Zwangsweise trockengelegt

Ausnüchtern unter Aufsicht: die Zentralambulanz für Betrunkene

(aus Hinz&Kunzt 145/März 2005)

[F]„Drunken People Crossing“ warnt ein gelbes Schild,[/F] auf dem ein Strichmännchen mit einer Flasche in der Hand robbt. Leider bekommen die meisten Besucher der Zen-tralambulanz für Betrunkene (ZAB) am Millerntor von ihrer Umwelt so wenig mit, dass Humor erst am nächsten Morgen geschätzt wird. Wenn überhaupt.

Ansonsten erinnern die fahlen Wände, das Neonlicht und die weißen Kittel der drei Mitarbeiter an eine ganz normale Klinik. Es riecht nach Zwiebeln, denn in der Küche hat Kai Hauerwass gerade die Grützwurst in den Ofen geschoben, Stärkung für eine Zwölf-Stunden-Schicht. „Zum Antialkoholiker hat mich die Arbeit hier noch nicht ge-macht, es kommt auch schon mal vor, dass ich selbst bei einer Feier abstürze“, erzählt der 45-Jährige, dann lacht er, „aber eingeliefert wurde ich noch nie.“ In der ZAB arbeiten Rettungsassistenten der Feuerwehr, die aus gesundheitlichen Gründen keine Einsätze mehr mitmachen können. Bei Hauerwass waren es Bandscheibenvorfälle.

Eben hat das Krankenhaus Rissen telefonisch den ersten Gast angekündigt. Er ist etwas renitent, warnen die Ärzte. Mehr als 1000 Ham-burger jährlich landen in der ZAB, die jede Nacht von 19 bis 7 Uhr Schwerstbetrunkene zwangsweise trockenlegt. Rechtliche Grundlage hierfür ist das Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG).

Bis vor zwei Jahren gehörte die Ambulanz zum Landesbetrieb Krankenhäuser, dann übernahm die Feuerwehr die ZAB – eine Sparmaßnahme, denn seither ist hier kein eigener Arzt mehr beschäftigt. Deswegen wird jeder hilflose Betrunkene zunächst in ein Krankenhaus gebracht, wo ein Arzt die Verwahrfähigkeit feststellt. Erst danach kommt der Patient nach St. Pauli. Durch das kompliziertere Verfahren sank auch die Zahl der Aufnahmen um mehr als die Hälfte. Heute gibt die Behör-de für Inneres jährlich 415.000 Euro für die Ambulanz aus.

Die ZAB war 1972 gegründet worden, nachdem fünf Menschen während der Ausnüchterung in Polizeizellen gestorben waren. Zunächst war sie rund um die Uhr geöffnet, seit 2000 aus Kostengründen nur noch nachts. In der Ambulanz soll die Ausnüchterung so sicher wie möglich verlaufen: Die Böden der sechs Zellen sind beheizt, denn das Auskühlen ist eine der größten Gefahren, die Be-trunkenen droht. Außerdem überwacht eine Kamera die Zelle, und alle 20 Minuten wird jeder Insasse persönlich von den Feuerwehr-leuten überprüft. In schweren Fällen werden die Betrunkenen an ein Gerät angeschlossen, das Alarm gibt, wenn Herzschlag oder Blutsauerstoffgehalt Anlass zur Sorge geben. Die Vorsicht ist nötig, denn durch den jahrelangen Alkoholkonsum sind viele stark angeschlagen. 2004 mussten die ZAB-Mitarbeiter sechs Mal einen Notarzt rufen, in einem Fall konnte auch der nicht mehr helfen.

Einige sind allerdings körperlich fit genug, um in der Zelle zu randalieren. „Dann gehen wir halt nicht rein, sondern reden nur durch die Luke in der Tür“, erklärt Hauerwass und zuckt mit den Schultern. Spätestens am nächsten Morgen sind die meisten wieder kleinlaut: „Vielen ist es dann peinlich, und sie fragen, ob sie sich schlimm aufgeführt haben.“

Hauerwass schätzt, dass etwa 20 Prozent der Betrunkenen regelmäßig kommen, viele davon sind obdachlos. Er blättert in einem Buch, in dem die Feuerwehrleute die Aufnahmen eintragen: „Else ist beispielsweise ein Stammgast, sie bringt es auf 18 Einlieferungen.“ Der Ehemann schmeißt die Alkoholikerin regelmäßig aus der Wohnung, dann zieht sie um die Häuser.

Viele, die hierher gebracht werden, sind verwahrlost. Hauerwass begegnet Menschen, die seit mehreren Wochen verkotete Kleidung tragen. Gestern erst sei eine Frau eingeliefert worden, die voller Läuse war. Das entsprechende Warnschild hängt noch an der Zellentür.

Mehr als eine Dusche und frische Klamotten aus der ZAB eigenen Kleiderkammer, die von den Feuerwehrleuten mit Spenden aus dem Bekanntenkreis bestückt wird, kann Hauerwass niemandem anbieten.

Das ist das Problem der Feuerwehrleute: Mit menschlichem Leid konfrontiert zu sein, sind die Rettungsassistenten gewohnt. Nicht hel-fen zu können, macht die Arbeit in der ZAB schwierig: „Es müsste für diese Menschen eigentlich eine andere Anlaufstelle geben“, so Hauerwass’ Kollege Oliver Wickbold. Nur eine Therapie und ein Dach über dem Kopf könnten die Stammgäste vor der regelmäßigen Rückkehr in die ZAB bewahren.

Inzwischen ist ein Krankenwagen vorgefahren. Zwei Sanitäter bringen den Betrunkenen aus Rissen. Er torkelt über den Gang, erklärt das allerdings mit einer Knieoperation. Zunächst wähnt er sich noch in Rissen – und ist dann erfreut darüber, jetzt mitten auf dem Kiez zu sein. Von Aufsässigkeit ist nichts zu spüren, selig legt er seinen Arm um Hauerwass. Er darf sofort wieder gehen. „In seinem Zustand laufen viele Leute auf dem Kiez rum“, erklärt Hauerwass, „die können wir nicht alle hier behalten.“

Marc-André Rüssau

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