Dartreportage: Zu Gast bei Karl-Heinz

Eine ungewöhnliche Begegnung in der Alsterdorfer Straße

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Alsterdorfer Straße.

Ich stehe im Regen – und will nicht mehr. Nichts ist los. In der Alsterdorfer Straße zwischen Sengelmannstraße und Hindenburgstraße wird nur gewohnt. Ein paar alte Patriziervillen stehen hier, mit grünen Parks drumherum. Sonst Reihenhäuser, wie überall in Hamburg. Mit Wäscheleinen und Satellitenschüsseln auf den Balkons. Keine Geschäfte, in denen sich die Hausfrauen zum Klönen treffen. Keine Kneipen, in denen die Männer Fußball gucken. Und es ist niemand auf der Straße. Manchmal sieht man einen Menschen die schützende Wohnung verlassen, dann heißt es rennen, bevor er sein Auto erreicht und wegfährt, zu spannenderen Orten. An vier Tagen bin ich immer wieder hingefahren. Doch mein Notizblock bleibt beunruhigend leer.

In der Redaktion klang die Idee gut. Ein Wurf mit dem Dartpfeil auf Hamburgs Stadtplan, und eine Geschichte über den getroffenen Ort finden. Einfach hin, ein bisschen plaudern und die vielen Schicksale und Anekdoten, die einem dort unzweifelhaft zufliegen, aufschreiben. Denn Geschichten gibt es überall – angeblich.

Meine Verzweiflung wächst, da sehe ich plötzlich zwei Spaziergänger. Sie geben ein seltsames Bild ab. Sie stellen sich als Karl-Heinz und Volker vor. Karl-Heinz sieht zerbrechlich aus neben seinem hochgewachsenen Begleiter. Langsam und vorsichtig sind die Bewegungen des kleinen Mannes mit dem dünnen weißen Haar. Als er lacht, durchziehen unzählige Falten sein Gesicht. Er ist alt geworden in Alsterdorf. 68 Jahre ist er, und das ist „uralt“. „Ich denke, Karl-Heinz ist der älteste Mensch mit Down-Syndrom in Europa“, sagt der Betreuer.

Vielleicht liegt es daran, dass sie Mitleid mit mir haben, weil es regnet. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich mittlerweile irgendwie glaubwürdig erklären kann, warum ich in der Alsterdorfer Straße stehe. Auf jeden Fall darf ich mitkommen und mir anschauen, wie und wo sie leben. Karl-Heinz wohnt in einer alten weißen Fachwerk-Villa. Sie steht in einem hügeligen Garten mit Tannen. Sie hat einen Fachwerkgiebel und auf der Freitreppe wächst Moos. Eine alte Pferdekutsche parkt in einem verrotteten Unterstand neben dem Haus. Vor einem Jahr ist er hergezogen. Das Haus, in dem er vorher wohnte, wurde abgerissen. Es stand auf dem Gelände der „Evangelischen Stiftung Alsterdorf“, die fast alle noch „Alsterdorfer Anstalten“ nennen. Doch die Anstalten verändern sich, deswegen musste Karl-Heinz’ Haus weichen. Auf dem Stiftungsgelände entsteht der „Alsterdorfer Markt“, mit Büros, Geschäften und Wohnhäusern. Er soll das neue Zentrum des Stadtteils werden.

In der Villa leben neun Menschen, aber die meisten sind gerade unterwegs, als ich komme. Das Leben spielt sich im Wohnzimmer ab. Es tobt nicht gerade, denn die Bewohner der Villa sind alle schon etwas älter. Der Fernseher läuft. Am Couchtisch sitzt Marion, vor ihr ein „Mensch ärgere dich nicht“-Spiel, die Figuren sind schon aufgestellt. Sie wartet nur noch auf einen Mitspieler, woraus wohl nichts wird, weil ich da bin, und man sich unterhalten muss. In einer Ecke sitzt Jonny und fragt mich immer wieder misstrauisch, ob ich seinetwegen da bin.

Gerahmte Fotos an den Wänden erzählen von gemeinsamen Ausflügen, Gartenfesten und ausgezogenen Bewohnern. Über die Jahre ist einiges zusammengekommen. Die Wohngruppe ist eine der ersten gewesen, die aus dem Gelände der Stiftung ausgegliedert wurde. „Jetzt wird wohl ganz Alsterdorf entvölkert“, befürchtet Betreuer Volker. Das ist Teil eines neuen Konzeptes, das die behinderten Menschen besser integrieren soll. „Community Care“ heißt es. Die behinderten Menschen sollen unter Nichtbehinderten wohnen und unter Leitung eines Betreuers auch in herkömmlichen Betrieben arbeiten. Klingt gut, aber Volker ist skeptisch. „Gut kompatible Leute kommen dann in die Wohngebiete“, sagt er, „die schweren Fälle werden dann wohl nach weit draußen verfrachtet.“

