Greifen Sie zu!

Im Wilhelmsburger Laden ohne Kasse können Arme einkaufen, ohne zu bezahlen

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Pilze, einfach wieder mal Pilze. Hinten im Gemüseregal finden sich heute gleich mehrere Kisten, gefüllt mit Champignons und Austernpilzen. „Die mag ich sehr gerne essen“, lächelt schüchtern eine ältere Frau, „aber in den normalen Läden sind die zu teuer für mich.“ Jetzt kann sie sich frei bedienen, noch einen Kopf Blumenkohl dazu und ein paar Zwiebeln, Paprika, Brot vom Vortag oder auch Yoghurt und Käse.
Das Angebot im „Laden ohne Kasse“ ist tagesabhängig. Immer abhängig davon, welche Lebensmittel zuvor von kleinen Bäckereien oder grossen Supermarktketten zur Verfügung gestellt wurden.

Seit nunmehr fünf Jahren organisiert die Arbeitsloseninitiative Wilhelmsburg die Wilhelmsburger Tafel, zunächst im Gemeindehaus der Emmaus-Gemeinde, Rothenhäuser Damm, und seit Ende vergangenen Jahres im renovierten „Deichhaus“ am Vogelhüttendeich: Zwanzig ehrenamtliche Mitarbeiter sammeln Lebensmittel ein, zumeist überschüssige oder auch einfach nur falsch deklarierte Ware, um sie an bedürftige Menschen aus dem Viertel zu verteilen. Anders als die seit fast acht Jahren im gesamten Stadtstaat arbeitende „Hamburger Tafel“ mit ihrer zentralen Aufgabe, soziale Einrichtungen mit Mitteln zum Leben zu versorgen, werden in Wilhelmsburg auch ein Laden sowie ein Café betrieben. Einmal die Woche bereiten Freiwillige ein Mittagessen – einmal warm essen für einen Euro. Für manche Leute wird das „Deichhaus“ so auch zu einem Ort der Begegnung.
„Man spricht dann mit anderen Menschen“, sagt eine 61-jährige Frau, allein lebende Witwe, und das Essen, na ja, das sei sowieso gut. Seit zwei Jahren kommt sie zur „Wilhelmsburger Tafel“, und im Laden „nehme ich mir das, was gerade vorhanden ist. Daraus kann ich mir zu Hause immer etwas ganz Leckeres zubereiten.“ Ich kann mir ja sonst nicht viel kaufen, sagt sie, nur 50 Mark bleiben jede Woche zum Leben. „Mark“, fügt sie resolut hinzu, „nicht Euro“.

„Witwen“, erzählt später Harald Pietrowski, „haben es hier im Stadtteil oft besonders schwer. Wenn der Mann gestorben ist, bleibt ihnen nur eine ganz karge Rente.“ Seit ein paar Monaten arbeitet der 60-Jährige ehrenamtlich für die Wilhelmsburger Tafel. 45 Jahre Hafen auf dem Kreuz, sagt er, und nach der Frühpensionierung „wollte ich nicht in ein schwarzes Loch fallen. Deshalb bin ich hier.“ Zusammen mit einigen anderen Ehrenamtlichen begleitet er Ladenbesucher, um ihnen die Ware zu verstauen und auch darauf zu achten, dass sich alle gerecht bedienen. Manchmal, sagt der Helfer, „da muss man die Leute auch drängen, damit sie ausreichend nehmen. Vor allem ältere Leute schämen sich und wollen mit nur einer Tomate wieder gehen.“
Die Frau mit den Pilzen umfasst ihre Tüten, sie will zurück zu sich nach Hause. Das dritte Mal erst war sie heute Gast der Tafel. „Eigentlich weiß ich schon länger hiervon“, sagt sie, „und ich hab auch nur eine ganz kleine Rente. Aber man geht dann erstmal doch nicht hin.“ Man könnte ja von anderen gesehen werden, erklärt die 72-Jährige ihre ursprüngliche Scheu. Aber irgendwann habe sie sich gesagt, Quatsch, jetzt gehst du da hin, das ist bestimmt eine gute Sache. „Ich hab dann meine Hemmungen verloren“, sagt sie und grüßt leise zum Abschied. „Bis zum nächsten Mal.“

Auch beim nächsten Mal werden bis zu einhundert Menschen den Wilhelmsburger Kellerladen aufsuchen. Überwiegend Stammkunden habe sie, sagt Koordinatorin Karin Rohde, allesamt bedürftige Menschen, etwa ein Drittel ausländische Frauen und Männer, viele Ältere dabei aber auch junge Frauen mit kleinen Kindern. Morgen, hofft sie, hat sie vielleicht wieder etwas Besonderes für ihre Besucher. Vielleicht neue Körbe mit überschüssigen Pilzen.

