Wohin mit Sicherheitsverwahrten?

Die Justizbehörde hat 31 Zimmer für Sicherungsverwahrte in Santa Fu eingerichtet. Aber wo sollen die hin, deren Sicherungsverwahrung endet und die immer noch als gefährlich gelten? Keiner will sie haben. Zwischenlösung: das Haftkrankenhaus des Untersuchungsgefängnisses.

(aus Hinz&Kunzt 216/Februar 2011)

„Innendrin ein Verlierer“

Wie der verurteilte Mörder Iwan Kirr sein Leben änderte

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Wenn Iwan Kirr etwas zu seiner Jugend einfällt, dann ein bestimmtes Wort. „Totalitär. Ich wuchs in einer totalitären Familie und in einem totalitiären Regime auf“, sagt der 36-jährige Rumäniendeutsche. Er sagt das nicht als Entschuldigung, er will seiner Geschichte auf den Grund gehen. Einer Geschichte von Ohnmacht und Wut, Gewalt und Hass.

Als Kind war er Opfer, als Erwachsener wurde er Täter. Erst Jahre nach seiner Verurteilung als Mörder entwickelte er Scham und Schuldbewusstsein und überwand seine immer lauernden Aggressionen. Kirr, der seit 1988 in Hamburg im Gefängnis sitzt, wurde sogar Mitbegründer von „Gefangene helfen Jugendlichen“, einem Projekt zur Gewaltprävention.

Ein Außenseiter war Iwan Kirr schon immer. In Rumänien galten die Deutschen als suspekt. Der Vater, für den Jungen unerreichbar und unberechenbar, schwor die Familie darauf ein, kein Sterbenswörtchen von Gesprächen nach außen dringen zu lassen. Schon eine harmlose Frage von Iwan an seinen Vater, etwa „Warum triffst du dich mit diesem Mann?“, genügte, und sein Vater rastete aus und verprügelte ihn. Das Ergebnis: „Ich hatte kaum Kontakt zu anderen.“

Andere Kinder wurden für ihn zu einer ständigen Bedrohung. „Ich fühlte mich immer angegriffen oder verspottet.“ In ihm brodelte es, ständig stand er unter Spannung, ein Gefühl zwischen Ohnmacht und wilder Aggression. Schon damals griff er zu dem einzigen Mittel, das er kannte: Wer ihn blöd anguckte, wurde vertrimmt.

Die einzigen Freunde, die er hatte, waren die Pferde. „Ich spielte ihnen auf der Flöte etwas vor und sprach mit ihnen.“ Mit zwölf Jahren gewann er die rumänischen Jugendmeisterschaften im Dressur- und Springreiten. Und schon als Jugendlicher ritt er Pferde zu. In gewisser Weise identifizierte er sich mit den Tieren. Als Deutschstämmiger, so glaubt er, bekam er zum Zureiten sowieso die schwächsten Tiere. „Ich versuchte, das Beste aus ihnen herauszuholen.“ So wie aus sich. Aber zwischen den Pferden und ihm herrschte nicht nur reine Liebe. „Ich habe es genossen, dass sie von mir abhängig waren und mir bedingungslos gehorchten.“ Die Kehrseite, trotz aller Siege: „Ich fühlte mich klein und mickrig.“

Als Iwan 15 war, beschloss der Vater zu fliehen – mit ihm. Die Mutter und die Großmutter sollten später nachkommen. Die Ankunft im Westen war für ihn ein Schock. Die Trennung von der Mutter, die Uniformierten an der Grenze, die falschen Papiere, die Odyssee von Lager zu Lager. „Und diese Farben!“ Iwan glaubte, noch nie so viel Buntes gesehen zu haben. „Ich kam aus einer grauen Welt“, sagt er. Und jetzt: Alles war zu haben – sofern man Geld hatte. Auch er wollte etwas vom großen Kuchen abhaben.

Aber vorerst musste er malochen ohne Ende: „Wir mussten Mutti zurückkaufen.“ Denn umsonst wollte Rumänien die Hausfrau nicht gehen lassen. Wer dran glauben musste, waren ausgerechnet Pferde. Iwan ritt Pferde zu; zehn, elf bewegte er am Tag. Aber nicht so, wie er es gewohnt war: Er barrte sie, das heißt, er trieb sie mit Gewalt kurzfristig zu Höchstleistungen an, so dass sie sich gut verkaufen ließen.