Vereinsamung droht auch in den Wohngebieten, wenn die Integration nicht funktioniert. Und das ist nicht unwahrscheinlich. In den 20 Jahren, in denen in der Villa geistig behinderte Menschen untergebracht sind, blieben die Kontakte mit den Nachbarn äußerst spärlich. „Wer will schon mit Behinderten zu tun haben?“ fragt Volker. Auf dem Stiftungsgelände war das anders. Dort gibt es eine eigene Infrastruktur, mit Läden, Werkstätten und Ärzten. Ein Ghetto, sagen die einen. Eine Stadt in der Stadt, die anderen.

Hier jedenfalls bleibt die kleine zusammengewürfelte Wohngruppe unter sich. Streitigkeiten, Reibereien und Unzufriedenheit mit den Mitbewohnern bleiben bei den unterschiedlichen Charakteren nicht aus. Karl-Heinz betont in so einem Moment, dass seine Haare nur deswegen grau sind, weil „ihn die Jungs immer ärgern“. „Auch hier hat sich niemand ausgesucht, mit wem er zusammenlebt“, stellt der Betreuer klar. Außer Marion, die einzige Frau in der Villa, sie ist mit einem anderen Bewohner liiert, sogar verlobt, schon ziemlich lange. Umständlich zieht sie den dünnen goldenen Ring von ihrem runden Finger. „Joachim“ steht drinnen, und „9.2.96“. Sieben Jahre – eigentlich Zeit für eine Heirat. Marion lacht, reibt Daumen und Zeigefinger aneinander: „Zu teuer!“ Später, als sie mir ihr Zimmer zeigt, lerne ich ihre zweite große Liebe kennen. Elvis, sein Bild hängt über ihrem Bett. Und ihr Hobby – eine umfangreiche Autogrammkartensammlung.

Volker und seine Kollegen verlassen die Villa jeden Abend. Von 20 bis neun Uhr sind die Bewohner allein. Am schwarzen Brett hängt die Telefonnummer des Betreuers, der Bereitschaftsdienst hat. Aber nur zwei der Bewohner sind in der Lage zu telefonieren. „Es ist immer ein Spagat: Einerseits will man größtmögliche Selbstständigkeit ermöglichen, andererseits Risiken vermeiden“, kommentiert Volker. Er ist froh, dass nur einer der Bewohner auf seinem Zimmer raucht. Bald soll die Betreuung in den Wohngruppen noch weiter reduziert werden. Dann kommen Betreuer nur noch zu festen Terminen vorbei, um konkrete Probleme mit den Bewohnern durchzusprechen.

Volker vermutet Kostengründe. Die geräumige Villa, die Betreuung – alles nicht umsonst zu haben. Deswegen muss die Wohngruppe demnächst auch in neue Häuser umziehen. Die Zimmer sind kleiner, und mehr Menschen können auf geringerer Fläche untergebracht werden. Dann wird eine der letzten Villen in der Alsterdorfer Straße abgerissen, Platz für ein modernes Wohnhaus geschaffen.

Auch Karl-Heinz zeigt mir sein Zimmer. Es ist im Erdgeschoss, der alte Mann würde die Treppen nicht mehr schaffen. „Das schönste Zimmer im ganzen Haus“, meint Volker anerkennend. Weiße Wände, eine hohe Decke und viel Platz. Der Blick aus dem Fenster geht auf die Gewächshäuser hinterm Haus, in denen Mitbewohner Klaus Zierpflanzen anbaut und auf dem Winterhuder Markt verkauft. Kein Lärm von der Straße dringt hierher. Ein Haufen Stofftiere auf dem Schrank, über dem Bett hängen Lebkuchenherzen. „Karl-Heinz ist der Beste“ steht mit weißem Zuckerguss verschnörkelt drauf geschrieben, daneben ein Kalender mit Katzenfotos.

Karl-Heinz setzt sich auf die bunte Bettdecke. Er hält kurz inne und erzählt dann von seiner Gartenlaube. So nennt er sein ehemaliges Domizil auf dem Anstaltsgelände. Viele Bäume wuchsen vor seinem Zimmer, das rundherum Fenster hatte. Er hatte das Gefühl, mitten im Wald zu sitzen. Das vermisst er. „Dabei ist es hier doch viel schöner!“, redet Volker auf den 68-Jährigen ein, „viel heller.“ Die alten Bäume vor dem Fenster im alten Haus schluckten alles Licht. Der alte Mann sagt nichts, lächelt nur etwas ratlos auf seinem Bett in dem hellen großen Zimmer.

Marc-André Rüssau