecht nach frischer Erde und nach Gras. Unter meinen Schuhen knirscht es, als ich einen schnurgeraden Kiesweg entlanggehe – die Hauptstraße der Kleingartenanlage Altona Nord II. Rechts und links hohe Hecken, dahinter ducken sich die insgesamt 52 Holzlauben in den Schutz hoher Bäume. Ein Idyll, das eingeklemmt ist von Hochhäusern auf der einen Seite und den Gleisen des Hauptgüterbahnhofs Eidelstedt auf der anderen.

Ich will erfahren, wie es so ist, das Leben als Schrebergärtner. Doch eigentlich mag ich keinen stören. Die Menschen sind alle so beschäftigt: sie entspannen, säen, zupfen Unkraut, mähen Rasen, lesen Zeitung, trinken Kaffee, plaudern, gucken in den Himmel. Sie sitzen meist ganz hinten in ihren Gärten, weit weg vom Gartenzaun. Doch das Ehepaar Will lässt mich herein. Das Gartentor knarrt leise. Wir setzen uns unters Wellblechdach ihrer Gartenterrasse. Helmut Will war früher Fahrdienstleiter am Hauptbahnhof, im Schichtdienst. Heute haben sie mit der Bahn eher Ärger. Laut donnern die Züge an den Gärten vorbei. Das scharfe Geräusch verdrängt für einen Moment Vogelgezwitscher und Blätterrascheln und verkrallt sich im Ohr. Gegen den Lärm haben die Wills Holzplatten vor die Hecke gestellt, die zu den Gleisen zeigt, und diese mit Gummimatten ausgekleidet. Es hilft nicht viel. „Und die Bahn will den Takt noch erhöhen“, sagt Helmut Will. „Noch mehr Züge sollen fahren, die Höchstgeschwindigkeit soll raufgesetzt werden.“

Am Bahndamm hat er mal zusammen mit ein paar Leuten aus dem Gartenverein Draht gespannt. Der Grund: „Immer wieder spielen Kinder dort, legen Gegenstände auf die Gleise, und wenn ein Zug dann da drüber rasselt, knallt es. Die Bahn sperrt das nicht genügend ab.“ Der Draht draußen am Damm ist an verrosteten Pfählen befestigt. Er ist an vielen Stellen schon wieder auf den Boden gedrückt oder ganz heruntergerissen. Zwischen Brennnesseln, Pusteblumen und Disteln liegen ein paar zerdrückte Bierdosen. Hier jedoch wird alles liebevoll gepflegt.

„Es ist schön, wenn man so sitzt und alles blüht“, sagt Frau Will und sieht über den Garten, der den Eheleuten schon seit 30 Jahren gehört. Die Fische im Teich sind zutraulich. Sie kommen angeschwommen, und wenn Herr oder Frau Will die Finger ins Wasser halten, saugen sie daran. An meinen Fingern saugen sie nicht, die gucken sie nur an. Die Wills haben Schnüre über den See gespannt, damit die Reiher die Fische nicht holen. Im Winter kommen sie jeden Tag her und sehen nach, ob alles heil ist. Füttern die Vögel, die Fische brauchen dann nichts. Es kam schon vor, dass eines Tages das Vogelhaus zusammen mit Mülltüten im Gartenteich lag, Blumentöpfe zerbrochen, die Erde verstreut. „Die haben noch nicht mal was geklaut, nur randaliert“, sagt Helmut Will und schüttelt den Kopf. Seine Frau nickt.

Der Blick fällt auf die Hochhäuser nebenan. Auch wenn viele, die hier einen Garten haben, in der Gegend wohnen, ist der Blick auf die Plattenbauten meist ein skeptischer. Ein Chaotenviertel sei das, sagt mir jemand, oder: „Dort wohnt jetzt alles.“ Von dort oben wurde mal geschossen, erzählt entrüstet eine Frau. Einer wollte sich runterstürzen, und vor 30 Jahren sei tatsächlich einer gefallen, er saß im Fenster und hatte zu viel Bier getrunken. Kommen nun von dort diejenigen, die auf den Spielplätzen Reifen zerstechen und in den Gärten randalieren? „Es gibt eben auch immer welche, die sich nicht ganz anpassen“, so erklärt sich das Frau Will. Richard Schmidt ist der gleichen Ansicht. Der 71-Jährige ist bereit, seinen Garten mit allen Mitteln zu verteidigen. Nicht gegen den Zuglärm, der stört ihn nicht. „Terror im Kleingarten. Du wirst abgefackelt!“, sagt er und zeigt mir einen drei Jahre alten Zeitungsartikel aus einem Lokalblatt. Seit damals sein Geräteschuppen in Brand gesteckt wurde und dabei fast die Laube abgebrannt wäre, hat er aufgerüstet. Drei Gewehre und eine Pistole hängen neben Geweihen im Haus. Nach eigenem Bekunden alle geladen. „Ich hab seitdem einen Waffenschein“, sagt er und bietet mir einen Kaffee an. „Irgendwie muss ich ja die Enkel verteidigen, wenn sie hier schlafen und irgendwas ist.“ Seit dem Vorfall hat er Gartentor und Laube mit einer Alarmanlage gesichert. Auch einen Schäferhund haben sie jetzt, wie der Nachbar.

