Nachts, wenn der Tag beginnt

Warum an der Banksstraße in Hammerbrook die Uhren anders ticken

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

Eon Hanse präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Banksstraße.

Es ist vier Uhr morgens: In immer kürzeren Abständen blitzen die Scheinwerfer der Transporter auf, die von der Amsinckstraße heranrollen – wir nähern uns der Rushhour. Während die Stadt noch schläft, herrscht im Obst- und Gemüsegroßmarkt Hochbetrieb. Einige Gemüsehändler, die besonders früh in den Tag starten, haben ihren Einkauf schon erledigt und fahren zurück in ihre Läden. Ganz vorsichtig steuern sie ihre Kastenwagen um die Kurven, um ihre Fracht bloß nicht zu beschädigen. Vom Hauptbahnhof braucht man zu Fuß gerade mal sieben Minuten bis zur Banksstraße.

Dennoch liegt sie alles andere als zentral: Die Banksstraße bildet die Achse einer abgekapselten Nische zwischen Innenstadt und Elbe. Auf allen Seiten ist sie von der Umgebung abgeschnitten: Im Norden versperrt das Betriebswerk der Bahn den Weg, auf der Elbseite hindert einen die Flutschutzmauer des Oberhafens am Weitergehen. Die Oberhafenbrücke beschränkt westlich den Blick auf die Deichtorhallen, und im Osten schirmt der Großmarkt mit hohen Stacheldrahtzäunen unangemeldeten Besuch ab.

[BILD=#banksstr2][/BILD]Ohne Sondererlaubnis dürfen nur die ständigen Händler und etwa 5000 gewerbliche Käufer den Markt betreten. Ich bin für sieben Uhr angemeldet, der Verkauf läuft also schon seit fünf Stunden. Im vorderen Teil der 40.000 Quadratmeter großen Halle sortiert Renate Müller gelbe Kunststoffkisten voller Kartoffeln, Zuckermais und Kürbisse. Viele der Kisten sind bereits leer, Müllers Tag war recht erfolgreich. Gegen zwei Uhr morgens baut sie ihren Stand auf, fünfmal pro Woche.

Da ihr Feierabend näher rückt, widmet sie sich bereits der Abrechnung: Die freundlich-resolute Frau beugt sich mit einer großen Brille auf der Nase über ihren Taschenrechner und füllt mintgrüne Formulare aus. Die Haupthandelszeit ist vorüber, nun gilt es, Außenstände einzutreiben.

Nebenbei und ohne aufzublicken erzählt sie von ihrer Beregnungsmaschine, deren Anschaffung sich in diesem Sommer so richtig auszahlt: Ihrem Land in der Winsener Elbmarsch kann die extreme Trockenheit nicht viel anhaben, und so freut sich die Landwirtin über ordentliche Erträge. Doch nicht die Masse sei entscheidend, sagt Renate Müller, ihr Geld verdiene sie mit der Qualität ihrer Ware. Von der sind offensichtlich auch zwei Kunden überzeugt: Nach zwei, drei Blicken unter die Blattschicht packen sie den Mais kistenweise auf ihren Hubwagen.

Helmuth und Günter Ehmann setzen auf gute Preise. Die Brüder handeln seit 53 Jahren mit Obst und Gemüse. Angefangen haben sie als Kinder mit einer Schubkarre in Elmshorn, nun sitzen sie hinter einem schicken Tresen im Herzen der Großmarkthalle. Die Ehmanns importieren Früchte aus aller Welt. „Schlechte Ernten oder Knappheit gibt es nicht“, sagt Günter Ehmann, ein hemdsärmliger Mann mit rotblondem Vollbart. „An Ware kommt jeder, der bereit ist, etwas dafür zu zahlen.“ Das sei sein Leben lang so gewesen, auch als der Großmarkt noch in den Deichtorhallen stattfand.

Ein ganzes Leben im Obsthandel, ein Leben lang Nachtarbeit: Die Ehmanns stehen um 23 Uhr auf und kommen um 12 Uhr wieder nach Hause. Äußerlich scheinen sie den Stress gut wegzustecken: Als wäre es nicht der Wechsel von Tag und Nacht, der ihren Biorhythmus bestimmt, sondern einzig die Verkaufszeit des Großmarktes.

