Allein auf der Spitze des Eisbergs

Wie Kinder süchtiger Eltern gesund aufwachsen können

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

„Meine Mutter ist mein Ein und Alles.“ Der Blick von Michele (Name geändert) duldet keinen Widerspruch, obwohl die 16-Jährige eine Menge wegen ihrer Mutter aushalten musste. „Ich bin stolz auf sie“, sagt sie außerdem. „Darauf, was sie alles durchgemacht hat, und dass sie nun schon seit zehn Jahren clean ist.“

Micheles Mutter war heroinabhängig. Erst während der Schwangerschaft entschloss sich die Frau, aus der Szene auszusteigen. Aber eine Sucht so einfach abzuschütteln, funktioniert eben nicht, und so dauerte es weitere sechs Jahre, bis eine Entziehungskur erfolgreich verlief. Bis dahin zwang die Abhängigkeit von dem teuren Stoff zu einem Leben zwischen Tür und Angel, im Hotel, bei Bekannten, am Hauptbahnhof, ohne Kinderzimmer und ohne Spielkameraden.

Der Vater, von dem Micheles Mutter loskommen musste, um sich selbst zu retten, stürzte nach der Trennung richtig ab. Er starb am Heroin, da war das Mädchen fünf Jahre alt. Noch heute, wenn Michele die Junkies am Drob Inn oder in irgendwelchen dunklen Winkeln am Bahnhof sieht, „tut mir das innerlich so weh“, sagt sie. „So hat mein Vater auch gelebt.“ Als Michele sechs war, begann die Mutter ihren Entzug; das Kind kam ins Heim. „Das war das Schlimmste für mich“, erinnert sie sich. „Ich habe ständig geheult und Schiss gehabt, auch meine Mutter nie wieder zu sehen.“

Dass Michele ihre Mutter in Schutz nimmt und auch über den verstorbenen Vater kein schlechtes Wort verliert, ist nicht verwunderlich: „Kinder sind unglaublich loyal“, sagt Birgit Meyer von Iglu, einem Projekt zur Unterstützung von Kindern drogenabhängiger Eltern. Egal, wie sehr sie vernachlässigt werden, sie fressen ihre Ängste lieber in sich hinein und halten nach außen die Fahne hoch, so die Sozialpädagogin.

Wer aber nicht lernt, mit den Ängsten umzugehen, alles herunterschluckt und nie Kind sein kann, der läuft Gefahr, später selbst suchtkrank zu werden. Dafür sprechen die Ergebnisse der Hamburger Basisdatendokumentation (BADO), in der Kontakte mit dem ambulanten Suchthilfesystem statistisch ausgewertet sind. Im Jahr 2002 gaben rund 45 Prozent der männlichen und mehr als 50 Prozent der weiblichen Alkohol- oder Drogenabhängigen an, selbst suchtkranke Eltern zu haben. Hilfseinrichtungen wie Iglu oder auch Kompass, eine Beratungsstelle für Kinder alkoholabhängiger Eltern, schwören daher auf Prävention und individuelle Hilfe: „Wenn man Kinder stark macht, sind sie selbst weniger suchtgefährdet“, so Sozialpädagogin Heidi Lehmann von Kompass.

Stark und selbstbewusst, so wirkt die 20-jährige Annalies. Mit 15 war das Gegenteil der Fall, „da war gerade meine ganze Welt zusammengebrochen“, erzählt die junge Frau. Fünf Jahre lang hielt sich das Mädchen wacker: Die Mutter, die eine Ausbildung machte und nebenbei arbeiten ging, hatte kaum Zeit, sich zu kümmern. Also sollte der Vater ran, der gerade arbeitslos geworden war. Doch der begann zu trinken. „Der Haushalt verwahrloste immer mehr, und oft gab es nicht genug zu essen“, erinnert sich Annalies.

Immer wieder hatte der alkoholkranke Vater versprochen, nicht mehr zu trinken, immer wieder hatte das Mädchen ihm geglaubt. Hatte sich gestresst, um neben der Schule den Haushalt zu schmeißen und sich um die vier Geschwister zu kümmern. Doch statt Abstinenz stahl er Geld von den Familienangehörigen, um die Sucht zu finanzieren. Schließlich wurde das Haus gepfändet, die Familie landete beinahe auf der Straße, und die Eltern trennten sich.

