Fotoausstellung : Grenze auf, Grenze zu

Als junger Mann überquerte der Hamburger Fotograf Martin Langer die innerdeutsche Grenze bei Marienborn stets mit einem mulmigen Gefühl. Als die Mauer fiel, sah er sich genauer um. Nun zeigt Langer in der Freelens Fotogalerie am Baumwall seine „Marienborner Elegie“.

Marienborn
Eindrücke aus dem „wilden Osten“ vom Hamburger Fotograf Martin Langer.

(aus Hinz&Kunzt 261/November 2014)
Marienborn gibt es nicht mehr.
Marienborn ist nur ein Name, für viele eine flüchtige Erinnerung: Keine 400 Menschen wohnen heute noch in dem einstigen, recht stolzen Dorf, das seit 2010 seine Selbstständigkeit verloren hat. Das nur noch ein schnöder Ortsteil der Gemeinde Sommersdorf im Landkreis Börde im neuen Bundesland Sachsen-Anhalt an der Landesgrenze zu Niedersachsen ist. Das war hier mal ganz anders: als es die DDR noch gab und damit die innerdeutsche Grenze. Bis zu 1000 Menschen waren in Marienborn auf einem 35 Hektar großen Gelände beschäftigt: Sie gingen des Tags wie des Nachts bei jedem Wetter mit der schussbereiten Waffe in der Hand am Grenzzaun entlang für den Fall, dass es der Klassenfeind wagen sollte, ihr Land zu betreten.

Mehr aber noch waren sie für ihre eigenen Landsleute zuständig, denen es offenbar in ihrem Staat nicht so arg gut gefiel und die sich auf der anderen Seite des Zauns wenigstens mal umschauen wollten. Und sie fertigten Tag für Tag die Autos ab, die damals noch VW Käfer oder Opel Admiral oder Ford Mustang hießen und die über die Transitautobahn über Marienborn bis nach Westberlin fuhren – und wieder zurück. Westdeutsche unterwegs durch das Gebiet der DDR.

GÜST, der offizielle Name: Grenzübergangsstelle. Anfang der 70er-Jahre für mehr als 70 Millionen Ostmark errichtet. Allein in den fünf Jahren von 1984 bis 1989, als alles enden sollte, wurden hier mehr als zehn Millionen Pkw, fast fünf Millionen Lkw und 140.000 Reisebusse abgefertigt. Schauten nahezu 35 Millionen Reisende auf die schwer bewachten und nachts lichtüberfluteten Grenzanlagen und versuchten zu verstehen, was es damit auf sich hatte. Und waren wohl auch damit beschäftigt, dieses klamme Gefühl der Bedrohung schnell wieder abzuschütteln.

Der Hamburger Fotograf Martin Langer erinnert sich: „Ich komme aus Göttingen und bin damals mit Freunden oft mit dem Auto über Hannover und dann Marienborn nach Westberlin gefahren. Wir waren junge Kerle, und wie man da so ist, hat man eine große Klappe. Aber je näher die Grenze kam, desto stiller wurden wir. Diese Schilder: ‚Noch 500 Meter bis zur Grenze‘, dann ‚Noch 100 Meter …‘, ‚Noch 50 …‘. Am Ende haben wir nur noch geflüstert.“ Er sagt: „Wir haben Schiss gehabt vor den strengen Ostgoten mit ihren Mützen, die von einem die Ausweise verlangten und die einen nach verbotenen Schriften und Funk und Waffen abgefragt haben, und die so ruppig waren in der Ansprache.“

Jahre später, 1990, offiziell gibt es die DDR noch, ist Martin Langer längst dabei, sich in Hamburg als Reportagefotograf zu etablieren. In der Zeitung liest er eine Notiz: Die Marienborner Grenzanlagen sollen demnächst in einen Gedenkort umgewandelt werden. In Erinnerung an die bald überwundene innerdeutsche Teilung. Aber auch um dauerhaft zu dokumentieren, wie die Grenzüberwachung und die Grenzsicherung im Detail funktionierte. Martin Langer schnappt sich seine Fototasche, er setzt sich ins Auto, fährt nach Marienborn, und nach und nach entsteht seine Fotoserie „Marienborner Elegie“.

„Es gab den wilden Osten wirklich“- Martin Langer, Fotograf

„Das war ganz unkompliziert, man konnte dort überall im ehemaligen Sperrgebiet einfach so rumlaufen. Es gab diese Zeit nach der Wende, wo der Osten wirklich der „wilde Osten“ war.“ Anarchisch sei es gewesen: „Man konnte bei Rot über die Ampel fahren, die Ordnungskräfte im Osten waren verunsichert, die haben nichts mehr gemacht. Es war ein Vakuum. Die neuen Regeln hatten sich noch nicht durchgesetzt, die alten galten nicht mehr.“ Manche agierten sich auch aus: „Viel war schon zertrümmert von irgendwelchen Leuten, die sich da abreagieren mussten. Nach dem Mauerfall war der Grenzstreifen eine Art Abenteuerspielplatz.“