Als diese um 9 Uhr zu Ende geht, steht die Sonne hoch und sticht beim Verlassen des Marktgeländes in den Augen. Vor dem Tor liegt die Banksstraße, um diese Tageszeit ist kaum noch was los. In diese Ecke verirren sich nur wenige Menschen, die hier nicht arbeiten. Warum auch? Sie bietet weder Spektakuläres fürs Auge, noch ist sie als Amüsiermeile bekannt. Tagsüber ist die Straße vor allem eines: Parkplatz.

Vor dem Backsteinbau der Stadtentwässerung stehen Autos in Viererreihen und warten darauf, dass ihre Besitzer sie am späten Nachmittag wieder in die Stadt fahren. Zurzeit ist von denen jedoch nichts zu sehen. In eine Ecke zwischen Mittelkanal und Lippeltstraße kauert sich das Grundstück eines Gebrauchtwagenhändlers. Auf dem winzigen, ungepflasterten Platz drängen sich rund 60 Autos: Limousinen, Transporter und Kleinwagen stehen Stoßstange an Stoßstange, am Zaun ein arg mitgenommener Krankenwagen neben einem Rettungswagen. Wer kauft wohl solche Autos?

[BILD=#banksstr3][/BILD]Die Tür eines weißen Bürocontainers steht offen. Beim Eintreten blicke ich in die freundlichen Gesichter zweier dunkelhaariger Männer, die am Schreibtisch sitzen. Noch während ich mich vorstelle, räumen die beiden einen Stuhl frei und drücken mir einen Becher in die Hand: „Setz dich, bei uns ist jeder willkommen“, sagt Toufic Chemayssem, ein kräftiger Mann mit kurz geschnittenem Haar und Oberlippenbart, während „Cappuccino“ – so stellt sich der zweite Gastgeber vor – eine rote Thermoskanne hervorholt und mir Kaffee einschenkt.

Der jugendlich wirkende 40-Jährige nutzt seinen freien Nachmittag, um Toufic bei der Arbeit zu besuchen. Der Kaffee schmeckt köstlich – libanesische Gastfreundschaft, mitten in einem Hamburger Gewerbegebiet.

Toufic kam vor anderthalb Jahren aus dem Libanon, seitdem arbeitet er in der Banksstraße. Autohändler lagern kaum oder gar nicht mehr fahrtüchtige Wagen bei ihm zwischen, bevor ein Schiff sie nach Afrika bringt. Oder auf die arabische Halbinsel, eben überall dorthin, wo ausrangierte Autos etwas wert sind – zurzeit ist der Irak ein gutes Absatzgebiet.

Insgesamt allerdings läuft das Geschäft nicht sonderlich gut, um nicht zu sagen schlecht. Doch Toufic ist genügsam: Solange er ein Dach über dem Kopf und genug zu essen habe, danke er Gott, sagt er. Der Libanese strahlt solch eine Gelassenheit aus, man kann nicht anders, als ihm zu glauben.

Ab und an beugt er sich über die Lehne seines Stuhls und schaut zum Fenster hinaus, doch es passiert nichts, was seine Aufmerksamkeit verdient. Und so verstreicht ein weiterer friedlicher Nachmittag. Ein Nachmittag, der einen die Zeit spüren lässt – allerdings einmal nicht bloß dadurch, dass sie an allen Ecken und Enden zu fehlen scheint.

Am späten Abend liegt die Banksstraße endgültig da wie ausgestorben. Während sich Toufic Chemayssem zu Hause vielleicht ein letztes Mal vor dem Schlafengehen gen Osten wendet, stehen Renate Müller und die Brüder Ehmann wieder auf – um „23 Uhr morgens“, wie einige Händler auf dem Markt sagen. Sie alle leben im Rhythmus der Banksstraße, die nachts zum Leben erwacht, bevor sie am späten Morgen in einen ausgiebigen Dämmerzustand fällt. Es ist nicht nur die räumliche Isolation, die die Banksstraße von der Hamburger Innenstadt trennt: Rund um den Großmarkt gehen die Uhren einfach anders.

