„Nichts wird mehr so sein wie es war”

Liegt in Trümmern: Die japanische Stadt Sendai. Foto: Reuters
Liegt in Trümmern: Die japanische Stadt Sendai. Foto: Reuters

Nach dem Erdbeben der Stärke 9 in Japan und den massiven Zerstörungen sind die Armen und Obdachlosen seit Mitte März zurück auf Tokios Straßen und verkaufen „The Big Issue Japan”.

Gleichzeitig kämpfen im Norden des Landes Tausende ums Überleben. „Big Issue“-Geschäftsführerin  Miku Sano berichtet über die Situation in Sendai, Vertriebschef Aoki San gibt Einblick in sein „Tagebuch der Zerstörung“.

In Sendai, der Hauptstadt von Miyagi, und der vom Erdbeben am schlimmsten betroffenen Region, sind alle Verkäufer am Leben. Die Zerstörung der Infrastruktur bedeutet allerdings, dass in den ganzen Norden keine Magazine geliefert werden konnten.

Miku Sano, Geschäftsführerin des Big Issue-Büros Tokio, sagt: „In Sendai haben zwar alle Verkäufer überlebt, aber sie wissen nicht, wann sie wieder etwas verdienen können. Alle Menschen im Norden des Landes kämpfen ums Überleben und darum, jene zu finden, die sie lieben. Wir versuchen alles, um ihnen zu helfen. Nichts wird mehr so sein wie es war, aber wir sind nicht besiegt.“

Auch das Fußballtraining und damit ein Stück Normalität soll rasch wieder beginnen. „Alle Spiele wurden abgesagt, aber unsere Verkäufer möchten wieder spielen, um sich besser zu fühlen.“

Big Issue Japan arbeitet mit der „Sendai Nachtpatrouille“ zusammen, um den Obdachlosen zu helfen. Unsere Mitarbeiter haben seit dem 11. März unermüdlich kostenloses Essen an jeden gegeben, der im Freien übernachten muss.

Auszüge aus dem „Tagebuch der Zerstörung“ von Aoki San, Chef der Patrouille und des Big Issue-Vertriebs in Sendai:

14. März

Wasser und Elektrizität sind in einigen Gegenden wieder vorhanden. Aber es wird noch mindestens einen Monat dauern, bis die Gasleitungen wieder funktionieren. In Wakabayashi, dem am schlimmsten zerstörten Viertel Sendais, sah ich viele Menschen die anstanden, um ein paar halb verfaulte Orangen und eine Banane zu bekommen. An die Tausend Leichen liegen unbeaufsichtigt in einer Schule, und es gibt keine Informationen über die vielen ungezählten Toten. Wir werden ab 11 Uhr allen Menschen ohne Obdach Curryreis anbieten. Die Zahl der Todesopfer ist zu groß, um sie sich vorstellen zu können, viele Leute scheinen gar nicht zu wissen, was sie überhaupt tun sollten.

15. März

Straßen, Flugzeuge und Züge dürfen nur von Rettungsdiensten benutzt werden, uns bleibt nur der düstere Ausblick auf wenig Essen. Mehr als 1000 Leute sind an einem Bus Schlange gestanden. Ich habe mich in eine Schlange vor dem Daiei Supermarkt gestellt, aber eine halbe Stunde nach der Öffnung sind die Grundnahrungsmittel alle ausverkauft. Gasflaschen, Nudeln, Dosen, Batterien, Reis – alles ist knapp.

Die öffentliche Verwaltung ist komplett gelähmt. Das Rathaus hat heute einen Informationsschalter eröffnet. Vier Tage nach dem Erdbeben. Die Krankenhäuser können immer nur abhängig von der Stromversorgung Hilfe leisten. Ohne batteriebetriebenes Radio hat man keinerlei Informationen. Viele Bewohner wissen nichts über den Unfall im Atomkraftwerk Fukushima. Die Menschen sind „Informations-Flüchtlinge“. Lokale Radiosender helfen, vermisste Angehörige zu finden. Starke Nachbeben um 3 Uhr und 4 Uhr morgens.

16. März

Der Tag hat mit Regen begonnen. Das Lokalradio hat über unser Essensangebot im Rathaus von Wakabayashi informiert, also haben wir an die 1000 Portionen vorbereitet. Mittags haben wir Curry, Misosuppe und Reis für über 800 Menschen ausgegeben, nach kürzester Zeit war alles weg. Einige Menschen hatten seit drei Tagen nichts gegessen und warteten im Regen auf eine Mahlzeit.

Ich mache mir Sorgen, weil wir nichts darüber erfahren, was im Atomkraftwerk geschieht. Wir haben Nordwind, ich befürchte, die Kanto-Region könnte radioaktiv verseucht werden. Tausende Menschen schlafen in Grundschulen, Rathäusern und öffentlichen Einrichtungen. Ich werde mein Bestes geben, um auch morgen wieder Essen anbieten zu können. Obwohl ich fürchte, dass wir dann nichts mehr haben werden.

Nachtrag von Miku Sano am 21. März
Wir haben dieses Wochenende ein Fußballtraining mit Verkäufern organisiert. Auch viele Freiwillige haben mitgemacht.  Den meisten unserer Straßenverkäufer geht es ganz okay, aber diejenigen in den am meisten zerstörten Gebieten sehen sich gewaltigen Herausforderungen gegenüber.

Zuerst waren viele von uns überrascht, wie stark und unberührt die meisten Verkäufer wirken. Aber wenn man bedenkt, dass viele unserer Verkäufer immer draußen schlafen, dann bedeutet das, dass diese Situation, die wir als Notstand und Katastrophe empfinden, für sie das tägliche Leben ist.

Ich hoffe, dass uns diese Krise zusammenbringt und uns die Chance gibt, mehr an die Menschen zu denken, die unter solch harten Bedingungen leben müssen. Nicht nur nach einem Erdbeben, sondern jeden Tag.

In der Zwischenzeit ist die letzte Ausgabe des Big Issue in Sapporo angekommen. Hokkaido hinkt fünf Tage hinter dem Plan her. Wir erleben weiterhin jeden Tag Erdbeben der Stärke 5 bis 6 in den Küstenregionen um Tokio und im Norden.

Strom und Gas sind in Tokio und im Norden knapp. Die Menschen in Tokio haben Panikkäufe getätigt, aber das lässt so langsam nach. Die Dinge sind weiterhin sehr ungewiss, aber jeder versucht den anderen zu helfen.

Ursprünglich veröffentlicht von The Big Issue in Scotland

Zusätzliche Berichterstattung von The Big Issue Japan

Zusätzliche Übersetzung von Ilse Weiß

www.streetnewsservice.org

Lesen Sie dazu auch: Hinz&Künztler erzählen, wie sie die Nachrichten aus Japan verfolgen – und warum sie das Leid der Menschen dort gut nachempfinden können.