„Wir Türsteher waren die Könige der Nacht“

Apropos harte Hand: Iwan fürchtete sie, nämlich die des Vaters, suchte sie aber gleichzeitig. Mit 18 ging er zur Fremdenlegion. Bedingungsloser Gehorsam und der Wille zum Töten wurden antrainiert. Hier konnte Iwan seine Aggressionen legal ausleben. Nach einem Jahr desertierte er zwar, aber nicht wegen der Gewalt in der Legion. „Ich wollte leben wie andere junge Menschen, lachen, ausgehen – und nicht immer gedrillt werden.“

In Hamburg, wo seine Mutter lebte, unternahm er noch einmal einen Anlauf, Abitur zu machen. Aber es ging nicht: „Alles wurde ausdiskutiert, ich war es gewohnt, Sachen zu pauken. Diesem Unterricht war ich nicht gewachsen.“ Und: „Nach der Fremdenlegion konnte ich mit dem pubertären Geplänkel meiner Mitschüler nichts anfangen.“

Es war kein Zufall, dass Iwan Kirr in die Türsteherszene geriet. Denn hier fand er alles, was er suchte: Er hatte Macht, Menschen nach Belieben einzulassen – oder ihnen den Zutritt zu verwehren. Frauen bewunderten ihn, Männer hatten Angst vor ihm. „Wir Türsteher“, sagt Kirr, „waren die Könige der Nacht.“ Aber das genügte trotzdem nicht: „Innendrin fühlte ich mich wie ein Verlierer. Ständig hatte ich das Gefühl, dass sich alle über mich lustig machen.

Kirr fühlte sich völlig im Recht, jedem, der ihn „irgendwie“ ärgerte, „eine reinzuhauen“. Immer tiefer geriet er in die kriminelle Szene, Schlägereien waren für ihn normal, und manchmal trieb er auch Schutzgelder ein.

Eines Tages wurde ein Freund beleidigt. Kirr rastete aus, sah nur noch rot. „Ich hatte das Gefühl, der Mann verhöhnt nicht meinen Freund, sondern mich.“ Er packte zu, wie er es bei der Fremdenlegion an Strohpuppen geübt hatte, der Mann war tot – innerhalb von Sekunden. Nichts, rein gar nichts empfand er nach dem Mord, keine Schuld, kein Entsetzen. „Für mich war der Krieg ausgebrochen – so wie in der Fremdenlegion.“

Im Gefängnis fand sich Kirr blendend zurecht: Hier gilt das Recht des Stärkeren, und zu denen gehörte er allemal. Dann geriet sein Weltbild plötzlich aus den Fugen. Eine Freundin, die während der ganzen Jahre zu ihm gehalten hatte, fragte ihn eines Tages: „Was ist damals eigentlich passiert?“ Diese an sich simple Frage war ein Schock für ihn. „Zum ersten Mal empfand ich so etwas wie Scham und Schmerz.“

Das war 1996, sechs Jahre nach seiner Inhaftierung. Seitdem ist Iwan auf der Suche nach sich selbst. Er fing sogar eine Therapie an, was im Knast oft verpönt ist, etwas für angebliche „Weicheier“. Dabei ist das Gegenteil der Fall. „So hart habe ich noch nie gearbeitet“, sagt Iwan. Immer wieder musste er sich und seine Taten in Frage stellen – und langsam lernen, die Verantwortung dafür zu tragen. „Alleine hätte ich es nie geschafft“, sagt er und meint damit natürlich seine Freundin, die heute seine Lebensgefährtin ist, aber auch seinen Therapeuten Horst Uherek. Beide hielten unbeirrt zu ihm.

Wer ihn von früher kennt, glaubt einen anderen Menschen vor sich zu haben: offen, freundlich, liebevoll. Die unterschwellige Aggression, sonst immer spürbar, ist weg. Aber Iwan, der sich inzwischen im offenen Vollzug auf das Leben draußen vorbereitet, ist auf der Hut vor sich selbst. „Manchmal, da spüre ich sie noch, die Aggressionen“, sagt er. Aber sie überfallen ihn nicht mehr. Alle inneren Alarmanlagen gehen dann an. Und er weiß, wie er sich „runterschrauben“ kann. „Wenn mich jetzt ein Autofahrer ärgert, sage ich mir: Mensch, der hat einen schlechten Tag, vielleicht ist er wirklich ein Idiot. Na und, hat doch nichts mit mir zu tun.“

Mütter hinter Gittern

Richter kritisiert harten Kurs im Strafvollzug

(aus Hinz&Kunzt 118/Dezember 220)

Hochschwangere kommen wegen kleiner Delikte ins Gefängnis – und müssen während der Haft entbinden. Junge Mütter, die Geldstrafen nicht bezahlt haben, werden von ihren Babys getrennt und eingesperrt. Horst Becker, Vorsitzender Richter am Landgericht und ehemaliger Leiter der Gnadenabteilung, hält diese neue Praxis in Hamburg für unangemessen und herzlos.