Philipp Jarke

Ein lebendiger Ort

Begegnungen auf dem Ohlsdorfer Friedhof

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Kriegerehrenallee auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Donnerstag, 11 Uhr: Die Planierwalze rast über die Gräber. Durch die Zweige der Fichte in der Mitte des Gräberfeldes blinzelt die Sonne. Das dröhnende Gefährt brettert über das Gras. In einer Minute pressen seine Tonnen zwei Gräberreihen platt. Nebenan kniet ein Gärtner und jätet in aller Ruhe Unkraut, die Planierwalze ignoriert er.

3418 deutsche Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg liegen an der Kriegerehrenallee auf dem Ohlsdorfer Friedhof begraben. Ihre Grabsteine sollen hier ewig stehen – als Mahnung zum Frieden, wie es im Friedhofsführer heißt. Doch Maulwürfe haben sich den Friedhof als Lebensraum ausgesucht und drohen nun die Grabsteine zu unterwühlen. „Mit der Walze versuchen wir, den Boden so zu verdichten, dass die Tiere nicht mehr darin graben wollen“, sagt Friedhofsgärtner Martin Müller. Vergiftet werden dürfen Maulwürfe glücklicherweise nicht, deshalb gehen an der Kriegerehrenallee nur Greifvögel auf die Maulwurfsjagd – und eben die Planierwalze. Wirklich vertreiben lassen sich die Tiere vom größten Parkfriedhof der Welt nicht.

So beschaulich der Ohlsdorfer Friedhof wirkt, wer genauer hinsieht, entdeckt, dass er alles andere ist als nur ein Ort des Todes. Reinhold Roosen, ebenfalls Gärtner, sagt: „Was die Leute hier alles machen: joggen, Rad fahren, sonnenbaden, Picknick und sogar angeln.“ Einiges davon verbietet die Friedhofsordnung, etwa Fische fangen im See, der einen Steinwurf entfernt von der Kriegerehrenallee liegt. Allerdings sind Maulwürfe und zuweilen auch Menschen blind für die Regeln. Sie machen die Kreuzung Kriegerehrenallee/Mittelallee zum Habitat, Gedenkort, Naherholungsgebiet, Arbeitsplatz, kurz: zu einem Ort des Lebens.

Donnerstag, 13 Uhr: „Ich komme gerade von einer Feier“, sagt Friederun Poppe-Kögler. Die Freude der schwarzhaarigen Frau ist fast greifbar – was mag das für eine Feier gewesen sein? Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug, dazu eine aufblasbare Gießkanne in der einen Hand und einen Geigenkoffer in der anderen. „Heute haben wir den ‚Sommer‘ von Vivaldi gespielt.“ Friederun Poppe-Kögler spielt Violine und Bratsche auf Beerdigungen – besser gesagt auf „Feiern“, wie sie es nennt. Sie spielt, was sich die Angehörigen wünschen, meist klassische Stücke von Mozart bis Bruckner. „Das ist toll, da kann ich beinahe jeden Tag Solo spielen“, sagt Poppe-Kögler.

Die 59-Jährige hat offensichtlich ihren Traumjob gefunden. Die ehemalige Geigenlehrerin interpretiert aber auch Popsongs oder Schlager wie Heidi Kabels „In Hamburg sagt man Tschüs“. Früher ist sie bei solchen Spezialwünschen immer ins Musikgeschäft gegangen und hat sich die Noten gekauft. „Heute gucken meine drei Söhne kurz ins Internet – schon hab ich, was ich brauche“, erzählt Poppe-Kögler.

Jetzt, nach ihrem Auftritt, ist sie auf dem Weg zum Grab ihres Mannes. „Er ist vor vier Jahren gestorben.“ Als sie dies sagt, verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht. Doch es ist fast augenblicklich wieder da, als der Blick der Musikerin auf ihre aufblasbare Gummigießkanne fällt. Zusammengefaltet passt sie locker in ihre Tasche, zwischen die Abschiedsgrüße von Maffay und Mozart.

