Zurück in die Zelle

Vorzeigegefängnis Moritz-Liepmann-Haus soll geschlossen werden: Bewohner kämpfen für seinen Erhalt

(aus Hinz&Kunzt 144/Februar 2005)

Seit 33 Jahren bereitet das Moritz-Liepmann-Haus (MLH) Gefangene auf ein Leben in Freiheit vor. Nun kommt das Aus: Justizsenator Roger Kusch will die Einrichtung in der Alsenstraße in Altona-Nord zum 15. Februar schließen. Die Insassen sollen in die JVA Glasmoor und die Sozialtherapeutische Anstalt Altengamme verlegt werden.

Ursprünglich sollte der Standort erst Ende 2005 aufgegeben werden. „Wir wollen so vorher schon Einspar-potenziale verwirklichen“, sagte der Sprecher der Justizbehörde, Ingo Wolfram.

Das MLH gilt seit seiner Eröffnung 1972 als Pionierprojekt eines modernen Strafvollzugs. Vorausgegangen war die Erfahrung, dass ehemalige Häftlinge in den ersten sechs Monaten nach ihrer Entlassung besonders rückfallge-fährdet sind. So kam man auf die Idee, in einem besonderen Gefängnis bereits zum Ende der Haftzeit den Alltag zu proben.

Die „Bewohner“ – wie die Insassen im MLH genannt wer-den – müssen sich eine Arbeit außerhalb des Hauses suchen. So können sie sich an einen geregelten Tagesab-lauf gewöhnen. Das ist zwar auch sonst gängige Praxis im offenen Vollzug. Doch das MLH ist im Gegensatz zu anderen Gefängnissen zentral gelegen: Die S-Bahnstation Holstenstraße ist in wenigen Minuten zu erreichen.

Außerdem geht die Freiheit im MLH weiter: Nach ihrer Arbeit dürfen die Bewohner täglich bis zu acht Stunden außerhalb des Gebäudes verbringen. Zu ihren Zimmern besitzen sie einen eigenen Schlüssel. Sie können Besucher mit auf ihr Zimmer nehmen. Und die Fenster haben keine Gitter. Doch Einschränkungen gibt es natürlich auch: Nach der Arbeit müssen sich alle Bewohner zurückmelden, bevor sie ihre Freizeit nutzen können. Um 23.30 Uhr müssen sie spätestens wieder da sein. Außerdem dürfen die Insassen keine Drogen oder Alkohol konsumie-ren. Wer eklatant gegen die Regeln verstößt, wird wieder in den Knast zurückverlegt, aus dem er kommt. Das Konzept des Hauses geht auf: Gefangene verzichten sogar auf eine vorzeitige Entlassung, nur um ins MLH wechseln zu können.

Richy Edel ist wütend über den Plan des Justizsenators. Der Insassenvertreter des MLH befürchtet, die gewon-nenen Freiheiten könnten in anderen Gefängnissen wieder eingeschränkt werden. „In Glasmoor sind drei Stunden Freizeit das Maximum“, so der 38-Jährige. „Und Besuch dürfen wir nur noch einmal pro Woche empfan-gen – in einem Raum mit 20 anderen Gefangenen.“ Durch den längeren Fahrtweg und die schlechtere Verkehrsanbindung sieht er die Arbeitsplätze der Bewohner bedroht. „Wir dachten, die Abmachung, dass wir hier unsere restliche Zeit verbringen können, wäre für beide Seiten bindend, nicht nur für uns“, sagt Edel.

Behördensprecher Wolfram versucht, zu beschwichtigen: „Wir sind dabei, gemeinsam mit dem Beirat des Moritz-Liepmann-Hauses für jeden Bewohner eine Lösung zu finden.“ Auch vorzeitige Entlassungen seien im Gespräch, soweit dies rechtlich möglich sei.