Meine Blicke huschen durch die kleine Gartenlaube. „Haben wir alles in Handarbeit selbst aufgebaut“, sagt er stolz. Es ist alles da, sogar ein Fernseher. Eine kleine Küchenzeile. Auf der ausklappbaren Couch sitzen Puppen, auf dem Regal stehen zwei beleuchtete Mickeymäuse neben diversen Pokalen. Eine Art Miniwohnung auf 20 Quadratmetern. Richard Schmidts Sohn Thomas mäht derweil draußen um einen Fahnenmast herum, an dessen Spitze eine Hamburg-Flagge weht. Im Hintergrund ein Wetterhahn auf dem Laubendach. Davor Blumenbeete, um die herum gleichfarbige, gleichgroße Steine liegen. Auf den Beeten Gartenzwerge. Der 39-Jährige arbeitet in der eigenen Gartenbaufirma, zusammen mit seinem Vater. Familienbetrieb seit fast sechzig Jahren. Vor seinem Haus in Bahrenfeld hat er auch einen Garten. So wird das Leben der Schmidts maßgeblich von Gärten geprägt.

Ein paar Parzellen weiter treffe ich einen Mann mit grauem, nach hinten gekämmtem Haar. Er trägt eine blaue Latzhose und klobige Arbeitsschuhe. Wolfgang Brenker erzählt über den Zaun hinweg. Sein Garten ist ihm alles, als Rentner hat er Zeit. Er kommt jeden Tag. „Ich mach dann hier was und da was. Und wenn ich nicht mehr kann, setz ich mich hin und ruh mich aus.“

Sein Blick fällt auf den Garten nebenan. Dort stehen weiße Blumen auf der Wiese, die viel höher ist als in all den anderen Gärten. Am Obstbaum hängen noch Ostereier, obwohl Ostern längst vorbei ist. Der Garten gehört einer alten Dame, frisch operiert, die kann im Moment nicht mehr so, klärt mich der alte Mann auf. „Bald geh ich nach drüben und mach das weg. Das kommt sonst alles hier rüber“, erklärt er. Schade, denke ich, und sehe auf die hohe Wiese. Ich denke an die Schmetterlinge, die über die Blüten flattern und miteinander flirten. Wolfgang Brenker stützt sich auf seinem Gartenzaun ab. „Und wissen sie, warum ich es noch nicht weggemacht habe?“ Er sieht mich an und blinzelt gegen die Sonne: „Wegen den Schmetterlingen lass ich es noch eine Weile stehen.“

Als der Kiesweg aufhört und es unter meinen Schuhen wieder still ist, habe ich die Schrebergärten hinter mir gelassen. Ich will schon gehen, da sehe ich Eduard. Er sitzt auf einer Bank und sieht auf das Hochhaus, in dem er wohnt. Eduard ist 73. Er ist vor zwölf Jahren mit seiner Frau aus Kasachstan gekommen. Hier gefällt es ihm. Mit der Zwei-Zimmer-Wohnung ist er zufrieden. Er hat nette Nachbarn, sagt er. Mit einem macht er immer vor dem Haus sauber, sammelt den Müll weg, das macht sonst keiner. „Und ich kann mittlerweile ganz gut lesen“, sagt er. Früher war er Analphabet. „Sechs Stunden pro Woche lesen wir in der Bibel. Zwei am Sonntag, zwei am Dienstag, zwei am Donnerstag. So habe ich es gelernt.“ Eduard ist Zeuge Jehovas. Heute war er schon im Dienst, hat viele Prospekte verteilt. Jetzt lässt er sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

Als ich gehe, schaue ich noch mal zurück. Eduard ist jetzt ganz klein. Er winkt.

Katja Thomas