Trinkgeld für die Natur

Vom Waisenkind in Berlin zum Baumpaten in Lüneburg: Die Geschichte
von Hinz&Kunzt-Verkäufer Gustav Diesterhöft

(aus Hinz&Kunzt 201/November 2009)

Blaues Seemannshemd, ausgebleichte Jeans, Parka und Elbsegler – so kennen die Menschen in Lüneburg Hinz&Kunzt-Verkäufer Gustav Diesterhöft. Ein freundlicher Mann mit blitzenden Augen und Berliner Akzent. Ein jahrelang Obdachloser, der nach dem Tod seiner Frau die dunkelsten Jahre seines Lebens durchschritt. Für eine Baumpflanzaktion hat Gustav Diesterhöft jetzt das Trinkgeld der vergangenen zwölf Monate gespendet – 500 Euro. Wir treffen den Verkäufer, der in diesen Tagen 65 wird, in seiner Wohnung im „Hospital zum Großen Heiligen Geist“, einer Stiftung, die vor mehr als 750 Jahren für Bedürftige gegründet wurde.

gustavHinz&Kunzt: Worum geht es bei der „Blätterwald“-Aktion, die du unterstützt?
Gustav Diesterhöft: Wir pflanzen Laubbäume. Die Setzlinge sind kniehoch, aber wenn daraus große Buchen oder Eichen geworden sind, werden sie wesentlich mehr Trinkwasser bilden als Nadelbäume. So tun wir etwas für die Trinkwasservorräte unserer Enkel und Urenkel. Ich habe zwar keine Kinder, aber man kann ja trotzdem an die Nachwelt denken.

H&K: Bei der Aktion vor einem Jahr warst du auch schon dabei?
Gustav: Ja, ich hatte in der Tageszeitung von dem Projekt gelesen. Für jeden Euro wird ein Laubbaum gepflanzt. Im vergangenen Jahr habe ich 50 Euro gespendet.

H&K: Diesmal kommen 500 Euro von dir.
Gustav: Eigentlich von meinen Kunden. Ich habe ein Jahr lang das Trinkgeld gesammelt und den Kunden von der Aktion erzählt.

Der Hinz&Kunzt-Verkauf ist ein kleiner Zuverdienst für Gustav Diesterhöft. Er bekommt als Frührentner Grundsicherung (entspricht der Sozialhilfe). Rund 350 Euro habe er zur Verfügung, sagt er. Die Unterkunft wird extra bezahlt.

H&K: Nicht jeder kommt mit 350 Euro im Monat aus und gibt dann noch was ab.
Gustav: Ich habe ja alles! Zum Beispiel Klamotten: zwei Hosen, zwei Hemden, einen Pullover für den Winter und einen Parka. Mehr brauche ich nicht. Deshalb habe ich auch keinen Kleiderschrank. Und falls ich mal eingeladen werde, sage ich vorher: Wenn Hemd und Krawatte erforderlich sind, kann ich leider nicht mitkommen.

Ein zufriedener Mensch. Unglaublich zufrieden. Unglaublich, nach dem, was hinter ihm liegt. Als Waisenkind wächst Gustav nach Kriegsende in Berlin auf, in Heimen und Pflegefamilien. Sein Vater ist gefallen, von seiner Mutter ist er als Baby während der Flucht aus Ostpreußen getrennt worden. Er weiß nicht, was mit ihr geschehen ist.

H&K: Du warst nie länger in einer Pflegefamilie?
Gustav: Nein, immer nur für zwei, drei Jahre. Am wohlsten habe ich mich eigentlich im Heim gefühlt. Nach dem Krieg waren viele Kinder ohne Eltern. Das war nichts Besonderes.

H&K: Hast du Freunde von damals?
Gustav: Nein. Mit 16 bin ich nach Hamburg gezogen, weil ich dort eine Lehrstelle als Elektriker bekam. Danach zum Bund, dann bei Siemens auf Montage. Ich war immer unterwegs, auch im Ausland.

H&K: Wo hast du deine Frau kennengelernt?
Gustav: Im Zug von Berlin nach Hamburg. Damals waren die Züge noch länger unterwegs. Heute, mit dem ICE, wäre die Chance nicht so gut (lacht). Ein paar Wochen später haben wir geheiratet. Sie war halt die Richtige, von Anfang an. So einfach ist das. Die Erste und gleich die Richtige. So viel Glück hat nicht jeder.