Marianne K.* hatte sich gefreut auf ihr Baby. Trotz allem. Denn die junge Frau ist drogenabhängig. Sie wird substituiert, kann aber noch nicht ohne eine Zusatzdroge leben. Aber sie hat Unterstützung: vom Jugendamt und von IGLU, die sich um drogenabhängige Mütter und ihre Kinder kümmern. Für die Zeit nach der Geburt war alles geplant. Das Baby sollte in einem Kinderschutzhaus leben, Marianne in der Nähe. Sie wollte es immer besuchen, bis sie soweit wäre, sich alleine um ihr Kind zu kümmern.

Auch Bea W.* ist drogenabhängig und wird substituiert. Auch sie entband im Oktober. IGLU und das Jugendamt halten sie für so stabil, dass sie – betreut – mit ihrem Baby zusammenleben kann.

Die Kinder kamen – wie häufig bei drogenabhängigen Müttern – zu früh auf die Welt und litten unter Entzugserscheinungen. Im Kinderkrankenhaus Altona, das spezialisiert ist auf diese Symptome, mussten sie stationär behandelt werden. Die Mütter besuchten sie. Eine Phase, die für die Mutter-Kind- Bindung entscheidend ist.

Noch in dieser Zeit wurden beide Frauen bei einer Personenkontrolle festgenommen. Gegen beide lag ein Haftbefehl vor – weil sie Geldstrafen nicht bezahlt hatten. Nicht bezahlen konnten. Obwohl sie frisch entbunden hatten und obwohl ihre Babys noch im Krankenhaus waren, wurden sie im Oktober – nur wenige Tage nacheinander – ins Untersuchungsgefängnis gebracht.

Inzwischen sind beide Frauen in den Frauenknast Hahnöfersand überstellt worden. Noch im UG stellten sie ein Gnadengesuch, die erst Ende November positiv entschieden wurden.

„Ich kann mich nicht entsinnen, dass eine Frau, deren Baby bei uns stationär behandelt wurde, einfach verhaftet worden wäre“, sagt Dr. Michael Bentfeld vom Kinderkrankenhaus Altona. Schließlich sei man doch dabei gewesen, gemeinsam Perspektiven zu entwickeln, auch wenn die Situation an sich schon schwierig sei.

Fast zeitgleich wurden drei hochschwangere Frauen in Untersuchungshaft genommen. Während ihrer Haftzeit entbanden sie und saßen dann mit ihren Babys im Knast. Eine von ihnen war auf frischer Tat beim Dealen erwischt worden, die andere hatte wiederholt Diebstähle begangen. Eine konnte ebenfalls ihre Geldstrafe nicht bezahlen, wie Kai Nitschke, Sprecher der Justizbehörde, bestätigte. Weil sie keinen festen Wohnsitz hatten, bestand nach Meinung des Haftrichters Fluchtgefahr.

Regelrecht „gefährlich“ findet IGLU-Mitarbeiterin Birgit Meyer die Situation der Frauen, die während ihrer Untersuchungshaftzeit entbunden haben und ihre Babys mit in die Zelle nehmen durften. „Natürlich ist das besser, als von den Babys getrennt zu werden“, sagt sie. „Aber die Behandlung von Säuglingen, die einen Entzug durchmachen, erfordert ganz besondere Bedingungen.“

Immerhin so besonders, dass es in Hamburg nur drei Kliniken gibt, die auf diese Behandlung spezialisiert sind, bestätigt Dr. Bentfeld. „Die Babys sind sehr empfindlich. Sie brauchen aufwändige medikamentöse und pflegerische Betreuung. Das kostet sehr viel Kraft“, so der Arzt. „Bis hin zu den Lichtverhältnissen muss alles stimmen – und sie brauchen viel Ruhe.“

„Ich erwarte ja gar nicht, dass den Frauen ihre Strafe erlassen wird, aber man könnte sie doch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben“, so IGLU-Mitarbeiterin Birgit Meyer.

