Ottensen : Anwohner wehren sich gegen Verdrängung

Aus Angst vor steigenden Mieten und Verdrängung wehren sich Anwohner in Ottensen gegen mehrere Bauprojekte. Jetzt können sie erste Erfolge verzeichnen. Und gegen einen Bürobau auf dem Zeise-Parkplatz sammelten sie zahlreiche Unterschriften.

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Hauke Sann ist einer der Mitinitiatoren von Pro Wohnen Ottensen.

Aus dem trostlosen Parkplatz an den Zeisehallen in Ottensen ist ein Streitfall geworden, der zwei Monate vor der Bürgerschaftswahl das Fass zum Überlaufen bringen könnte. Es geht um die Frage: wohnen oder arbeiten? Denn bis vor wenigen Monaten wurde den Nachbarn ein neues Wohnhaus versprochen. Über einer Gewerbezeile sollten mehr als 80 neue Mietwohnungen entstehen. Die Hälfte davon Sozialwohnungen. „Da sind wir richtig stolz drauf“, verkündete SPD-Fraktionsmitglied Mark Classen im Herbst 2012 im Abendblatt.

Zwei Jahre später sind die Wohnungsbaupläne vom Tisch und der Altonaer Stadtplanungsexperte Classen hat die Fronten gewechselt. Als Geschäftsführer von Pare Consulting berät der 39-Jährige jetzt die Immobilienfirma Quantum, die gemeinsam mit der Procom Invest an dieser Stelle Büroraum für mehr als 800 Werber schaffen will. Ein Mietvertrag über 15 Jahre mit der Agentur WPP und deren Tochterunternehmen Scholz & Friends wurde bereits geschlossen. Seitdem das im Sommer bekannt wurde, laufen Anwohner und die Initiative Pro Wohnen Ottensen Sturm. „Die Bürger sind extrem frustriert, aber auch extrem wütend“, sagt Hauke Sann, Mitinitiator der neuen Protestwelle. „Ottensen ist kein angenehmer Platz mehr, wenn hier bis zu 1000 Leute dazukommen. Wir brauchen Wohnungen und keine Büroklötze.“

Für den Unmut der Anwohner hat Bezirksamtsleiterin Liane Melzer Verständnis. Doch Gewerbe sei in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zugunsten von Wohnungen aus Ottensen verdrängt worden. „In Altona wurden 43 Hektar innerhalb von zehn Jahren von Gewerbe in Wohnen umgewandelt“, pflichtet ihr Baudezernent Reinhold Gütter bei. Gearbeitet wird dann woanders, meint Melzer, die ausgerechnet über einen der quirligsten Stadtteile Hamburgs sagt: „Ich habe die Sorge, dass in Ottensen reines Wohnen überhandnimmt und der Stadtteil damit seinen Charakter verliert.“ Sie befürchtet, dass Ottensen dann eines Tages „zur Schlafstadt werden könnte“. Deswegen hält sie auch den Bebauungsplan für richtig, der seit den 1990er- Jahren eine gewerbliche Nutzung auf dem Zeise-Parkplatz vorschreibt. Aber in all den Jahren wurden keine passenden Interessenten gefunden. Die Ausschreibung für den Wohnungsbau sei schlussendlich nichts anderes als eine Ersatzlösung gewesen, rechtfertigt Melzer den Doppelschwenk.

„Es geht nicht darum, dass man hier grundsätzlich Gewerbeansiedlung verhindert“, hält Hauke Sann dagegen. „Es geht um die Größenordnung.“ Und die sei schlicht unverhältnismäßig. „48 Jahre habe ich mich nie in die Politik eingemischt“, sagt der Kommunikationsberater und Designer, der mit seinem Büro selbst in den Zeisehallen ansässig ist. „Aber als ich gemerkt habe, dass es mich und meine Bekannten betrifft, da war für mich Schluss.“ Sein Argument: Es entstünden gar keine neuen Arbeitsplätze. Scholz & Friends verlagere lediglich seinen Standort aus der Hafencity nach Ottensen. Die Gegend sei eben sehr begehrt, entgegnet Gütter.

Hauke Sann aber befürchtet, dass gewachsene Strukturen vernichtet werden. Man müsse sich nur umsehen: „Ein Laden nach dem anderen bekommt schon jetzt keine Mietverlängerung, fliegt raus und wird durch Schickimicki-Läden und die üblichen großen Ketten ersetzt.“

Tatsächlich hat Ottensen viele Wellen der Gentrifizierung hinter sich. Und immer wieder gab es Protest: Bereits in den 1970er-Jahren wehrten sich Bewohner gegen Autobahnzubringer und Abrisspläne für die sogenannte City-West. Später entbrannten erneut Kämpfe um den Mercado-Bau und die Verdrängung der ansässigen Bauwagenplätze. Zugleich entwickelte sich das ehemalige Sanierungsgebiet zu einem angesagten Viertel. Aus Fabriken wurden Kulturzentren und rund um den Alma-Wartenberg-Platz siedelten sich zahlreiche Cafés und Bars an. Unter die Räder gerieten dabei diejenigen, die sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten konnten. „Viele türkischstämmige Menschen sind weggezogen“, sagt Sann. „Das Mietniveau ist so, dass sogar Normalverdiener wegziehen müssen und keine Wohnungen mehr finden.“