Er schaut sich genauer um und blickt bald ganz anders auf die einst so furchteinflößenden Grenzanlagen: „Man wurde ja früher angehalten, dann musste man seine Reisepapiere abgeben und die verschwanden auf so einem Fließband. Und nun konnte ich sehen, dass das ein selbst gebautes Fließband war; dass da ein Grenzbeamter mit der Hand gekurbelt hatte; so ein Holzding, selbst geschnitzt, aber es war ganz ernst ge- meint. Oder es gab einen Schalter, auf dem stand: ‚Grenze zu‘. Und es gab einen für ‚Grenze auf‘. Wenn man mir das vorher erzählt hätte, ich hätte es nicht geglaubt.“

Doch er belässt es nicht beim fotografischen Blick auf die alten Grenzanlagen, wo der Angstschweiß mittlerweile verdunstet ist. Er fährt weiter. Fährt in das Dorf, das dem Grenzort so lange seinen bekannten Namen gegeben hat: nach Marienborn. „Beim ersten Mal bin ich da nur so mit dem Auto durchgerollt. Aber es hat Lust gemacht, mir das näher anzuschauen.“ Er kommt wieder, diesmal hält er an und steigt aus: „Ich habe auf dem Sportplatz beim Fußball ein Foto von den Männern gemacht, wie sie gerade jubeln. Das Bild habe ich etwas größer abgezogen, bin damit beim nächsten Mal in die Kneipe gegangen und hab es ihnen geschenkt. Von da an war klar: ‚Der Typ ist okay.‘ Die haben sich da so darüber ge- freut; die hatten ja oft nicht mal von ihren eigenen Hochzeiten schöne Bilder.“

Entspannt zuschauen, wenn andere sich redlich abmühen: Samstagnachmittag hatten die Männer auf beiden Seiten des Spielfeldes ihren Spaß. Heute kämpfen in Marienborn und Umgebung viele Vereine und Sportclubs ums ÜBERLEBEN – so wie auch in der Ersten Bundesliga kein ostdeutscher Verein mehr vertreten ist. Foto: Martin Langer.
Entspannt zuschauen, wenn andere sich redlich abmühen: Samstagnachmittag hatten die Männer auf beiden Seiten des Spielfeldes ihren Spaß. Heute kämpfen in Marienborn und Umgebung viele Vereine und Sportclubs ums ÜBERLEBEN – so wie auch in der Ersten Bundesliga kein ostdeutscher Verein mehr vertreten ist. Foto: Martin Langer.

Ein klein wenig wundert er sich noch heute, wie unkompliziert er sich damals in Marienborn und dann auch in den Nachbardörfern bewegen und umschauen und dabei fotografieren konnte; wie selbstverständlich er mit dabei ist, wenn der Abendbrottisch gedeckt wird, wenn das letzte Kollektiv zusammen Schnee schippt, wenn daheim das Schwein geschlachtet wird: „Ein Wessi in Ostdeutschland, ein Fremder und dann noch mit einer Kamera – eigentlich geht das gar nicht. Aber die haben sich so gefreut, dass sich mal einer für sie interessiert.“ Er schaut sich auch in den umliegenden Orten um: „Da gibt es einen Nachbarort, der heißt Harbke. Da hatte einer so eine typische Nachwendegeschäftsidee: Er hat eine alte russische Iljuschin 18 auf einen kleinen Hügel gestellt; vorne war ein Standesamt, hinten ein Café. Aber das hat sich nicht gehalten: Die Leute kamen nur, um vor dem Flugzeug ein Foto zu machen. Und fuhren dann weiter und dachten nicht daran, zu heiraten.“

Und auch sonst wurde es am Ende nichts mit dem Aufschwung, dem Aufbruch in Marienborn: „Der Wohlstand, der sich in den letzten 25 Jahren durchaus im Osten breitgemacht hat, fährt an ihnen vorbei. Die haben zwar neue Fußwege, aber es gibt keine Arbeit mehr. Die Marienborner fahren heute die 40 Kilometer nach Magdeburg, arbeiten dort als Handwerker. Im Ort gibt es noch anderthalb Minibauern – das war’s.“

Vor drei Jahren war Martin Langer das letzte Mal da. Zu einigen Marienbornern hat er bis heute Kontakt gehalten: „Die Marienborner sind sehr nett, ganz unkompliziert, ganz entspannt – so wünscht man sich alle Mitbürger. Bisschen naiv vielleicht; mehr im Sinne von eben gutmütig. Das wird ja oft in unserer coolen Welt belächelt.“ Er sinniert für einen Moment, schaut nachdenklich in seine Schachtel mit den Fotos aus Marienborn und sagt: „Ganz offen, ganz toll, ganz echt.“ In Hamburg könne man sich so etwas kaum vorstellen. Von daher wird er, bevor jetzt seine Ausstellung mit seiner „Marienborner Elegie“ eröffnet, mal wieder in Marienborn haltmachen und natürlich aussteigen. Wenn alles gut geht – und warum sollte es das nicht – bringt er von dieser Fahrt mindestens ein neues Foto mit.

Eröffnung: Do, 6. November, 19 Uhr, Freelens Galerie: „Marienborner Elegie“ von Martin Langer.
Öffnungszeiten: Mo–Fr, 11 bis 18 Uhr. Eintritt frei. Die Ausstellung endet am15. Januar 2015.
Weitere Informationen: www.freelens.com

 

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