Natürlich gab’s auch früher schon werdende Mütter im Knast. Nur ging man damals anders mit dem Problem um. „Selbstverständlich haben wir werdende Mütter vor der Entbindung entlassen, und selbstverständlich mussten werdende Mütter oder Mütter mit Kleinstkindern nicht in den Knast“, sagt Horst Becker, ehemaliger Leiter der Gnadenabteilung und der Sozialen Dienste der Justiz. Die Gnadengesuche seien innerhalb von ein bis drei Tagen, manchmal noch am selben Tag entschieden worden. „Wir haben immer eine Lösung gefunden, die sich am Wohl des Kindes orientiert hat, und zwar immer im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft und der Strafanstalt.“ In Hamburg habe die Gnadenabteilung übrigens nicht anders gehandelt als in anderen Bundesländern.

Worauf die Richter allerdings penibel achteten: „Dass Mutter und Kind nach der Strafunterbrechung oder der einstweiligen Einstellung der Strafvollstreckung intensiv sozialpädagogisch betreut werden.“ Wie heute auch habe es sich „meist um randständige Frauen“ gehandelt, die ihre Geldstrafen nicht zahlen konnten oder eine kurze Freiheitsstrafe wegen Bagatell- oder Beschaffungskriminalität verbüßen mussten.

Seine Entscheidungen habe er nie bereut. „Ich habe nie gehört, dass wir eine Fehlentscheidung getroffen haben“, sagt der 53-Jährige. Der jetzige Senat reagiere selbst in diesen Fällen mit gnadenloser Härte. „Dass jetzt bereits Kleinkinder zu Opfern der Strafvollstreckung werden, zeigt, wie wenig Herz der Senat für Kinder hat.“

Der jetzige Vorsitzende der Großen Strafkammer 7 ist froh, dass er im April die Leitung der Gnadenabteilung niedergelegt hat. „Ich konnte das alles nicht mehr mitmachen.“ Gnade, so seine Meinung, „gibt es in Hamburg nur noch auf dem Papier“.

Birgit Müller

* Name geändert

Mit einem Bein draußen

Im Moritz-Liepmann-Haus bereiten sich Gefangene auf die Freiheit vor

Ein Gefängnis mitten im Stadtteil, eine Anstalt, die kaum einer kennt. Im Moritz-Liepmann-Haus in Altona verbringen Strafgefangene die letzten Monate vor ihrer Entlassung. Wird Justizsenator Roger Kusch das Haus erhalten?

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Der zweigeschossige Bau in der Alsenstraße ist nur ein paar Schritte vom Musical-Theater „Neue Flora“ entfernt. Das Grundstück hat keine Mauer, keine meterhohen Zäune, keine Scheinwerfer. Das Moritz-Liepmann-Haus (MLH) gibt sich diskret. Noch nicht mal ein Schild am Eingang weist darauf hin, dass es sich um die Justizvollzugsanstalt XIII handelt.

Im Haus leben 38 Männer und 7 Frauen. Sie haben zum Teil Jahre in anderen Anstalten hinter sich und sind für die letzten Monate ihrer Haft ins MLH gewechselt, um sich auf die Entlassung vorzubereiten. Wichtigste Bedingung dort: Die Insassen müssen sich Arbeit suchen. Ziel ist „ein nahezu an die Freiheit angepasstes Leben noch während der Haft“, wie es in einem Info-Blatt heißt. Oder wie ein Insasse formuliert: „Man sitzt mit einem Bein schon draußen.“

Freigang für den Job gibt es zwar auch in anderen Hamburger Gefängnissen. Doch das MLH hat den Vorteil einer zentralen Lage: Die S-Bahn Holstenstraße ist in Sichtweite. Insassen erreichen ihre Arbeitsstellen wesentlich leichter, als wenn sie sich von Vierlande oder Glasmoor auf den Weg machen müssen. Das MLH ist außerdem die einzige Einrichtung in Hamburg, die ausschließlich für den Übergang zwischen Haft und Freiheit konzipiert wurde. Bei der Eröffnung 1972 war es bundesweit ein Modellprojekt.

Vorausgegangen war die Erfahrung, dass in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung eines Häftlings das Rückfall-Risiko am größten ist. So entstand die Idee, mit Integration noch während der Haftzeit zu beginnen und dafür ein spezielles Haus zu schaffen. Ein mutiger Schritt, getragen von der Aufbruchstimmung jener Zeit. Selbst die konservative „Welt“ stellte zur Eröffnung des MLH zufrieden fest: „Auf dem Wege zu einem modernen Strafvollzug ist Hamburg wieder einen Schritt vorangekommen.“

Benannt ist das Haus nach dem Strafrechtsprofessor Moritz Liepmann, der von 1919 bis 1928 an der Universität Hamburg lehrte und führender Kopf in der Reform des Strafvollzugs war.

