Fotograf Chris Boyer : Ort der Heilung

Der Franzose Chris Boyer war heroinabhängig. Eine Gemeinschaft in einem französischen Dorf hat ihn gerettet. 20 Jahre später hat der Fotograf das Besondere des Ortes und seiner Bewohner eindrucksvoll dokumentiert.

(aus Hinz&Kunzt 263/Januar 2015)

Bevor ich die Bergerie de Berdine kennenlernte, hatte ich alles versucht, um von meiner Drogensucht loszukommen: Ich war in Krankenhäusern, in der Psychiatrie und auch in einer ­Gemeinschaft in Spanien, wo ich einen Monat lang wie in einem Gefängnis lebte. Es half alles nichts. Eines Tages sagte eine Sozialarbeiterin zu mir: „Für dich gibt es keine Hilfe mehr. Du bist verloren.“ Da war ich 37 Jahre alt. Ich wollte gerade gehen, da meinte sie plötzlich: „Vielleicht gibt es doch noch einen Platz für dich. Ich kenne da eine ­Gemeinschaft für Menschen, die Hilfe brauchen. Sie leben abseits eines Dorfes in einer kleinen Siedlung. Dort machen sie ihren eigenen Käse und backen ihr eigenes Brot …“

Die Bergerie de Berdine, das sind rund 20 Steinhäuschen, in denen früher Bauern Unterschlupf fanden. Sie liegt in den Bergen im Süden Frankreichs, rund 100 Kilometer nördlich von Marseille. Das nächste Dorf ist acht Kilometer entfernt, eine Busverbindung gibt es nicht.

Ich hatte schon immer davon geträumt, in einer Gemeinschaft mit Freunden zu leben. Und das Brotbacken hatte ich mir als 16-Jähriger selbst beigebracht. Ich dachte mir: „Wa­rum nicht? Ich versuche es.“ Es gab allerdings ein Problem. Eine der Regeln der Bergerie de Berdine ist, dass die Menschen selbstständig und aus eigenem Willen kommen. So sollen sie zeigen, dass sie sich verändern wollen. Ich war durch die ­vielen Drogen jedoch schon so kraftlos, dass ich die Reise alleine ­niemals geschafft hätte. Also packte mich mein Vater ins Auto, fuhr mich bis kurz vor den Weiler, öffnete die Beifahrertür und sagte: „Steig aus!“ Als ich mich umdrehte, um mich von ihm zu verabschieden, war er weg. So groß war seine Angst, dass ich vor dem gefühlt 1000. Versuch noch einknicken könnte.

Was mir die Sozialarbeiterin nicht gesagt hatte: Die Bergerie ist ein Ort, an dem viel gebetet wird. Die Gemeinschaft wurde 1973 mithilfe des Karmeliterordens gegründet, von ­einem wohlhabenden Mann, dessen Sohn an einer Überdosis Drogen gestorben war. In der Mitte des Weilers steht eine kleine Kapelle. Jeden Morgen um halb acht versammeln sich dort die Bewohner. Sie setzen sich in einen Kreis, und Josianne, Mitgründerin und Leiterin der Gemeinschaft, liest aus der Bibel. Abends um sieben findet das gleiche Ritual statt. Dann können Bewohner etwas vorlesen oder erzählen, was ihnen wichtig ist. Tagsüber arbeiten die Menschen, je nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten. Ich half anfangs in der Küche, nach einigen Monaten wurde ich Holzfäller und Fahrer. ­Andere bauten Gemüse an oder kümmerten sich um die Schweine und Ziegen. Alte und Kranke blieben in der Bergerie und schälten Kartoffeln für das Mittagessen. Bezahlen muss bis heute niemand für den Aufenthalt, die Gemeinschaft deckt ­ihre Kosten vor allem durch den Verkauf von Holz.

Wichtig ist: Dein Leben bekommt wieder eine Struktur. Und anders als in einer Entzugsklinik redest du nicht den ganzen Tag lang mit Gleichgesinnten über Drogen. Sondern du siehst Menschen, die seit drei oder vier Jahren ohne Drogen leben und denen es gut geht. Das gibt dir Kraft und Hoffnung. Du bekommst die Chance, etwas Sinnvolles zu tun, und du kannst etwas lernen. Ich wusste bald alles über Holz – und ich bekam eine Kamera geschenkt, mit der ich bald fotografierte. So wie vor meiner Drogensucht. Damals hatte ich meine Fotos an Zeitungen verkauft. Zum Leben hatte es aber nie gereicht.

Josianne ist sehr gläubig. Sie kann streng sein, aber auch unendlich gütig. Nach nur drei Tagen in der Bergerie hielt ich es nicht mehr aus: Ich fuhr nach Marseille, kaufte Drogen, kehrte zurück und verteilte das Zeug an andere. Als das bekannt wurde, schmiss die Gemeinschaft mich raus. „Es tut mir leid“, sagte Josianne. „Schreib uns in einem Monat. Vielleicht kannst du zurückkommen.“ Ich reduzierte meinen Drogenkonsum so weit, wie ich konnte. Nach einigen Wochen durfte ich zurückkehren – und beim zweiten Mal hat es geklappt.

In der Bergerie de Berdine kannst du einen Monat bleiben oder 20 Jahre – solange du dich an die Regeln der Gemeinschaft hältst. Ich war vier Jahre dort, bis ich mich zurück in die Gesellschaft wagte. Heute lebe ich in Marseille, arbeite als ­Fotograf und Fahrer für Touristen. Die Bergerie ist meine Heimat, meine Familie geworden. Inzwischen arbeite ich im Vorstand mit. Wahrscheinlich verdanke ich dieser Gemeinschaft, diesem Ort mein Leben.

Protokoll: Ulrich Jonas