Dokumentarfilmwoche : Altenwerder: Kirche ohne Dorf

Durch Zufall entdeckte der Filmemacher Henning Röhrborn die Kirche von Altenwerder. Und war bald vor Ort mit der Kamera unterwegs. Aus 60 Stunden Material wurde ein einstündiger Film – am Donnerstag, 12.4. zu sehen in der Dokumentarfilmwoche.

Eigentlich war Henning Röhrborn auf der Suche nach einem spannenden und ungewöhnlichen Ort für einen Spielfilm. Und so schlenderte er unter der fast vier Kilometer langen Autobahnbrücke entlang, auf der es ab der Autobahnauffahrt Waltershof stadteinwärts in Richtung des Elbtunnels geht. Links und rechts des Weges stapeln sich die Container, reihen sich Lagerhallen aneinander, drehen sich Windräder.

Eine unwirtliche Industriegegend. Und plötzlich sah er eine Kirche! Direkt neben dem Containerterminal Altenwerder, einer der modernsten Hafenanlagen Europas. Röhrborn, der in Göttingen aufgewachsen ist und der heute in Berlin lebt, hatte zwar schon mal für fünf Jahre in Hamburg gewohnt – aber die Geschichte des verschwundenen Elbdorfes Altenwerder kannte er nicht: „Ich bin gleich zu der Kirche rübergelaufen und fand ein Schild, dass hier Gottesdienste stattfinden. Hier – wo es keinen Ort gab, keine Häuser, keine Läden, keine Menschen. Das fand ich so bizarr, das ich einen Gottesdienst besucht habe. Dort habe ich einige der alten Altenwerderer kennengelernt, die mir sofort ihre Geschichten erzählt haben.“ Die Spielfilmidee lässt er fallen; dreht stattdessen einen Dokumentarfilm, mit dem er sein Filmstudium an der Kunsthochschule für Medien in Köln abschließt: „Erinnern heißt vergessen“. Denn: „Manchmal ist die Wirklichkeit spannender als das, was man sich ausdenkt.“

„Die Leute waren sehr offen – ich wurde von einem zum anderen geschickt, jeder wollte erzählen“, berichtet er. Und so lernt er auch Elisabeth Schwartau kennen, die mit ihm durch die heute verwilderten Gärten streift: „Tante Wendt ihre Tanne steht da auch noch!“ Und sie berichtet, wie das war, als sie und ihre Familie gehen mussten: „Wir haben morgens um acht den Haustürschlüssel abgegeben und als ich so gegen elf Uhr noch mal vorbeikam, um Blumen aus dem Garten auszugraben, war unser Haus schon nicht mehr da, so eilig hatten die das.“ Sie war so geschockt, dass sie wochenlang Altenwerder nicht besuchen konnte. Und sie erzählt, dass sich damals fünf Menschen das Leben genommen hätten; die einfach nicht woanders hin wollten.

Röhrborn ergreift nicht vorschnell Partei. Immer wieder lässt er den damaligen Wirtschaftssenator Helmut Kern zu Wort kommen, der für das Ende von Altenwerder politisch mitverantwortlich war und der heute Aufsichtsratsvorsitzender der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) ist: Ja, es sei ein bitterer Weg für die Altenwerderer gewesen. Anderseits sei der Hafen eben das Herz Hamburgs und es müsse alles getan werden, dass es weiterschlage. Einer der letzten beiden Elbfischer wird befragt, wie auch der Leiter des Altonaer Museums: In seinem Haus steht ein kompletter Kaufmannsladen aus Altenwerder; mit dem Sortiment aus dem Jahre 1978: in Altenwerder eingepackt, im Museum wieder ausgepackt.

Einer der Alten erzählt: „Als Kinder hatten wir hier unheimliche Freiheiten – wir haben Cowboy und Indianer gespielt, wir haben Kartoffeln gebraten und Nackttänze gemacht.“ Und drüben auf der anderen Seite sahen sie die Hamburger Innenstadt mit den Landungsbrücken und dem Michel – ganz nah: „Es war ein Dorf mitten in der Stadt.“ Und dann ist da noch der Pressesprecher der HHLA, der immer wieder genüsslich das Wort „Flächenproduktivität“ ausspricht. So ist es ein sehr nachdenklicher Film geworden; einer, der uns fragt, ob das Recht des einzelnen Bürgers zählt oder das der Stadt. 2500 Menschen wurden damals umgesiedelt; 500 Häuser abgerissen. „Ein Schicksal, das ja auch Moorburg droht, wenn der Hafen mehr Platz braucht“, sagt Röhrborn: „Dort stehen schon Häuser leer, die Dächer fallen ein – und irgendwann sind sie nicht mehr zu retten.“

Wie Menschen sich an ihre Lebensgeschichte erinnern, hat Henning Röhrborn nicht losgelassen. Gerade ist er nach Südamerika gereist. Um ein wenig Urlaub zu machen, aber mehr noch, weil ihn ein neues Thema gepackt hat, wozu es diesmal recht weit zurück in die Geschichte geht: ins Jahr 1939, in die Anfangsmonate des Zweiten Weltkrieges. Damals versenkte sich das deutsche Schlachtschiff „Admiral Graf Spee“, das nach einem Kampf mit englischen Kriegsschiffen schwer angeschlagen war, vor dem Hafen von Montevideo selbst, statt sich den Engländern zu ergeben. 2000 Menschen gingen seinerzeit an Land und gründeten eine Art deutsche Kolonie: „Ich weiß nicht, was das für Menschen sind, die dort heute leben; ich weiß nur, dass dort noch deutsch gesprochen wird. Und ich hoffe sehr, dass noch jemand von denen lebt, die damals von Bord gegangen sind, auch wenn die sicherlich weit mehr als 90 Jahre alt sein müssten.“ In wenigen Tagen wird er mehr wissen.

Text: Frank Keil
Foto: Henning Röhrborn

Dokumentarfilmwoche: 11.4. – 15.4. „Erinnern heißt vergessen“ läuft am 12.4., 20 Uhr im B-Movie, Brigittenstraße 5, Eintritt: 6,50 / 5, 50 Euro
Das ganze Programm unter: www.dokfilmwoche.com