INSP Verkäuferwoche : Hendrik, Vancouver

Am dritten Tag der internationalen Straßenzeitungsverkäuferwoche erzählt Hendrik Beune seine spannende Lebensgeschichte. Er verließ mit 19 Jahren die Niederlande, um in Kanada zu studieren. Heute verkauft er „Megaphone“ in Vancouver. Dazwischen ist eine ganze Menge passiert.

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Hendrik Beune hat in seinem Leben verdammt viel erlebt.

Ich habe 2009 angefangen, „Megaphone“ zu verkaufen. Den Kalender „Hope in Shadows“ verkaufe ich schon viel länger – schon seit es ihn gibt, Anfang der 2000er Jahre. Für mich geht es bei „Megaphone“ vor allem darum, soziales Kapital aufzubauen. Soziales und ökologisches Kapital halte ich für viel wichtiger als die moderne Wirtschaft, die nur sich selbst dient und in vielerlei Hinsicht zerstörerisch ist. Ich versuche das zu korrigieren, indem ich gute Beziehungen zu anderen Menschen aufbaue.

Ich mache viele verschiedene Dinge, die mich glücklich machen und gesund erhalten. Ich versuche, immer in Bewegung zu bleiben. „Megaphone“ spielt dabei eine sehr wichtige Rolle. Wenn ich meinen Stammkunden die Zeitung bringe, bin ich viel mit dem Fahrrad unterwegs. So komme ich auch zu den Bauernmärkten, wo ich das Magazin öffentlich verkaufe. All das trägt zu einem gesunden Lebensstil bei – und ich bin nicht den ganzen Tag hinter einem Computer gefangen.

Ich ziehe viel Sinn daraus, unterschiedliche Menschen zu treffen. Mit meinen Kunden rede ich über so ziemlich alles! Oft fragen sie mich, ob ich obdachlos bin – das aber ist ein weit verbreiteter Irrtum. Nein, ich bin nicht obdachlos – aber ich war es eine ganze Zeit lang. 2010 bin ich aus einer schäbigen, rattenverseuchten Unterkunft in ein anständiges Apartment gezogen. Vorher aber hatte ich keine Wahl. Ich war selbstständig und arbeitete hart – dann verletzte ich mich am Rücken. Dann konnte ich nicht mehr arbeiten, bekam aber auch keine Entschädigung.

Für eine ganze Weile lebte ich auf der Straße. Ich wühlte in Mülleimern und war ziemlich am Ende, als ich endlich Hilfe von sozialen Einrichtungen bekam. Vorher hatte ich nie Sozialhilfe erhalten. Ich war zu stolz und hatte es immer geschafft, irgendwie zurechtzukommen. Aber als ich nach Vancouver kam, konnte ich kaum noch gehen. Nach drei Tagen ohne Essen ließ ich mich überzeugen, mich für Nahrungsmittelhilfe anzustellen. Dort lernte ich die verschiedensten Menschen kennen und lernte, wie mir soziale Dienste helfen konnten.

Ursprünglich komme ich aus den Niederlanden. Mit 19 Jahren zog ich nach Kanada. Der Hauptgrund war mein Pazifismus. Ich wollte nicht lernen, wie man Menschen tötet. Die Niederländer sind eigentlich eine friedliche Nation. Aber wegen des Zweiten Weltkriegs und der Hilfe der Kanadier und Amerikaner, die uns von den Besatzern befreit hatten, existiert eine Vereinbarung mit der NATO: Ich wurde eingezogen. Ich wollte aber nicht lernen, wie man Menschen tötet, ich wollte Biologie studieren. Ich hatte gute Noten und einen Studienplatz an der Universität von Utrecht. Bevor ich mit dem Studium beginnen konnte, hätte ich aber zwei Jahre Militärdienst leisten müssen.

Mein Cousin, der in Edmonton lebt, besuchte damals gerade die Niederlande. Er sagte, er könne mir vielleicht einen Platz an einer kanadischen Universität beschaffen. Er gab sich viel Mühe und sorgte dafür, dass ich einen Platz an der University of Alberta bekam. Die Kultur in Alberta unterschied sich sehr von der europäischen – das war nicht das, wonach ich gesucht hatte. Dann hörte ich, dass man Vancouver als das San Francisco des Nordens bezeichnete. Das gefiel mir, also ging ich an die UBC! 1974 erhielt ich dort meinen Bachelor in Zoologie und Ökologie.