Sonntag, 14 Uhr: Auf der Mittelallee tobt der Verkehr, Radfahrer flitzen über den Asphalt, die Autos und Motorräder fahren Kolonne. Ein leiser, eintöniger Klangteppich liegt über den Kriegsgräbern. „Als Frau kann man hier eigentlich nicht allein herumlaufen“, sagt Frau Wilfing, als sie auf einer Bank eine Verschnaufpause einlegt. „Da kann einem ja immer was passieren!“ An dem latenten Unsicherheitsgefühl der Rentnerin änderte es auch nichts, dass die Friedhofsgärtner die Rhododendronbüsche gestutzt und Bäume beschnitten haben. Frau Wilfing war nicht die einzige, der es zu düster war auf dem Friedhof.

Ein junges Paar in schweren Lederstiefeln schlendert an den Grabsteinen der Soldaten vorüber. Die roten Strähnen im langen Haar der Frau sind das einzig Farbige an den beiden, sie tragen komplett Schwarz. Hand in Hand lesen sie schweigend die Inschriften der Steine. Obwohl der Kontrast zwischen ihrem blassen Teint und den schwarzen Kleidern auf dem Spiel steht, scheinen sie die Sonne zu genießen. Als das verliebte Paar außer Sicht ist, nimmt Frau Wilfing ihren Mut zusammen und macht sich auf zum Grab ihrer Eltern. Die größte Gefahr, die ihr dabei droht, ist schnell beseitigt: Frau Wilfing setzt sich noch einmal auf die Bank, verschnürt ihr offenes Schuhband und wünscht einen schönen Tag.

Freitag, 17 Uhr: Es nieselt warm. Der Asphalt der Kriegerehrenallee sendet diesen kitzligen Duft in die Nase, den der erste Regen nach einer langen Hitze verursacht. Ein Specht trommelt, die Allee und das Gräberfeld sind fast verwaist. Nur ein Mann mit schlohweißem Haar, vielleicht Mitte 60, schlendert ohne Eile an den grauen Reihen der Grabsteine vorbei, die der Regen noch einen Ton grauer färbt. „Manchmal komme ich am Nachmittag oder in der Dämmerung hierher, um die Atmosphäre zu genießen“, sagt er und rückt seine Brille zurecht. Helmut Schoenfeld, so heißt der Mann, kennt den Friedhof wie die Tasche seiner Jeans. 20 Jahre hat er hier als Gartenarchitekt gearbeitet, die Geschichte des Friedhofs erforscht und nach der Pensionierung ein Buch über seinen ehemaligen Arbeitsplatz geschrieben. Jetzt führt er Besuchergruppen über die Kriegsgräber.

„Gelegentlich werden ganze Busladungen von Bundeswehrsoldaten zum Pflichtbesuch abkommandiert“, sagt er und leckt hastig über seine Lippen. Richtig wohl fühlt er sich nicht, wenn die Kommandanten den Soldaten am Ende der Führungen befehlen, den toten Kämpfern Ehre zu bezeugen. „Den Kriegsopfern hier gebührt doch in erster Linie Mitleid, nicht Ehre“, sagt Schoenfeld. Die Kriegerehrenallee liegt verlassen. Nur der Specht klopft – als wolle er jemandem Schoenfelds Worte einhämmern.

Philipp Jarke und Steffen Kraft

Barbaras Hummer-Welt

Eine Entdeckungsreise in die Keller des Fischmarkts

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Große Elbstraße.

Benommen von der fischigen Salzluft, stolpere ich ziellos zwischen pompösen Designer-Bauten und tristen, schäbigen Häusern durch die Große Elbstraße. Ein Lkw donnert dicht an mir vorüber. Achtern teilt ein Ozeanriese majestätisch das Elbwasser in Back- und Steuerbord. Kreischende Möwen streiten über seiner Heckwelle um aufgewirbelte Fischfetzen.

Am gegenüberliegenden Hafenkai rollen hochbeinige Containerbrücken, wie von Geisterhand gesteuert, exakt über blaue Eisencontainer. Doch den Star dieser Reportage sehe ich nicht. Denn Barbara Pötke arbeitet unter Land, im Keller XII des Altonaer Fischmarkts. Nur wenige Meter unterhalb der Fischbaracken-Tristesse beginnt hier eine andere Welt: die Welt der Barbara Pötke. Die Welt der Hummer.

