Gebärdensprache : Emotional und direkt

Ralph Raule, der Vorsitzende der Gesellschaft zur Förderung der Armut Gehörlosen in Hamburg, zeigt die Gebärde Gerechtigkeit. Foto: Dmitrij Leltschuk

Gebärdensprache ist schnell und kreativ – nicht immer politisch korrekt, aber stets auf den Punkt. Und weil der ganze Körper beim Gebärden tanzt, könnten sogar Rapper davon lernen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Es ist schon ein Hingucker, wenn sich gehörlose Men­schen ohne einen Mucks, aber mit viel Körpereinsatz, rasant fliegenden Händen und lebendiger Mimik unterhalten. Cool sieht das aus, aber für Hörende auch irgendwie unwirklich. In Deutschland ist die Gebärden­sprache eine Welt, zu der Hörende selten Zugang finden, weil sie öffentlich kaum stattfindet. Gebärdendolmet­scher:innen in der Politik, bei Veranstal­tungen, im Fernsehen? Meist Fehlanzei­ge. Jutta Feuerle ist eine von ihnen. Sie sei dem vitalen Charme des Gebärdens während ihres Studiums der Sozialpä­dagogik erlegen, sagt sie: „Ich habe Feuer gefangen.“

Heute arbeitet die 48­-Jährige als Gebärdendolmetscherin. Das Tempo und die Vielschichtigkeit des Gebärdens stellen für sie die größte Herausforderung dar: „Ich brauche ja viel mehr Wörter, um zu übersetzen, was mit einer Gebärde gesagt wird.“

Jutta Feuerle begleitet das Gespräch mit dem gehörlosen Simon Kollien, Linguist und Dozent am Institut für Deutsche Gebärdensprache der Uni­versität Hamburg. Er liefert die Theorie zu ihrer Praxiserfahrung: „Anders als die Lautsprache ist die Gebärdenspra­che dreidimensional. Sie nutzt den Oberkörper, den Raum vor dem Körper und die Mimik, das macht sie so lebendig.“ Mindestens 200 verschie­dene Gebärdensprachen gibt es welt­weit – es könnten aber auch deutlich mehr sein, genau weiß es niemand. Denn gebärdet wird immer dort, wo nicht geredet werden kann. Dabei sind es Sprachen wie andere auch: natürlich gewachsen, regional geprägt, nicht international und immer in Bewegung. Früher war zum Beispiel die Gebär­de für „Kaffee“ das Mahlen der Boh­nen. Da das heute kaum noch jemand macht, ist die Gebärde nun das Trinken des Kaffees. Neue Begriffe werden in die Gebärdensprache wie aus einer Fremdsprache übersetzt – bei „Face­ book“ eine Kombination aus den Gebärden für „Gesicht“ und „Buch“. Die Jugendsprache der Gehörlosen entsteht genau wie die Jugendsprache der Hörenden oft auf Schulhöfen der Gehörlosenschulen und sieht in Duis­burg anders aus als in Flensburg.

Mit einer Kombination aus Gebär­de, dem Fingeralphabet (mit Zeichen für jeden Buchstaben), der sichtbaren Mundart (früher hieß das „Lippen­ lesen“) und eindeutiger Mimik lässt sich in der Gebärdensprache alles darstel­len. Kreativ, innovativ und oft lustig ist sie: Bei der Gebärde „Weiß“ wird zur Lippenbewegung des Wortes „weiß“ der Zeigefinger einmal unterhalb der Unterlippe entlanggezogen – wie beim Putzen der hoffentlich weißen Zähne. Für die Gebärden wird die dominante Hand benutzt, egal ob Links­ oder Rechtshänder:in. Blicke und Körper­sprache erzählen über Stimmungen und Launen, sie ergänzen Gebärden und helfen bei der Einordnung.