Till Steffen von der GAL kritisiert das Vorhaben des Justizsenator dennoch. Zwar würden den jetzigen Bewohnern Zugeständnisse gemacht. Aber: „Mit der Schließung des Moritz-Liepmann-Hauses fährt die Behörde den offenen Vollzug zurück“, so der justizpolitische Sprecher. „Das wird zu großen gesellschaftlichen Problemen führen.“ Denn so lernten die Häftlinge nicht mehr, selbstständig zu handeln und wären mit der plötzlichen Freiheit überfordert. Das Konzept des MLH werde in den anderen Gefängnissen nicht zu realisieren sein, erklärt Steffen. „Es wird ersatzlos wegfallen. Das ist unverantwortlich.“

Behördensprecher Wolfram wehrt ab: „Die Angebote des MLH können auch in anderen Einrichtungen fortgeführt werden.“ Eines jedoch ist klar: Mit dem Moritz-Liepmann-Haus wird eine Vorzeigeeinrichtung des Hamburger Strafvollzugs geschlossen.

Philipp Ratfisch

Mit einem Bein draußen

Im Moritz-Liepmann-Haus bereiten sich Gefangene auf die Freiheit vor

Ein Gefängnis mitten im Stadtteil, eine Anstalt, die kaum einer kennt. Im Moritz-Liepmann-Haus in Altona verbringen Strafgefangene die letzten Monate vor ihrer Entlassung. Wird Justizsenator Roger Kusch das Haus erhalten?

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Der zweigeschossige Bau in der Alsenstraße ist nur ein paar Schritte vom Musical-Theater „Neue Flora“ entfernt. Das Grundstück hat keine Mauer, keine meterhohen Zäune, keine Scheinwerfer. Das Moritz-Liepmann-Haus (MLH) gibt sich diskret. Noch nicht mal ein Schild am Eingang weist darauf hin, dass es sich um die Justizvollzugsanstalt XIII handelt.

Im Haus leben 38 Männer und 7 Frauen. Sie haben zum Teil Jahre in anderen Anstalten hinter sich und sind für die letzten Monate ihrer Haft ins MLH gewechselt, um sich auf die Entlassung vorzubereiten. Wichtigste Bedingung dort: Die Insassen müssen sich Arbeit suchen. Ziel ist „ein nahezu an die Freiheit angepasstes Leben noch während der Haft“, wie es in einem Info-Blatt heißt. Oder wie ein Insasse formuliert: „Man sitzt mit einem Bein schon draußen.“

Freigang für den Job gibt es zwar auch in anderen Hamburger Gefängnissen. Doch das MLH hat den Vorteil einer zentralen Lage: Die S-Bahn Holstenstraße ist in Sichtweite. Insassen erreichen ihre Arbeitsstellen wesentlich leichter, als wenn sie sich von Vierlande oder Glasmoor auf den Weg machen müssen. Das MLH ist außerdem die einzige Einrichtung in Hamburg, die ausschließlich für den Übergang zwischen Haft und Freiheit konzipiert wurde. Bei der Eröffnung 1972 war es bundesweit ein Modellprojekt.

Vorausgegangen war die Erfahrung, dass in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung eines Häftlings das Rückfall-Risiko am größten ist. So entstand die Idee, mit Integration noch während der Haftzeit zu beginnen und dafür ein spezielles Haus zu schaffen. Ein mutiger Schritt, getragen von der Aufbruchstimmung jener Zeit. Selbst die konservative „Welt“ stellte zur Eröffnung des MLH zufrieden fest: „Auf dem Wege zu einem modernen Strafvollzug ist Hamburg wieder einen Schritt vorangekommen.“

Benannt ist das Haus nach dem Strafrechtsprofessor Moritz Liepmann, der von 1919 bis 1928 an der Universität Hamburg lehrte und führender Kopf in der Reform des Strafvollzugs war.