Peter Brandhorst

Abwärts in die Armut

Hilfseinrichtungen klagen: Immer weniger Geld für immer mehr Arme

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Immer mehr Bedürftige stehen in Hamburgs Suppenküchen und Tagesstätten Schlange. Deshalb bräuchten die Hilfseinrichtungen eigentlich mehr Geld. Doch das Spendenaufkommen sinkt, und der Staat spart.

„Das ist nicht mehr normal“, sagt Marion Sachs. Früher, so die stellvertretende Leiterin von „Mahlzeit“, seien im Sommer 20, höchstens 40 Leute pro Tag zum Essen gekommen. Jetzt sind es 80. Klar, manche Einrichtungen haben in den Sommerferien geschlossen, die Bedürftigen verteilen sich auf das geschrumpfte Angebot. Aber: „So stark wie in diesem Jahr ist der Andrang im Sommer noch nie gewesen“, bestätigt Sonja Praß, Leiterin der Suppenküche „Alimaus“.
Viele ganz neue Gesichter seien darunter, viele Frauen und viele junge Menschen. Nicht alle seien obdach- oder wohnungslos, so wie früher. „Es kommen immer mehr Menschen, die mit dem Euro einfach nicht mehr hinkommen, und denen die Sozialhilfe gekürzt wurde“, sagt Praß. „Sogar Kinder laufen hier herum – zwischen den ganzen Haudegen“, so die 30-Jährige, die sich einen besseren Spielplatz vorstellen kann.

Womit der Anstieg der Hilfesuchenden zusammenhängen könnte, weiß Gabi Brasch, zuständig für sozialpolitische Projekte beim Diakonischen Werk: „Für die Menschen wird es immer schwieriger, ihre Notlage beim Sozialamt geltend zu machen“, sagt sie. Eingeschüchterte Hilfeberechtigte scheitern an Rezeptionen, Überforderte am Ausfüllen von Fragebögen oder an der schlichten Weisung: „Such dir einen Job.“ So fallen viele durch die Maschen des sozialen Netzes – und landen bei Hilfseinrichtungen.

Auch Uschi Hoffmann von der Stadtteildiakonie Harburg und Heimfeld beobachtet, dass nicht mehr nur Obdachlose auf Hilfe zurückgreifen müssen. „Es fragen unheimlich viele Leute nach Kleidung, die man vor Kurzem noch als normal situiert eingestuft hätte“, so Hoffmann. Darunter Familien mit Kindern, viele Menschen aus der unteren Mittelschicht.

Und die Diakonin glaubt, dass sich die Armuts-Spirale weiter abwärts dreht. Es werde immer schwieriger, die Menschen zu beraten. „Welche Perspektiven soll ich mit den Jugendlichen und Familien entwickeln?“, fragt sie angesichts fehlender Jobs und gestrichener Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen. Hoff- mann: „Den Leuten wird jede Chance genommen. Wenn das so weiter geht, züchten wir uns amerikanische Verhältnisse heran – oder schlimmeres.“

Für Sabine Vetters, Koordinatorin des Vereins Hilfspunkt (alter Name: Armenhilfe), ist die Entwicklung eindeutig: „Die Armut verfestigt sich.“ Seit fast zehn Jahren beobachtet die 44-Jährige, dass sich immer mehr Menschen in den Suppenküchen zur Essensausgabe einfinden. „Wer sich erst mal traut, so ein Hilfsangebot anzunehmen, hat in der Regel einen langen Armutsweg hinter sich“, so Vetters. „Die Leute versuchen, den Schein der Normalität so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.“