Trotzdem hat Ottensen seinen Charme bewahrt. Auf dem Alma-Wartenberg-Platz nippen Punks neben Hipstern an Bierdosen und Caipirinha-Gläsern und türkische Jugendliche diskutieren vor dem Kiosk 2000 über den vergangenen Bundesliga-Spieltag. In seinem Zentrum beherbergt der Platz nicht etwa ein „Starbucks Coffee House“, sondern ein Sonnenstudio. Als stünde man mitten im Stadtkern von Itzehoe oder Husum. „Ottensen lebt von den vielen kleinen Läden, seinen Grünflächen, seiner interkulturellen Mischung und der Nähe zur Elbe“, sagt Sann. Kein Wunder, dass die Bewohner ihren Stadtteil liebevoll als „Dorf“ titulieren.

Seitdem der Streit um den Zeise-Parkplatz entbrannt ist, machen viele Gerüchte im „Dorf“ die Runde. Dem Restaurant Mamma Mia, von „Mopo“-Lesern zu „Hamburgs beliebtestem Italiener“ gewählt, wurde gekündigt. Bei Facebook hieß es sogleich, dass Mamma Mia und der benachbarte Rewe-Markt einem weiteren Großbauprojekt weichen müssten.

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Die Ottenser fühlen sich übergangen: Angeblich will ein Investor das Rewe-Gelände an der Barnerstraße neu bearbeiten.

Im Gespräch mit Hinz&Kunzt erklärten Melzer und Gütter noch im November, dass ihnen weder Bauanträge noch weitere Vorgänge bekannt seien. Doch wie so oft, steckt in Gerüchten ein Stück Wahrheit. Tatsächlich gab es einen Eigentümerwechsel. Die Befürchtungen der Anwohner sind somit nicht unbegründet. „Wir wollen, dass die Ottenser in den Planungsprozess einbezogen werden“, sagt Christian Trede von den in Altona mitregierenden Grünen. Im Planungsausschuss des Bezirks hat der Politiker deswegen einen neuen Bebauungsplan auf den Weg gebracht. Denn um Einfluss auf die Pläne des Investors nehmen zu können. Der Prozess könnte bis 2017 andauern. Ob und was gebaut wird, steht noch in den Sternen. Fest steht hingegen, dass genau dann die Mietverträge der benachbarten Restaurants Mamma Mia und Sortiris auslaufen.

Eine „sehr strukturkonservative“ Haltung zeige sich laut Gütter auch im Streit um einen Neubau am Spritzenplatz, dem Herz des Stadtteils. Der Eigentümer wollte dort einen futuristischen Bau nach einem Entwurf des Stararchitekten Libeskind errichten. „Jetzt steht dort ein Nachkriegsbehelfsbau“, sagte Gütter im November gegenüber Hinz&Kunzt. Für die Empörung hat er kein Verständnis. Schließlich handle es sich nur um einen ersten Entwurf – und die Zustimmung des Bezirks sei längst nicht gewiss.

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Für das Eckgebäude am Spritzenplatz hatte Stararchitekt Libeskind einen futuristischen Neubau entworfen.

Inzwischen scheint eine Umsetzung des Libeskind-Entwurfs ausgeschlossen. Denn der Planungsausschuss empfiehlt dem Bauausschuss den Entwurf abzulehnen. Und in der Regel folgte der Bauausschuss den Empfehlungen aus dem Planungsausschuss.

Aus Sicht der Anwohner sind das erste kleine Erfolge. Doch in Ottensen bleibt man misstrauisch. Diese Haltung kommt nicht von ungefähr. Als 2005 das Bismarckbad schließen sollte, sammelten Anwohner mehr als 20.000 Unterschriften gegen den Abriss. Doch der Senat ignorierte den Bürgerwillen, und zuletzt vergaß der Bezirk den Bau von Sozialwohnungen bei einem Projekt an der sogenannten Bergspitze in Altona.

„Man hat uns einfach schon zu oft übergangen“, sagt Sann, der den Bürobau noch zu Fall bringen will. Deswegen startetet die Initiative Pro Wohnen Ottensen das Bürgerbegehren „Platz zum Wohnen!“. Mehr als 2000 Unterschriften wurden dem Bezirk bereits überreicht. In einem ersten Schritt soll dadurch eine Art Sperrwirkung erzielt werden. Für drei Monate dürften jetzt keine Entscheidungen gefällt werden, die dem Ziel des Bürgerbegehrens zuwiderlaufen, so Sann. Vorbereitungen für eine Bebauung dürfen hingegen weiterhin getätigt werden. Das erklärt, warum einige Bäume auf dem Parkplatz bereits gefällt wurden. Die Initiative will darüber hinaus verstärkt Anwohner gegen das Bauprojekt mobilisieren. Vor der Wahl ist eine große Demonstration angedacht. Sann und seine Mitstreiter werden jedenfalls nicht aufgeben: „Wir lassen uns nicht so leicht vertreiben.“

(aktualisierter Text aus Hinz&Kunzt 262/Dezember 2014)

Text: Jonas Füllner
Mitarbeit: Birgit Müller
Fotos: Mauricio Bustamante

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