Es ist mehr Zufall, dass ich ausgerechnet die Treppe zur Großen Elbstraße 210 erklimme. Und großes Glück, dass mich Betriebsleiter Jörg Pöhlmann mit „Hummer-Bärbel“, wie sie von ihren Kollegen gerufen wird, bekannt macht: „Unsere Barbara ist genau die Richtige für Sie. Eine absolute Koryphäe. Selbst die renommierte Hummeraufzuchtstation auf Helgoland bittet sie immer wieder um Rat.“

Wer Bärbel bei der Arbeit zusieht, dem wird schnell klar, warum sie als Expertin gilt. Denn nicht nur ihre 28-jährige Erfahrung mit Hummern beim Fischgroßhändler Goedeken begründet ihre Kompetenz. Vielmehr lernt sie durch den liebevollen Umgang mit den Gliederfüßern, was keine Versuchsreihe jemals herausbekäme: Sie versteht ihre „Lieblinge“ und weiß, was sie wollen.

Wenn Barbaras weiche Finger die empfindsame Schlundpartie der rotbraunen Hummerleiber kraulen, recken sie sich wohlig aus dem Wasser. Tatsächlich scheinen sie ihr taffes Frauchen in den weißen Schlabber-Hosen zu erkennen. Bärbel beugt sich dann noch tiefer über die Salzwasserbecken und kost die Hummer sanft mit „meine Süßen“. Dann greift sie barhändig zwei Hummerrücken heraus und erklärt fachfrauisch den Unterschied zwischen Männchen und Weibchen.

Schon Barbaras Mutter war bei Goedeken beschäftigt. Das Faible für Fisch scheint bei Familie Pötke also bereits in den Genen verankert, und so erstaunt es nicht, wenn die 52-Jährige strahlt: „Ich bin mit den Hummern verheiratet.“ Für einen Ehegatten bleibt da, nach eigenem Bekunden, keine Zeit. Verwendet Bärbel doch ihr ganzes Geschick darauf, die natürliche Umgebung vor der kanadischen Atlantikküste so naturgetreu wie möglich nachzuempfinden: Die Wassertemperatur beträgt acht Grad Celsius, die Luft ist lediglich zwei Grad wärmer.

Drei Pulloverschichten und feste schwarze Stiefel schützen Barbara vor der Kälte. Eine blau-weiße Wollmütze bändigt ihre langen dunkelblonden Haare und hält den Fransenpony aus dem Gesicht. Gegen kneifende Kampfscheren helfen jedoch nur fest sitzende Gummibänder, die die Zangen zusammenhalten, und eine Menge Erfahrung. Deshalb überprüft Bärbel, wie jeden Morgen um sechs, die 15 Wasserbecken auf kraftlose Tiere und gelöste Gummis. Denn nicht nur Barbaras rechter Unterarm wurde bereits Opfer einer Kneifattacke. Die kannibalischen Hummer stürzen sich auch auf geschwächte Artgenossen und „versauen“ anschließend mit ihren Fäkalien das saubere Salzwasser. Normalerweise scheiden die Tiere während ihres Bassinaufenthalts nämlich gar nichts aus: Sie werden einfach nicht gefüttert, denn so bleibt die Wasserhygiene am ehesten erhalten.

Bevor ein Hummer bei Bärbel im Becken landet, wird er vor der kanadischen Küste aus dem Atlantik gezogen. Der Transport von Toronto bis in die Große Elbstraße dauert per Flugzeug zwei Tage, bis zur Verarbeitung vergehen maximal weitere sieben. Denn Frische ist in Bärbels Branche oberstes Gebot.

Täglich frische Aufträge meldet der Flachbildschirm an der weißgekachelten Wand. Gourmets aus ganz Deutschland bestellen hier. Heute sind zehn Tütchen zu je 200 Gramm Hummerfleisch angefordert. Also stiefelt Bärbel hinüber zu den Salzwasserbecken, in denen sich an die hundert Tiere gleicher Gewichtsklasse in den Ecken stapeln. Geschickt greift Barbara einige heraus und setzt sie auf den Boden.

