Unvermuteter Glücksfall

Malende Außenseiter: „Die Schlumper“ werden 25 Jahre alt und stellen in der Hamburger Kunsthalle aus

(aus Hinz&Kunzt 153/November 2005)

„Was ohn’ Vorgedanken, ohn’ Kunst, unversehens geschieht, das ist Schlump, der unvermutete Glücksfall“, schreiben die Gebrüder Grimm in ihrem Wörterbuch.

Als Rolf Laute (65) Anfang der 80er-Jahre seine Künstlergruppe „Die Schlumper“ ins Leben rief, ahnte er von dieser Wortbedeutung noch nichts. „‚Schlumper‘ lag damals auf der Hand, weil unser Atelier in den Kellerräumen des Stadthauses ‚Am Schlump‘ untergebracht war.“ Auf die Grimmsche Übersetzung stieß Laute erst später. „Das passt natürlich auf die Art der Kunst der meisten Schlumper“, sagt er, „da die Werke ohne Planung, ohne intellektuelle Vorgedanken entstehen.“ Denn die zurzeit 24 Schlumper sind Künstler mit geistiger Behinderung.

Als Kind wohnte Laute mit seinen Eltern auf dem Gelände der damals so genannten Alsterdorfer Anstalten. Sein Vater war in der Verwaltung tätig. Die Familie lebte im Dachgeschoss des Hauses Bismarck. Unten lebte Uwe Bender, Jahrgang 1943, aus Wesermünde. Unvorstellbar, dass sie eines Tages einmal zusammenarbeiten würden.

Rolf Laute wurde freischaffender Künstler. Anfang der 80er-Jahre erhielt er eine Einladung zum „Kunst am Bau“ Wettbewerb für ein Gebäude der Alsterdorfer Anstalten. „Ich schlug vor, das Werk gemeinsam mit den Bewohnern des Hauses zu erarbeiten.“ Laute durfte seine Idee umsetzen, die Teilnehmer waren so begeistert, dass sie nach Ende des Projekts unbedingt weitermalen wollten. „Mich hat Außenseiterkunst, Kunst von Kindern und von so genannten ‚Verrückten‘ schon immer interessiert“, so Laute. In den Kellerräumen am Schlump konnte er mit den Künstlern weiterarbeiten. „Die besten Bilder kommen immer von denen, die besonders stark geistig behindert sind“, sagt Laute. „Zu Anfang war das Ganze ja eine Laborsituation. Ich war sehr gespannt auf das, was da aus dem Unterbewusstsein der Künstler hochkommt. Dieses Ehrliche und Echte hat mich fasziniert.“

Einer der Ur-Schlumper von damals ist Uwe Bender, heute einer der „Stars“ der Künstlergemeinschaft. „Uwe hat alle Angebote der Alsterdorfer Anstalten abgelehnt – Korbflechten, Bürstenbinden, Mattenflechten, die so genannte Beschäftigungstherapie. Er verstand sich als Künstler.“ Seine Bilder malte Bender völlig selbstständig, bot sie bei Anstaltsbasaren zum Verkauf an. „Allerdings – als extremer Individualist und Künstler – draußen vor der Tür. Großes Bild 9,50 Mark, kleines Bild 4,50 Mark“, erzählt Laute. Diese Zeiten sind längst vorbei: Größere Bilder von Uwe Bender kosten heute 950 Euro. Einige Werke erzielen Spitzenpreise von bis zu 10.000 Euro. „Für mich war diese Wiederbegegnung mit Uwe ein Schlüsselerlebnis: Behinderte Menschen gelten in der Gesellschaft als Randgruppe – genau wie Künstler. Und Uwe war nun in dieser Randgruppengesellschaft noch mal Außenseiter.“

In Sachen Behindertenarbeit galt Laute damals in Alsterdorf als „Dilettant“: „Deren Meinung nach habe ich die Behinderten nicht richtig behandelt, weil ich sie nicht ‚pflegeleicht‘ hielt. Durch ihre Kunst bekamen sie Bestätigung. Ich habe sie zu selbstbewusst werden lassen – das macht ja mehr Arbeit.“ Kurze Zeit nach Eröffnung des improvisierten Ateliers am Schlump gründete sich die private Initiative „Freunde der Schlumper“, die 1993 mit der damaligen Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales das Arbeitsprojekt „Schlumper von Beruf“ ins Leben rief. Künstlerische Arbeit von Menschen mit Behinderung wurde damit als Arbeit anerkannt und bezahlt. Heute arbeiten die Schlumper wochentags zwischen 9 und 19 Uhr in ihren Atelierräumen in der Alten Rinderschlachthalle St. Pauli. „Schlumper müssen zu mindestens 50 Prozent behindert sein und natürlich Malen zu ihrem Lebensinhalt machen wollen“, zählt Laute auf.

Ein Neuling ist Michael Jürgen Gerdsmann (37). Der stark sehbehinderte Mann malt mit Vorliebe Bahnbilder: S Bahn, U-Bahn, Stadt- und Privatbahnen. „Ich fahre gerne viel herum. Das Fahrgefühl ist einfach toll.“ Mittlerweile kennt Gerdsmann die „Fahrgefühle“ so gut, dass er einzelne Züge nach Baureihen unterscheiden kann. „Da musste ich natürlich viel nachfragen, um an diese Informationen zu kommen.“

Seit drei Jahren gehören die Schlumper zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf, die sich in den 1980er-Jahren noch so skeptisch gegenüber Lautes Engagement gezeigt hatte. Laute fungiert seither als „Abteilungsleiter“ der Schlumper, als Organisator, Manager und Freund. Nicht aber als Mentor oder gar Lehrer. Denn: Alle Künstler arbeiten selbstständig. „Der ideelle Lohn meiner Arbeit ist das nie gesehene Bild“, sagt Laute. Er wünscht sich, dass seine Schlumper als gleichberechtigte Künstler anerkannt werden – unabhängig von ihrer Biografie. „Viele intellektuell begabte Künstler bewundern ja Maler mit geistiger Behinderung, klauen gar bei ihnen.“ Viele täten so, als ob sie selber verrückt seien, oder sie nähmen Drogen, um ihren Intellekt auszuschalten.

]Momentan sind die Schlumper auf dem Weg nach oben. „Sie wollen berühmt werden“, so Laute. Für viele Behinderteneinrichtungen seien sie Vorbild, denn Kunst als Arbeit für Menschen mit Behinderung sei in dieser Form in Deutschland bisher einmalig. Mittlerweile gibt es gar eine „Szene“, die ganz bewusst Kunst von „art brut“-Künstlern – also unverfälschte, ungeschönte Kunst – sammelt. „Die Schlumper malen für Leute, die eine Antenne für Kunst haben“, sagt Laute. Die Schublade „Kunst von Behinderten“ ist da fehl am Platze. Anlässlich des 25 jährigen Jubiläums ihrer „Schlumper-Kunst“ stellen die Maler ab November in der Kunsthalle Hamburg aus. Ein unvermuteter Glücksfall.

Jannika Schulz

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