Den Kontakt zum Vater brach Annalies ab. „Ich war wie taub und stumm, konnte niemandem mehr glauben, hatte wahnsinnige Angst“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand. „Es war, als sitze ich auf der Spitze eines riesigen Eisbergs, ganz allein. Und unter der Wasseroberfläche lauerte wieder ein Berg, von dem ich noch nichts wusste.“

Zum Glück erfuhr Annalies’ Mutter von Kompass. „Die waren für mich wie ein Auffangbecken“, sagt die Gymnasiastin, die sicher ist, dass sie sich ohne die professionelle Hilfe nicht hätte weiterentwickeln können. Hier erfuhr sie, dass sie lange eine der vier typischen Rollen gespielt hatte, die laut Kompass häufig bei Kindern von alkoholabhängigen Eltern auftreten: die Heldenrolle, in der das Kind den Part des ausgefallenen Elternteils übernimmt. „Mein Vater hat sich immer bei mir ausgeheult, dabei habe ich selbst Trost gebraucht“, weiß die junge Frau rückblickend.

Andere Kinder ziehen sich ganz in sich zurück, wie Annalies an ihren Geschwistern beobachten kann. Wieder andere begehen Straftaten und lenken so von ihrem eigentlichen Problem ab, oder sie spielen den ewigen Clown. Auch Kinder von Drogenabhängigen zeigen solches Rollenverhalten, leiden unter ähnlichen Symptomen wie Stress, Verlustängsten, dem Gefühl verraten worden oder allein auf der Welt zu sein.

Allerdings, so Birgit Meyer von Iglu, kommt bei ihnen ein schwer wiegendes Problem hinzu: die Illegalität. „Kinder wissen, dass ihre Eltern etwas tun, das sie nicht dürfen“, so die 44-Jährige, die seit zehn Jahren für das Projekt arbeitet. „Ich dachte, wenn ich was erzähle, kommt meine Mama in den Knast“, erinnert sich auch Michele. Und wenn sie in der Schule gefragt wurde, woran ihr Vater starb, antwortete sie lieber: an einem Herzinfarkt. „Bei mir hat sich alles gestaut, nur ab und zu bin ich geplatzt wie ’ne Bombe“, so die Hauptschülerin, die die Kriminalisierung Drogenabhängiger für falsch hält – so wie Annalies die gesellschaftliche Akzeptanz des Alkoholkonsums.

Bei Iglu lernte Michele, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden und auch mit der Gefahr eines Rückfalls der Mutter umzugehen. Und sie sagt: „Ich weiß, was Drogenkonsum für Konsequenzen hat. Meine Mutter hätte nie versucht, mich zu verleiten. Aber ohne das Hilfsangebot wäre auch ich vielleicht in Versuchung geraten.“

Dieses Hilfsangebot definieren sowohl Iglu als auch Kompass eindeutig: „Wir sind in erster Linie parteilich für die Kinder“, sagt Birgit Meyer. „Dass eine Mutter oder ein Vater hier ständig breit ankommen, ist nicht drin.“ Dabei ist es das Ziel, den Familien trotz mangelnder Kompetenz mancher Eltern ein Zusammenleben zu ermöglichen.

Für Michele und Annalies war es eine wesentliche Erfahrung, die Hauptperson zu sein, Rückhalt in den Einrichtungen zu finden. Trotzdem ist Michele überzeugt, dass sie psychisch krank geworden wäre, hätte sie nie zu ihrer Mutter zurück gedurft. Annalies hat inzwischen wieder vorsichtigen Kontakt zum Vater aufgenommen, der eine Therapie hinter sich hat und seine Fehler endlich nicht mehr leugnet. Die sichere Umgebung für die Zusammentreffen liefert Kompass. Und der riesige Eisberg, den Annalies jahrelang unter sich spürte, der schmilzt langsam aber sicher dahin.

Annette Woywode