Zwischen sechs und zwölf Monaten sind die Insassen im MLH. Sie leben in Ein- bis Drei-Bett-Zimmern, die sie mit eigenen Dingen ausstatten dürfen, die sie aber auch selber sauberhalten müssen. Die Regeln im Haus sind strikt: kein Alkohol, keine Drogen – was durch unangekündigte Kontrollen überwacht wird.
Das Verlassen des Hauses und die Rückkehr werden auf Zeitkarten festgehalten. Pünktlichkeit ist angesagt, „mal sehen“ gibt’s nicht. Wer nach der Arbeit noch Ausgang haben will, muss in der Regel erst ins Haus zurückkehren, um sich dann wieder abzumelden. Dass die rund 20 Mitarbeiter den Insassen ständig mit Fragen auf den Leib rücken, gehört zum Prinzip der Anstalt („Wo sind Sie gewesen? Was haben Sie erreicht?“). Einzel- und Gruppengespräche sind Pflicht, ebenso die Teilnahme an den monatlichen Vollversammlungen. Rund zwei Drittel der Insassen halten durch und werden in die Freiheit entlassen. Die übrigen müssen zurück in reguläre Anstalten, weil sie Vereinbarungen nicht einhielten oder sogar neue Straftaten verübten.
Über die Aufnahme ins Haus entscheiden je zwei Vertreter des MLH und der „entsendenden“ Haftanstalt. Nicht genommen werden Sexualstraftäter – eine Regelung, die schon seit Eröffnung des Hauses gilt. Grund: Eltern, deren Kinder auf die benachbarte Grundschule gingen, hatten das Projekt zunächst mit Skepsis verfolgt.

Arbeit finden die Insassen zum Beispiel bei Zeitarbeitsfirmen oder in gewerblichen Jobs. Arbeitgeber schätzen offenbar, dass die Anstalt mit in der Pflicht ist: Wenn ein Arbeitnehmer zum Beispiel nicht erscheint, können sie sich ans MLH wenden. Wie in anderen Anstalten auch müssen Gefangene, die Geld verdienen, einen Teil für die Zeit nach der Entlassung zurücklegen. Sie müssen außerdem einen Beitrag zu den Haftkosten leisten und, falls erforderlich, Unterhalt be- und Schulden abzahlen.

Seit Justizsenator Roger Kusch (CDU) alle Justizvollzugsanstalten auf den Prüfstand gestellt hat, ist die Zukunft des MLH jedoch ungewiss. Hardliner Kusch ist kein Freund von offenem Vollzug, setzt auf Wegschließen und muss für zusätzliche Haftplätze, die im Großgefängnis Billwerder geplant sind, Geld und Personal mobilisieren. Könnte dafür eine „weiche“ Einrichtung wie das MLH geopfert werden, die wegen der sozialpädagogischen Begleitung personalintensiver ist als geschlossener Vollzug? Die Leitungsstelle im MLH ist bereits seit zehn Monaten vakant. Die Neubesetzung wurde nach dem Regierungswechsel gestoppt.
Eine Schließung des Moritz-Liepmann-Hauses steht überhaupt nicht zur Debatte“, sagt Behördensprecher Kai Nitschke. Die Leitungsstelle sei derzeit zwar nicht ausgeschrieben, solle aber wieder besetzt werden („im Augenblick funktioniert das auch so ganz gut“). Die zusätzlichen Haftplätze in Billwerder seien „Zukunftsmusik“, Auswirkungen auf das MLH gebe es nicht, zumal das Klientel – in Billwerder geschlossener Vollzug, im MLH offener Vollzug – völlig unterschiedlich sei.

Die Sorge, das MLH könne geschlossen werden, hat immerhin die 17 Hamburger Strafvollstreckungsrichter auf den Plan gerufen (also jene Richter, die sich mit Anträgen und Beschwerden von Gefangenen befassen). Sie gaben im August ein einhelliges Votum für das Haus ab: Die Anstalt erbringe „vorbildliche Leistungen“ bei der Resozialisierung und sei „in der Palette der Hamburger Anstalten unentbehrlich“, so die Richter in einem Schreiben an das Strafvollzugsamt.

Das Moritz-Liepmann-Haus – vielleicht Hamburgs unauffälligstes Gefängnis. Die einzigen Gitter befinden sich vor den Fenstern des Kassenraums im Erdgeschoss. Sie sollen nicht Ausbrüche verhindern, sondern Einbrüche.

Detlev Brockes