Zwischen sechs und zwölf Monaten sind die Insassen im MLH. Sie leben in Ein- bis Drei-Bett-Zimmern, die sie mit eigenen Dingen ausstatten dürfen, die sie aber auch selber sauberhalten müssen. Die Regeln im Haus sind strikt: kein Alkohol, keine Drogen – was durch unangekündigte Kontrollen überwacht wird.
Das Verlassen des Hauses und die Rückkehr werden auf Zeitkarten festgehalten. Pünktlichkeit ist angesagt, „mal sehen“ gibt’s nicht. Wer nach der Arbeit noch Ausgang haben will, muss in der Regel erst ins Haus zurückkehren, um sich dann wieder abzumelden. Dass die rund 20 Mitarbeiter den Insassen ständig mit Fragen auf den Leib rücken, gehört zum Prinzip der Anstalt („Wo sind Sie gewesen? Was haben Sie erreicht?“). Einzel- und Gruppengespräche sind Pflicht, ebenso die Teilnahme an den monatlichen Vollversammlungen. Rund zwei Drittel der Insassen halten durch und werden in die Freiheit entlassen. Die übrigen müssen zurück in reguläre Anstalten, weil sie Vereinbarungen nicht einhielten oder sogar neue Straftaten verübten.
Über die Aufnahme ins Haus entscheiden je zwei Vertreter des MLH und der „entsendenden“ Haftanstalt. Nicht genommen werden Sexualstraftäter – eine Regelung, die schon seit Eröffnung des Hauses gilt. Grund: Eltern, deren Kinder auf die benachbarte Grundschule gingen, hatten das Projekt zunächst mit Skepsis verfolgt.

Arbeit finden die Insassen zum Beispiel bei Zeitarbeitsfirmen oder in gewerblichen Jobs. Arbeitgeber schätzen offenbar, dass die Anstalt mit in der Pflicht ist: Wenn ein Arbeitnehmer zum Beispiel nicht erscheint, können sie sich ans MLH wenden. Wie in anderen Anstalten auch müssen Gefangene, die Geld verdienen, einen Teil für die Zeit nach der Entlassung zurücklegen. Sie müssen außerdem einen Beitrag zu den Haftkosten leisten und, falls erforderlich, Unterhalt be- und Schulden abzahlen.

Seit Justizsenator Roger Kusch (CDU) alle Justizvollzugsanstalten auf den Prüfstand gestellt hat, ist die Zukunft des MLH jedoch ungewiss. Hardliner Kusch ist kein Freund von offenem Vollzug, setzt auf Wegschließen und muss für zusätzliche Haftplätze, die im Großgefängnis Billwerder geplant sind, Geld und Personal mobilisieren. Könnte dafür eine „weiche“ Einrichtung wie das MLH geopfert werden, die wegen der sozialpädagogischen Begleitung personalintensiver ist als geschlossener Vollzug? Die Leitungsstelle im MLH ist bereits seit zehn Monaten vakant. Die Neubesetzung wurde nach dem Regierungswechsel gestoppt.
Eine Schließung des Moritz-Liepmann-Hauses steht überhaupt nicht zur Debatte“, sagt Behördensprecher Kai Nitschke. Die Leitungsstelle sei derzeit zwar nicht ausgeschrieben, solle aber wieder besetzt werden („im Augenblick funktioniert das auch so ganz gut“). Die zusätzlichen Haftplätze in Billwerder seien „Zukunftsmusik“, Auswirkungen auf das MLH gebe es nicht, zumal das Klientel – in Billwerder geschlossener Vollzug, im MLH offener Vollzug – völlig unterschiedlich sei.

Die Sorge, das MLH könne geschlossen werden, hat immerhin die 17 Hamburger Strafvollstreckungsrichter auf den Plan gerufen (also jene Richter, die sich mit Anträgen und Beschwerden von Gefangenen befassen). Sie gaben im August ein einhelliges Votum für das Haus ab: Die Anstalt erbringe „vorbildliche Leistungen“ bei der Resozialisierung und sei „in der Palette der Hamburger Anstalten unentbehrlich“, so die Richter in einem Schreiben an das Strafvollzugsamt.

Das Moritz-Liepmann-Haus – vielleicht Hamburgs unauffälligstes Gefängnis. Die einzigen Gitter befinden sich vor den Fenstern des Kassenraums im Erdgeschoss. Sie sollen nicht Ausbrüche verhindern, sondern Einbrüche.

Detlev Brockes