Ein Problem kommt selten allein: Eigentlich bräuchten die Hilfseinrichtungen mehr Geld, um mit den steigenden Besucherzahlen fertig zu werden. Doch seit Anfang des Jahres gibt es einen drastischen Spendeneinbruch. Rund 55 Prozent weniger Spenden gingen im Vergleich zum Juli des Vorjahres bei „Mahlzeit“ ein. Und Sonja Praß vom Verein „Alimaus“ dachte beim Blick auf den Kontostand schon im März: „Noch ein Monat und wir sind pleite.“
Die 30-Jährige begann daraufhin, wie wild die Werbetrommel zu rühren. Das machte sich kurzfristig bezahlt. Doch der Erfolg wird nicht von Dauer sein. Selbst große Verbände verzeichnen im Vergleich zum ersten Halbjahr 2001 einen Spendenrückgang – trotz schlagkräftiger Öffentlichkeitsarbeit: 10 bis 15 Prozent sind es bei der Caritas, 6 Prozent beim Diakonischen Werk.

Kleine Vereine wie die Alimaus, die – wenn überhaupt – nur eine Angestellte beschäftigen und sich ansonsten durch Ehrenamtliche über Wasser halten, haben weder Zeit noch Geld für Spendenwerbung. „Ich habe im Moment ja nicht mal eine Küchenleitung“, sagt Sonja Praß. Selbst stadtbekannten Projekten wie der Hamburger Tafel, in denen bis zu 130 Ehrenamtliche anpacken, droht die Luft auszugehen: Sie bekam rund 90 Prozent weniger Spenden, vergleicht man die Juni-Monate 2001 und 2002.

Die Begründungen der zum Teil langjährigen Unterstützer, warum sie ihre Zahlungen einstellen, spiegeln den Zustand der Gesellschaft wieder: Angst vor Jobverlust, Arbeitslosigkeit oder sogar das Abrutschen in die Sozialhilfe. „Die Mieten sind gestiegen, die Menschen müssen einen Zweitjob annehmen, bekommen oft nur noch Zeitverträge und müssen sich um Dinge wie ihre Altersversorgung auch noch kümmern“, nennt Michael Hansen, Referatsleiter für soziale Projekte bei der Caritas, weitere Gründe für die allgemeine Verunsicherung. „Und seit der Einführung des Euro ist obendrein vieles teurer geworden.“

Schon sieht Holger Hanisch vom Cafée mit Herz ein neues Problem auf sich und andere zukommen: „Viele Menschen sagen jetzt, sie hätten für die Opfer der Flutkatastrophe gespendet und könnten nicht noch mal was geben.“

Etliche Einrichtungen der Obdachlosen- und Armenhilfe, wie Alimaus, Mahlzeit, Cafée mit Herz oder Hamburger Tafel, finanzieren sich seit Jahren ausschließlich über Spenden und durch die Hilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter. Vom Sparkurs der Sozialbehörde unter Senatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) sind sie trotzdem betroffen: Die Straßensozialarbeit auf St. Pauli zum Beispiel wurde geschlossen, die im Karoviertel ist ebenfalls unbesetzt. „Die jungen Leute und die Punks, die damit ihre Anlaufstellen verloren haben, die sitzen jetzt zusätzlich bei uns“, sagt Holger Hanisch vom Cafée mit Herz. Die Besucherzahl in der Tagesaufenthaltsstätte stieg von täglich 100 Menschen auf bis zu 180 in diesem Sommer.

„Man kann freiwilliges Engagement zwar fördern, aber man darf den Bogen auch nicht überspannen“, kritisiert Michael Hansen die Sparpolitik. Er fordert, dass der Staat den Projekten eine solide finanzielle Basis ermöglicht. Die Stimmung bei den Hilfsprojekten sei inzwischen vermiest: „Selbst wenn die Behörde einem Projekt etwas geben würde: Man muss ja ständig Angst haben, anderen das Geld wegzunehmen.“
Übrigens: Hansen sorgt sich um die Zukunft der „Mobilen Hilfe“. Das Arzt-Mobil für Obdachlose bekam 65 Prozent weniger Spenden.

Annette Bitter