Eine Zeit lang arbeitete ich im Norden British Columbias. Ich lernte Flugzeuge zu fliegen und untersuchte abgeschiedene Wasserläufe. Nach diesen Studien wurde mir ein unbefristeter Job im Yukon angeboten, aber ich wollte nicht so isoliert sein. Danach arbeitete ich für ein Museum. Das hatte ich der umweltbewussten NDP-Regierung unter Dave Barrett zu verdanken. Das waren alles Sommerjobs mit der Möglichkeit auf eine Verlängerung. Den kommenden Sommer ging ich wieder nach Norden und forschte über Grizzly-Bären. Da war ich richtig in der Wildnis unterwegs, manchmal mehrere Tage lang auf dem Pferderücken. Meine Leidenschaft aber waren die Ozeane.

Also habe ich damit begonnen, in Delta einen 36 Fuß langen Trimaran zu bauen. Viereinhalb Jahre arbeitete ich Vollzeit für das Ministerium für Fischerei und Ozeane. Ich schrieb einen internen Bericht, der so lang ist wie das Buch, das ich gerade lese: 650 Seiten über das Mündungsgebiet des Fraser River. Was mich angeht, war das meine Doktorarbeit! Als ich fertig war, hinterließ ich meinem Chef eine Kopie und sagte ihm, dass ich auf unbestimmte Zeit nach Kalifornien gehen würde. Und das tat ich auch. Ich machte eine Ausbildung zum Tauchlehrer. Ich tauchte viel, organisierte Reisen und entschloss mich schließlich, ein zweites, seetauglicheres Boot zu bauen: einen 39 Fuß langen Trimaran.

INSP Verkäuferwoche

In der Verkäuferwoche des internationalen Straßenzeitungsnetzwerks INSP stellen wir jede Woche einen Verkäufer aus einem anderen Land vor. Hier geht’s zu den anderen Portraits.
Um über die Runden zu kommen, gründete ich mit einigen Freunden eine Schädlingsbekämpfungsfirma. In diesem Bereich arbeitete ich acht Jahre lang. Dann wurde unsere Werft verkauft, und es wurde Zeit, wieder weiterzuziehen. Ich züchtete Schalentiere am äußersten Ende der Sunshine Coast, abseits der Zivilisation, wie wir sie kennen. Ich lebte in der Wildnis des Desolation Sound, zwölf Jahre lang inmitten vieler Tiere und nur unter wenigen Menschen. Ich gründete eine Familie und zog zwei Kinder groß. Inzwischen war ich über 40 und arbeitete jeden Tag körperlich hart. Mein Rücken wurde immer schlimmer, und ich wusste, ich musste meinen Lebensstil ändern.

Also kam ich zurück nach Vancouver. Seitdem engagiere ich mich sozial, weil ich denke, dass das der Ökologie sehr nahe kommt. Die Verschiedenheit der Menschen in der Downtown Eastside, die so viele Nischen füllt, hat mich genau so angezogen wie eine wilde Landschaft.

Die meisten Menschen arbeiten für ihre Hypothek. Sie sind nur die Sklaven einer Bank. Und dann gibt es Menschen wie mich, die frei auf der Straße leben – das heißt, du bist solange frei, solange du nicht mit Drogen in Berührung kommst. Es gibt hier also einen großen Unterschied im Lebensstil – aber auch viele Gemeinsamkeiten.

Aber ich mag das: Die Menschen sind so verschieden und leben doch in derselben Stadt zusammen. Ich glaube sehr an gemischte Gemeinschaften. Diese Verbindungen zu knüpfen ist wirklich sehr wichtig. Ich denke, es ist mein Hauptziel, und auch der Zweck von „Megaphone“.

Die Geschichten in „Megaphone“ sind aus der Perspektive des Teils der Gesellschaft geschrieben, der oft verachtet wird. Aber das sind echte Menschen mit einem eigenen Leben. „Megaphone“ gibt ihnen ein Gesicht und verschafft ihnen Respekt für ihren Kampf.

Unter uns gibt es so viele unerkannte Talente. Wenn die Menschen einander besser kennenlernen und die Barrieren, die manche so verschieden und für einige nicht akzeptabel machen, überbrücken würden, könnten wir eine wirklich bunte, ganzheitliche Gesellschaft haben, in der alle für das Gemeinwohl zusammenarbeiten. Ein gutes Gefühl für das Allgemeinwohl würde wirklich helfen – wie auch in der Natur.

Protokoll und Foto: Jackie Wong (www.street-papers.org / Megaphone – Canada)