Jessica ist tot

Eine junge Frau erzählt vom Selbstmord ihrer besten Freundin

(aus Hinz&Kunzt 133/März 2004)

Es war nicht Jessicas erster Versuch, sich das Leben zu nehmen. Schon vier Wochen zuvor nahm die 18-Jährige eine Überdosis Tabletten. „Da fanden ihre Eltern sie, bevor es zu spät war“, sagt die damals 15 Jahre alte Inken. Sie und Jessica waren eng befreundet. „Wir haben uns oft getroffen und über Gott und die Welt gequatscht. Ich kannte nur wenige Personen, auf die man sich so gut verlassen konnte. Sie war immer für mich da, wenn es mir schlecht ging.“

Allein im Jahr 2001 töteten sich in Deutschland mindestens 765 Menschen unter 25 Jahren. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher, denn ungeklärte Todesfälle werden nicht in der Statistik geführt. Viel erschreckender ist aber, dass schätzungsweise 15.000 junge Menschen jedes Jahr versuchen, sich umzubringen. Allerdings sind viele Suizidversuche nur ein Hilfeschrei, um auf radikale Weise auf Probleme aufmerksam zu machen. Dieses Phänomen wird vor allem bei Mädchen beobachtet. Männer sind in ihrer Entscheidung konsequenter. Außerdem begehen Männer viermal häufiger Selbstmord als Frauen. Wie im Fall von Jessica kündigen die meisten Selbstmörder ihre Tat an. Warum sie sich umbringen, bleibt für die Angehörigen trotz Ankündigung und Abschiedsbrief meist ein Rätsel und hinterlässt tiefe seelische Narben.

„Jessica hatte viele Probleme“, erzählt Inken weiter, „sie war zwar 18, aber ihre Eltern haben ihr trotzdem viele Sachen verboten. Sie durfte zum Beispiel nur bis 21 Uhr wegbleiben.“ Die ständigen Ausgehverbote waren nicht die einzigen familiären Auseinandersetzungen: In einem handfesten Streit, ein Jahr vor dem Selbstmord, trat die Mutter ihrer Tochter so stark in den Bauch, dass die damals hochschwangere Jessica ihr Kind verlor. „Sie war richtig fertig“, sagt Inken, „aber das war sicher noch kein Grund für sie, sich umzubringen. Den Rest hat ihr wahrscheinlich die Aidsdiagnose vom Arzt gegeben.“ Jessica und ihr Freund waren HIV-positiv, doch die Ärzte gaben ihm mehr Zeit als ihr. „Als sie dann die Tabletten geschluckt hatte, habe ich immer wieder gebetet, dass sie es überleben möge.“ Inken fragt sich, warum die Ärzte ihre Freundin so schnell aus dem Krankenhaus entlassen haben. Nur kurze Zeit später hat sie sich die Pulsadern aufgeschlitzt.

Jessicas Fall ist extrem. Schon weniger schwere Probleme können Selbstmordgedanken hervorrufen. Bei Selbstmordgedanken helfen vor allem die Sorgentelefone und die psychologische Seelsorge der Kirchen und Jugendämter. Dazu muss der mögliche Selbstmörder aber bereit sein, über sich und seine Probleme zu sprechen. Das kostet viel Überwindung, und daher müssen meist Angehörige und Freunde den Anstoß zum Gespräch geben. Eine derartige Unterhaltung setzt aber wiederum voraus, dass die Selbstmordabsicht erkannt wird. So etwas fällt nicht immer leicht: Wenn der Suizidplan feststeht, fallen die Betroffenen häufig in einen euphorischen Zustand und täuschen somit ihre Umwelt. Durch Aufklärung an Schulen sollen Jugendliche für das Thema und das auffällige Verhalten von Selbstmord-Gefährdeten sensibilisiert werden. Darüber hinaus haben sich etliche Organisationen auf Suizidprävention spezialisiert (siehe Info-Kasten).

Inken hat vom Tod ihrer Freundin erst ein paar Tage später durch Jessicas Freund erfahren. „Ich hatte den ganzen Tag schon ein flaues Gefühl im Magen, und dann rief ihr Freund an und meinte nur: ,Ich muss dir was Schlimmes sagen, Jessica ist tot.‘“ Heulend brach Inken zusammen. „Ich hatte sturmfreie Bude, meine Eltern waren weggefahren, ich konnte es einfach nicht ertragen, ganz alleine rumzusitzen.“ Unfähig, über das Geschehene zu reden, heulte sie sich wortlos bei bei ihren Freunden aus. Ihren besorgten Eltern log sie eine heile Welt vor.

Als sie Monate später ihrer Mutter doch von Jessicas Selbstmord erzählt, nimmt diese Inken beiseite und versucht, ihr ein Gespräch aufzudrängen. „Sie wollte immer tiefgehend mit mir reden, aber ich brauchte doch nur jemanden, der mich in den Arm nimmt. Ich hatte jede Nacht Albträume, habe genau gesehen, wie sie sich umgebracht hat. Und ironischerweise soll es exakt so gewesen sein, aber das habe ich erst später aus Erzählungen erfahren.“ Trotzdem wollte Inken keine professionelle Hilfe eines Psychologen in Anspruch nehmen. Einfach nur vergessen: So lautete Inkens Strategie, mit dem Tod ihrer Freundin fertig zu werden.

Es hätte andere Möglichkeiten gegeben: Selbsthilfegruppen für Angehörige und Freunde von Opfern zum Beispiel, wie der bundesweit tätige Verein AGUS (siehe Info-Kasten). Dieser vermittelt die Trauernden an andere Betroffene weiter und bietet den Hinterbliebenen eine Möglichkeit, mit ihrem Verlust und dem Schmerz klarzukommen oder zumindest darüber zu sprechen. Schulen wird für den Fall der Fälle meistens ein kirchlicher Betreuer angeboten, der das Geschehene gemeinsam mit den Schülern aufarbeitet.

Inzwischen, ein Jahr später, kann Inken oberflächlich über den Selbstmord ihrer Freundin sprechen. Sie hat gemerkt, dass Reden doch helfen kann. „Und die Albträume“, fügt sie mit einem zuversichtlichen Lächeln hinzu, „die kommen nur noch einmal die Woche. Aber das wird auch noch vorbeigehen.“

Julia Lipp und Sören Christian Reimer

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