Warum Brahms einen Wutanfall bekam und Freddy Quinn einen Welthit verpasste

Mit seinem Buch „Hamburg Musik!“ hat Joachim Mischke eine Liebeserklärung an die Hansestadt und ihre Künstler geschrieben

(aus Hinz&Kunzt 183/Mai 2008)

Ob Klassik, Hip-Hop oder Jazz, ob die Herren Brahms oder Lindenberg, Tschaikowsky oder Quinn heißen, der Musikwissenschaftler und Abendblatt-Redakteur Joachim Mischke hat über Musiker aus drei Jahrhunderten Anekdoten und Geschichten recherchiert.

Wunderkind, Diva, und Mimose: Johannes Brahms (1833–1897) konnte offensichtlich eine ganz schöne Nervensäge sein. Das schreibt jedenfalls Joachim Mischke. Der berühmte Musiker stammt aus dem Gängeviertel und würde am 7. Mai seinen 175. Geburtstag feiern. Die Hamburger liebten den Komponisten, der sich schon als Siebenjähriger ein eigenes Notensystem ausdachte. Seine Eltern – sein Vater war ein passabler Musiker – förderten den Jungen, wo sie nur konnten. Aber wie’s oft so ist mit Hochbegabten: Mit der sozialen Kompetenz war’s nicht so weit her. Selbst ein guter Freund beschrieb ihn als „eingefleischten Egoisten“ und völlig beratungsresistent.

Ein Beispiel: Der Musiker wollte 1862 Chordirektor der Sing-Akademie werden. Aber ein anderer wurde an seiner Stelle berufen. Großes Drama, obwohl Brahms für die Stelle offensichtlich nicht geeignet war. Das bewies er in Wien, wo er nach nur einer Spielzeit geschasst wurde. Der Grund: seine – gelinde gesagt – kompromisslosen Programme. „Als wollte er es darauf anlegen, sich in Rekordzeit bei allen unbeliebt zu machen“, schreibt Mischke. So gab er in Wien zu Fasching Todtrauriges von Bach und zur Passionszeit das Weihnachtsoratorium.

Dass er auf dem falschen Dampfer war, hat Brahms wohl nie wirklich eingesehen. Noch in hohem Alter sagte er einem Freund: „Hätte man mich zur rechten Zeit gewählt, wäre ich ein ordentlich bürgerlicher Mensch geworden, hätte mich verheiraten können und gelebt wie andere. Jetzt bin ich ein Vagabonde.“ Da half es auch nicht, dass die Hamburger ihn als ersten Künstler überhaupt zum Ehrenbürger ernannten.

Der Tasten-Titan. Wundervoll auch die Anekdote, als der „Tasten-Titan Liszt“ (Mischke) 1840 im Hotel Alte Stadt London auftrat. Hans Chris-tian Andersen war damals dabei und bemerkte dazu: „Solide Hamburger Kaufleute standen aneinandergemauert, als wäre es ein wichtiges Börsengeschäft, das hier verhandelt werden sollte. Es schwebte ihnen ein Lächeln um den Mund, als hätten sie Papier gekauft und unglaublich daran verdient.“

„Russendisko“. So überschreibt Mischke sein Kapitel über den Komponisten und Pianisten Peter Tschaikowsky. Der hat sich in der Hansestadt bestens amüsiert. So stieg bei seinen Besuchen im schicken Hotel Streit’s am Jungfernstieg ab. Von den Hamburgern war er ganz begeistert. Nicht so sehr wegen ihrer Musikalität als wegen ihrer Trinkfestigkeit. Immer wieder erzählt er in seinen Briefen und Tagebüchern von „unbeschreiblicher, schrecklicher Sauferei“. Was ein Kompliment ist: „Alle meine Hamburger Bekannten lieben ein wenig zu zechen, und ich selbst habe wohl nirgends in meinem Leben so oft und so lange gezecht wie in dieser aufgeweckten, schönen und freundlichen Stadt.“

„Spanish Eyes“. Beinahe wäre der Song „Blue Spanish Eyes“ ein Hamburger Hit geworden. Die Unterhaltungsmusiker Bert Kaempfert, gebürtiger Barmbeker, und Freddy Quinn nahmen „Blue Spanish Eyes“ Mitte der 60er-Jahre in den USA auf – und landeten unter den Top 40. Aber die Plattenfirma Polydor war so sauer über das „Fremdsingen“ ihrer beiden Künstler, dass die Platte vom Markt genommen werden musste. Außerdem hatte Polydor auch an den „blue“ Spanish Eyes rumzunörgeln: Es gebe keine Spanier mit blauen Augen … Da konnten Kaempfert oder Quinn noch so sehr darauf bestehen, dass „blue“ in diesem Falle „traurig“ bedeute und nicht „blau“. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Al Martino wurde mit dem Titel weltberühmt und hatte für immer ausgesorgt. Vielleicht als Trost und Wiedergutmachung, bestimmt, um etwas vom Kuchen abzubekommen, schlug Polydor Kaempfert und Quinn vor, den Song auf Deutsch zu singen. Und einen richtig guten Titel hatte sich die Firma auch schon ausgedacht: „Mond, guter Freund“. Die Herren lehnten dankend ab.

Dunkle Kapitel. Einige Geschichten sind gar nicht komisch, sondern bewegend und anrührend. Beispielsweise die des jüdischen Komponisten Berthold Goldschmidt (1903–1996), Sohn eines Bettenhändlers an der Steinstraße. Nach einem Gestapo-Verhör begriff er, dass im Nazi-Deutschland sein Leben gefährdet war. Der Gestapo-Mann hatte selbst eine Tochter, die Klavier spielte. Deshalb gab er dem Komponisten den Tipp: „Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich aus diesem Land herauskommen!“ – und ließ ihn laufen. Zum Glück beherzigte der Komponist den Rat und ging mit seiner Frau nach England. Der Großteil seiner Familie wurde allerdings ermordet. In den 80er-Jahren kam er erstmalig wieder nach Hamburg, und zu seinem 90. Geburtstag lud die Stadt zu einem großen Festbankett. Die Werke des Musikers, der lange unter Schreibhemmung gelitten hatte, wurden in ganz Deutschland wieder aufgeführt. Mischke zitiert Goldschmidt, der sich nach seiner Übersiedlung nach England Goldsmith nannte, mit den Worten: „Wenn mir der liebe Gott vor ein paar Jahren erschienen wäre und hätte mir das alles prophezeit, dann hätte ich gesagt: ‚Lieber Gott, komm, hör auf, fahr wieder hinauf in deinen Himmel! Das glaubt dir kein Mensch.‘“ Er bedauerte, dass seine Freunde und seine Familie dies nicht mehr erleben durften. „Aber noch schöner wäre es, wenn alle meine Feinde diesen Erfolg miterleben müssten.“

Mut zur Lücke. Ein Jahr lang arbeitete Joachim Mischke an diesem Buch über das musikalische Hamburg, neben seinem Vollzeitjob im Feuilleton des Hamburger Abendblatts. Auch wenn Udo Lindenberg, der Hamburger Schule und den Hip-Hoppern eigene Kapitel gewidmet sind, fehlt natürlich der eine oder andere. Lotto King Karl beispielsweise. „Der muss noch nachreifen“, scherzt Mischke. Oder Stefan Gwildis und Michy Reincke. Aber das muss ja nicht so bleiben. „2011 wird die Elbphilharmonie eröffnet, und zu diesem Anlass“, so wünscht sich der Autor, „würde ich das Buch gerne überarbeiten.“

Birgit Müller

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