Bildungs- und Teilhabepaket :
Gut gemeint, schlecht gemacht

Das Bildungs- und Teilhabepaket im Alltag.

(aus Hinz&Kunzt 276/Februar 2016)

Illustration: Tronje Thore van Ellen.
Illustration: Tronje Thole van Ellen.

Annette G.* ist Anfang 40, gelernte Anwaltsgehilfin, groß, blond und schlank. Die schwierigen Zeiten, die hinter ihr liegen, sieht man ihr ebenso wenig an wie die sechs Kinder, die sie geboren hat. Fünf davon leben bei ihr in Hamburg-Bergedorf. Das älteste Kind ist schon ausgezogen, das jüngste wurde gerade eingeschult. Annette ist alleinerziehend und lebt von Arbeitslosengeld II Hartz IV).

Aber vor allem ist sie eine aufgeweckte Frau und eine fürsorgliche Mutter, die versucht, ihren Kindern ein unbeschwertes Aufwachsen zu ermöglichen. Annette möchte in diesem Artikel lieber anonym bleiben. Sie hat Angst davor, dass ihre Kinder in der Schule ausgegrenzt werden könnten, wenn bekannt wird, dass sie auf Hilfe vom Staat angewiesen sind.

Seit 2011 soll das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung für mehr Chancengleichheit unter Kindern und Jugendlichen sorgen. Familien, die wie Annette und ihre Kinder, von Arbeitslosengeld II leben, haben seitdem Anspruch auf bestimmte Hilfen. Zuschüsse gibt es für den Sportverein oder Musikunterricht, für Schulmittagessen, -bücher und Nachhilfe. Auch Ausflüge, Klassenfahrten und eine Monatskarte für den Weg zur Schule können bezahlt werden. All das erscheint sinnvoll. Aber wie viel davon kommt bei den Familien an?

Die Nationale Armutskonferenz (NAK) kritisiert, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien weiterhin benachteiligt seien. Etwa 30 Prozent der anspruchsberechtigten Familien nutzten das Bildungs- und Teilhabepaket zudem gar nicht. Außerdem würden die Hilfen unterschiedlich stark beansprucht. Das liege nicht an den Betroffenen, sondern an der schlechten Informationspolitik und Konstruktionsfehlern, meint die NAK. In seiner jetzigen Form sei das Paket ein „bürokratisches Ungetüm“.

„Alle sechs Monate muss ich für jedes Kind einen Leistungsbescheid einreichen und ein Antragsformular ausfüllen, damit der Sportverein bezahlt wird“, erzählt Annette. In ihrem Alltag sei dafür kaum Zeit. „Immer wenn ich mich an den Schreibtisch setze, um das zu erledigen, kommt etwas dazwischen. Warum kann ich nicht einmal bestätigen, dass mein Kind im Sportverein ist, und dann eine monatliche Pauschale bekommen?“

Auch auf eine Unterstützung für Sportbekleidung hätte Annette Anspruch. Tatsächlich nutzt sie den aber kaum. „Wenn mein Kind mir sagt, dass es neue Turnschuhe braucht, dann werden eben neue Turnschuhe gekauft. Dabei denke ich doch nicht jedes Mal daran, dass ich mir das Geld anschließend erstatten lassen könnte.“ Die Unterstützungen  des Bildungs- und Teilhabepakets sind begrenzt: Für den Sportverein stehen höchstens zehn Euro pro Kind und Monat zur Verfügung. „Die günstigen Sportgruppen sind aber meistens überfüllt“, berichtet Annette. Bei teureren Angeboten bezahlt sie die Differenz aus eigener Tasche. Das Geld fehlt dann an anderer Stelle. Trotz Bildungs- und Teilhabepaket.

Um eine Monatskarte bezahlt zu bekommen, muss die Grundschule mindestens 2,5 Kilometer von der Wohnung entfernt liegen. Annettes Sohn besucht eine Schule, die nur ein wenig näher liegt. Im Sommer fährt er mit dem Fahrrad. Im Winter aber muss er eine halbe Stunde durch die Dunkelheit laufen.

Eine besonders große Belastung für Annette sind Schulausflüge. Das Geld dafür muss sie, besonders bei kurzfristigen Ausflügen, vorher auslegen und kann erst im Nachhinein eine Erstattung beantragen. Wie soll eine Familie, die von Hartz IV lebt, ständig in Vorkasse gehen? Ganz zu schweigen von der Zeit, die es kostet, bei fünf Kindern für jeden Schulausflug eine Erstattung zu beantragen.

Die Hamburger Sozialbehörde erklärt dazu auf Anfrage: „Nicht möglich ist es, […] eine allgemeine Vorauszahlung in die Klassenkasse zu übernehmen, ohne dass tatsächlich ein konkreter Ausflug geplant ist.“ Also muss Annette die Klassenkassen aus eigener Tasche füllen. Bei fünf Kindern sind das fünf Kassen, die meist alle gleichzeitig leer zu sein scheinen. Annette macht das Beste aus ihrer Situation. Die kleine Dreizimmerwohnung bietet nur wenig Platz für sechs Menschen. Die drei Jüngsten teilen sich ein Zimmer, die beiden Ältesten haben zwei halbe Zimmer für sich allein. Und Annette schläft im Wohnzimmer. Die Wohnung ist sehr hell und freundlich eingerichtet – für die Mutter gibt es trotzdem keinen Rückzugsort.

Text: Lina Henneke*
Illustration: Tronje Thole van Ellen**

* Lina ist 18 Jahre alt, macht ein FSJ im Kindergarten und will danach als Au-pair nach Neuseeland. Studienwunsch: Richtung Germanistik.

**Tronje (25) ist freier Künstler und hat die Illu für diesen Text erstellt. Er ist Graffitisprayer, Illustrator, macht politische Bilder, kombiniert Stile und Techniken – und modelt. Seine Website: www.tronjevanellen.de