21 Jahre leben Gustav und Irmgard Diesterhöft in Hamburg. Dann ist das Glück vorbei. Im März 1988 stirbt Irmgard Diesterhöft an einem Gehirnschlag. Der Witwer nimmt ein Vierteljahr unbezahlten Urlaub. Als er in seinen Job als Elektriker zurückkehrt, kann er sich nicht mehr konzentrieren. Er macht Fehler, ein teurer Transformator brennt ab. Er gibt seine Stelle auf, packt seinen Rucksack und bittet seine Schwägerin, das Haus zu verkaufen, das er ohnehin nicht mehr betreten mag. Von dem Geld wird er in den nächsten Jahren leben.
„Ich bin rumgeberbert“, sagt er. Bodensee, Schweiz, immer zu Fuß, jahrelang. Bis er beim Abstieg vom Gotthard stürzt. Das rechte Bein ist kompliziert gebrochen, fast ein Jahr verbringt Gustav Diesterhöft in Krankenhäusern und Reha-Kliniken. Das Bein bleibt steif. Er kann nicht mehr weglaufen.
Außerdem ist das Geld alle. In Hamburg sucht er in Mülltonnen etwas zu essen. Durch eine Beratungsstelle der Ambulanten Hilfe fasst er wieder Fuß, lebt in Hotelzimmern auf der Reeperbahn. Er bekommt sogar – obwohl er keine Wohnung hat – Arbeit als Pförtner in der Musikhalle, danach in einem Museum. Als er in eine Wohnung in Wilhelmsburg zieht, scheint sich sein Leben zu stabilisieren.
Aber dann wirft er noch mal hin. Er ist inzwischen Frührentner und kündigt seine Wohnung. Es sei ihm im Hochhaus zu laut gewesen, sagt er lapidar. In Hamburg will er nicht Platte machen – zu gefährlich. In Lüneburg spannt er zwischen Granitblöcken am Hafen eine Plane aus und lebt dort einen Winter und einen Sommer, verkauft in der Stadt Hinz&Kunzt. Als er von den Wohnungen hört, die die städtisch verwaltete Stiftung an Menschen mit geringem Einkommen vergibt, spricht er den Oberbürgermeister auf der Straße an. „Er hat sich für mich eingesetzt“, lobt der Hinz&Kunzt-Verkäufer, „das vergesse ich ihm nie.“
Am linken Ringfinger trägt Gustav Diesterhöft neben seinem Ehering den seiner Frau. Beide Ringe lassen sich nicht mehr abstreifen.

H&K: Fast 22 Jahre sind seit dem Tod deiner Frau vergangen …
Gustav: Ich war damals fertig mit der Welt. So bin ich auf der Straße gelandet. Wenn du mit einem schweren Rucksack 50 Kilometer am Tag läufst, denkst du nicht mehr nach. Dann gibt es nur noch laufen, laufen, laufen.

H&K: Das war deine Therapie?
Gustav: Ja. Aber es hat auch gut zehn Jahre gebraucht, um mit dem Tod klarzukommen. Heute würde ich sagen: Hättest du damals doch einen Psychologen aufgesucht. Dann wäre das vielleicht in geordneteren Bahnen verlaufen. Aber es war, wie es war.

Gustav Diesterhöft hat jahrelang geackert, gegen Trauer und Schmerz. Jetzt bestellt er ein anderes Feld: Er hat ein kleines Stück Land gepachtet, 400 Quadratmeter. Da erntet er, was er zum Leben braucht: Kartoffeln, Blumenkohl, Sellerie, Tomaten aus dem Gewächshaus. Auch Tabak baut der Nichtraucher an – der ergibt eine gute Jauche gegen Blattläuse.

H&K: Auf dem Acker bist du ganz allein, am Verkaufsplatz triffst du viele Menschen – die Mischung macht’s?
Gustav: Also, einsam fühle ich mich nicht. Ich gehe spätestens um neun Uhr aus dem Haus, entweder auf den Verkaufsplatz oder auf den Acker. Ab und an kommt mal Besuch, aber das hält sich im Rahmen. Die Menschen, die ich in Lüneburg privat kenne, sind alle Kunden von Hinz&Kunzt, alle. Heute Abend zum Beispiel bin ich mit einer Kundin zum Kino verabredet, anschließend essen wir hier.

H&K: Kochst du?
Gustav: Klar, Gemüseeintopf. Bei mir gibt es immer Eintopf.

Gustav Diesterhöft steht jeweils in der ersten Woche im Monat auf seinem Stammplatz Am Sande/Ecke Bäckerstraße in Lüneburg.
Die Bäume für den „Blätterwald“ werden am Sonntag, 8. November, ab 11 Uhr bei Melbeck (südlich von Lüneburg) gepflanzt. Veranstalter sind die Lüneburger Landeszeitung und der Verein Trinkwasserwald, das Unternehmen W. Marwitz Textilpflege verdoppelt private Spenden. Weitere Informationen unter www.trinkwasserwald.de

Text: Detlev Brockes
Foto: Mauricio Bustamante

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