Die Krustentiere genießen es, frei über die Kacheln fegen zu dürfen, bis sie aufgrund von Sauerstoffmangel langsam „schlaff“ werden. Denn Hummer besitzen Kiemen, sie brauchen das Wasser, um atmen zu können. Dies mag brutal klingen, doch Hummerexpertin Barbara ist sicher, dass ihr „Trick“ für die Gliederfüßer angenehmer ist, als bei vollem Bewusstsein in das kochende Wasser geschmissen zu werden: „Als ich unerfahren war, habe ich das noch gemacht. Einige Hummer versuchten dann aus dem Kochtopf heraus zu springen. Schrecklich. Heute lasse ich sie vorher dösig werden, dann bekommen sie vom Abkochen gar nichts mehr mit.“

Und so fischt Bärbel die „betäubten“ Hummer nach einigen Stunden aus den Ecken und sammelt sie in einem Sieb. Sie lehnt sich gegen die schwere Eisentür und trägt ihre dösigen „Lieblinge“ hinüber zum Verarbeitungsraum. Doch diese Tür ist für Bärbel nicht nur eine Tür, nicht nur eine Möglichkeit von einem Raum in den nächsten zu gelangen. An dieser Tür legt Barbara ihre Gefühle ab. Die reglosen Tiere in ihrem Sieb sind jetzt bestellte Hummerware, 200-Gramm-Tütchen, und nicht mehr ihre „Süßen“. Ein Glück, dass Barbara scheinbar so rigoros zwischen beiden Bereichen trennen kann: „Sonst würde das jemand anders machen. Und der wäre sicher nicht so rücksichtsvoll“, sagt sie, und es klingt fast, als wolle sie sich bei den Tieren entschuldigen. Also versenkt Bärbel das Sieb mit den dahindämmernden braunen Hummern im schäumenden Wasser des riesigen Kochbassins und schließt den Deckel. Nach zehn Minuten wuchtet sie die nun wunderschön rotleuchtenden Tiere heraus und schreckt sie, „wie Frühstückseier“, unter kaltem Wasser ab.

Doch nicht alle Hummer landen in Keller XII zwangsläufig unterm Messer. Der schöne Leo genoss für sechs Jahre das angenehme Leben eines Hummer-Dressmans. „Wie ein treuer Hund“ flitzte er jeden Morgen zur Schaubeckenscheibe, um sein Frauchen zu begrüßen. Und abends schien es Bärbel, als wolle er sie nach Hause begleiten. Als Leo weiter wuchs und seine dritte Häutung nicht überlebte, begrub Barbara ihren „Liebling“ im heimischen Garten in Bergedorf.

Einen neuen Leo hat sie derweil noch nicht gefunden, und so legt sie die Hummerleiber auf ihre Papierunterlage und beginnt die noch dampfenden Tiere zu zerteilen. Mit geübten Schlägen knackt sie die harten Panzer, Fleischstückchen spritzen durch den Raum, ein Fetzen bleibt auf ihrer Stirn kleben. Tack, tack, tack klingt der Dreiertakt, mit dem ihr kleines schwarzes Messer über die Hummerscheren tanzt. Als sich schließlich ein weiß-roter Fleischberg angesammelt hat, holt Barbara die 200-Gramm-Plastiktütchen und portioniert die Delikatesse nach Augenmaß.

Gegen 16 Uhr säubert „Hummer-Bärbel“ ein letztes Mal den Arbeitsplatz, sagt ihren Lieblingen „Gute Nacht“ und löscht das Licht. Für die Tiere ist die Dunkelheit das Signal zur Beutejagd, und so beginnen sie triebgesteuert in ihren kleinen Bassins umherzuwuseln, auch wenn es gar nichts zu erlegen gibt. Manchmal schleicht Barbara dann mit der Taschenlampe durchs Dunkel und beobachtet ihre „Süßen“. „Wenn es den Tieren gut geht, geht es auch mir gut“, verabschiedet sie sich und stellt das letzte Tütchen mit Hummerfleisch in den Styroporkarton.

Jannika K. Schulz