„Die Gebärdensprache hatte früher für viele Felder keine Gebärden, weil sie nicht benötigt wurden“, sagt Simon Kollien – zum Beispiel berufliches oder akademisches Fachvokabular, denn Gehörlose konnten nur wenige, meist handwerkliche Berufe wie Schus­ter oder Tischler ohne Kundenkontakte ausüben. „Heute haben wir andere Zugänge zu Berufsfeldern, und so wird die Gebärdensprache um neue Begriffe erweitert.“

Aber wer bestimmt eigentlich, wel­che Gebärden für neue Begriffe oder Namen verwendet werden? In Schwe­den gebe es dafür eine eigens eingerich­tete Kommission, das schaffe mehr Verbindlichkeit und Sicherheit, sagt Ralph Raule, selbst gehörlos und Vor­ sitzender der Gesellschaft zur Förde­rung der Gehörlosen in Hamburg. In Deutschland entstehen neue Gebärden in sozialen Netzwerken und in Gehörlo­senzentren, bei Veranstaltungen oder einfach auf Facebook. Nicht selten gibt es auch verschiedene Zeichen für ein Wort oder einen Namen. „Alleine für Angela Merkel kenne ich mehrere“, sagt Ralph Raule. „Die hängenden Mund­winkel, die Raute, der Haarschnitt.“

Immerhin: Seit 2009 sammelt und dokumentiert das Institut für Deutsche Gebärdensprache mit seinem Lang­zeitprojekt „Korpus“ gebärdensprach­liche Texte, um ein Wörterbuch zu erstellen.

Simon Kollien schätzt die Eigenstän­digkeit der Gebärdensprache – auch um den Preis, dass sie diskriminierend, sexistisch oder politisch unkorrekt sein kann „wie die Lautsprache auch“. Sein Beispiel: Bei der Gebärde für „Frau“ wird die weibliche Brust angedeutet, „das ist für alle gut verständlich, denn es übersetzt das feminine Merkmal der Frau visuell in die Gebärdensprache – ohne Hintergedanken.“ Hörende for­derten eine andere Gebärde; für den Dozenten ist das ein No­Go, über das er sich aufregen kann. „Hier wird ein Anstoß zur Diskussion von Hörenden in die Sprache getragen. Das ist eine Bevormundung wie früher!“

Noch immer gilt die Gebärdenspra­che als nicht gleichwertig; das hat Ge­schichte und System. Die erste öffent­liche Schule für taube Kinder wurde 1755 in Paris vom Geistlichen Abbé de l’Epée gegründet. Die „Straßengebär­den“, die er bei Gehörlosen beobachtet hatte, entwickelte er zu einer Gebär­densprache mit Grammatik. In Ham­burg arbeitete Samuel Heinicke, Kan­tor der Kirche St. Johannis, in den 1770er­Jahren mit gehörlosen Kindern; heute erinnert eine Bronzebüste im Seelemannpark neben der Kirche an den Gründer der ersten „Taubstummenschule“. Gebärden erschienen ihm als ein geringwertiges Hilfsmittel, das verzichtbar war – eine Haltung, die sich mit Beginn des 19. Jahrhunderts verschärfte. Die Gebärdensprache galt als „Affensprache“ und wurde in den Schulen der meisten Länder verboten.

Von diesem Rückschlag hat sie sich bis heute nicht wirklich erholt. „Die Gebärdensprache war lange in der Schattenwelt“, sagt Simon Kollien. Erst seit circa 1980 wurde die Deutsche Gebärdensprache (DGS) systematisch von Siegmund Prillwitz, einem Linguisten, erforscht. Anfang der 1990er gründete er das „Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser“ und machte so die Gebärdensprache sichtbar, erklärt Simon Kollien. „Das war ein Meilenstein in der Anerkennung gehörloser Menschen mit ihrer Sprache und Kultur.“

Wie viele Menschen nutzen die Gebärdensprache? Laut einer Faustregel seien es ein Promille der Bevölkerungszahl, sagt Simon Kollien, in Deutschland sollen es rund 80.000 Menschen sein. Wer in beiden Welten zu Hause ist wie Gebärdendolmetscherin Jutta Feuerle, schätzt am Gebärden oft eine ganz besondere Qualität: „Gebärden ist sehr emotional und direkt. Das Gesicht sagt alles. Beim Gebärden kann man nichts zurückhalten.“

Dass auch Rapper sich beim Gebärden was abgucken könnten, beweist der ebenfalls gehörlose Performance-Künstler und Influencer Hien Nguyen. Wer wissen will, wie „Party“, „Echt jetzt“, „Depp“, „Weiß Bescheid“ gebärdet wird – reinklicken!

Artikel aus der Ausgabe:

Wie gehen Sie mit Bettlern um?

Schwerpunkt Betteln: Was hilft? Gespräche mit Politik, Sozialarbeit – und den Menschen auf der Straße. Außerdem: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Interview. Ein Porträt des Hamburger Rappers Disarstar. Und: So feiern unsere Hinz&Künztler Weihnachten.

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