„Seien Sie ehrlich!“

Bei der Förderung von Langzeitarbeitslosen droht der Kahlschlag. Eine Kritikerin fordert klare Worte.

In einem offenen Brief an Bundesarbeitsministerin von der Leyen (CDU), Bürgermeister Scholz und Sozialsenator Scheele (beide SPD) beschreibt Caris Landgraeber, Mitarbeiterin eines Beschäftigungsträgers, die Notwendigkeit von geförderten Arbeitsplätzen für Menschen ohne Chance auf dem Ersten Arbeitsmarkt.

Fordert BESSERE ANGEBOTE für Menschen, die keine Chance mehr auf dem Ersten Arbeitsmarkt haben: Caris Landgraeber; Foto: Kathrin Brunnhofer
Fordert bessere Angebote für Menschen, die keine Chance mehr auf dem Ersten Arbeitsmarkt haben: Caris Landgraeber; Foto: Kathrin Brunnhofer

„Gern würde ich Sie einladen in unsere soziale Mikro-Arbeitsgesellschaft, damit  Sie die Welt kennenlernen können, von der Sie oft sprechen: die der arbeitenden Langzeitarbeitslosen.

Seit acht Jahren arbeite ich als Arbeitsvermittlerin bei der Passage gGmbH, im Betriebsteil Samt+Seife, Stadtteil Hamburg Steilshoop. Ich habe Frauen in den Ersten Arbeitsmarkt vermittelt, oft arbeiten sie Jahre später dort immer noch.  Dies jedoch gelingt nur einem Bruchteil der Langzeitarbeitslosen.

Ob Sie es zur Kenntnis nehmen wollen oder nicht: Wir haben schon lange einen Dritten Arbeitsmarkt! Bei Samt+Seife arbeiten Frauen, die der Erste Arbeitsmarkt nicht (mehr) will, weil sie aus unterschiedlichen Gründen den Anforderungen dort nicht entsprechen.

Nehmen wir Frau B., mittleren Alters, Berufserfahrungen überwiegend Hilfstätigkeiten. Sie kann aus gesundheitlichen Gründen zum Beispiel im Reinigungs- und Lebensmittelbereich nicht arbeiten. Sehr zuverlässig, immer da, scheut keine Arbeit, arbeitet langsam, bedarf der genauen, konkreten Anleitung und einfacher übersichtlicher Arbeitsabläufe.

Oder Frau C., um die 30 Jahre, Migrantin, Kinder, ausgezeichnete Deutschkenntnisse, sehr offen und lernwillig, hatte eine mündliche Zusage für einen Teilzeitjob in einer Näherei, von der die Arbeitgeberin nun nichts mehr wissen will.

Oder Frau D., mittleren Alters, gelernte Näherin, Kinder, sehr zuverlässig, stets da, benötigt ein genaues, abgegrenztes Arbeitsfeld und einfache übersichtliche Arbeitsabläufe. Sehr misstrauisch gegenüber den Mitmenschen und Neuerungen insgesamt …

Das sind drei Beispiele von Tausenden. Diese Menschen leisten entsprechend ihren Fähigkeiten ihren Beitrag in der Arbeitswelt. In der überwiegenden Anzahl haben wir es mit Menschen zu tun, denen wir eben nicht Arbeitstugenden etc. beibringen müssen, sondern die ihren Platz in der Arbeitswelt suchen. Die in bestimmter Weise mehrere Einschränkungen haben, die sie daran hindern, sich trotz aller Bemühungen in der modernen Arbeitsgesellschaft zu behaupten. Die Beschäftigungsträger übernehmen dabei die Funktion der
Stabilisierung, der Qualifizierung, der Integration und im besten Fall der Vermittlung in den Ersten Arbeitsmarkt.

Wenn Sie als Politiker die freie Wirtschaft nicht davon überzeugen oder zwingen können und/oder wollen, diesen Menschen einen Job zu geben, dann seien Sie doch so ehrlich, öffentlich einzugestehen, dass es tatsächlich einen Dritten Arbeitsmarkt gibt. Diesen abzuschaffen, denn darum geht es in Wahrheit bei der Absenkung aller arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen wie Ein-Euro-Jobs, bedeutet, viele Menschen auszugrenzen. Über die mangelhafteste aller Maßnahmen, den Ein-Euro-Job, brauchen wir nicht zu streiten. Es werden aber auch andere, aus meiner Sicht sinnvollere Maßnahmen wie Paragraf 16 e (auf zwei Jahre begrenzt, Tariflohn mit Arbeitsvertrag) und die Langläufervariante der Arbeitsgelegenheiten für Menschen über 55 abgeschafft bzw. sie laufen aus.

Haben Sie den Mut, den Älteren zu sagen, dass Sie sie dann in Zwangsrente schicken und alle anderen bis auf wenige Ausnahmen in die Grundsicherung drängen werden – ohne Aussicht auf Teilhabe am Arbeitsleben und den damit verbundenen sozialen Effekten.

Wir brauchen kein Feigenblatt für Langzeitarbeitslose, sondern eine echte Perspektive für Menschen, die schon seit Jahren keine mehr haben!

Hamburg, im Mai 2011

Caris Landgraeber

Perspektiven gesucht: Angebote für Langzeitarbeitslose sind vor allem Sache des Bundes. Weil die schwarz-gelbe Koalition in diesem Bereich massiv sparen will, stehen dem Hamburger Jobcenter dieses Jahr nur noch rund 150 Millionen Euro zur Verfügung. 134,3 Millionen Euro, rund 50 Millionen Euro weniger als 2010, kommen vom Bund, 17,45 Millionen Euro steuert Hamburg bei. Dass das Land die Berliner Kürzungen nicht auffangen kann, ist offenkundig. Doch stellt sich der SPD die Frage, wie Langzeitarbeitslose künftig gefördert werden sollen. Ein-Euro-Jobs, eine Zeit lang der Renner, werden in jedem Fall abgebaut. Offen ist noch, ob es künftig 6150 oder 4500 in Hamburg sein werden. Länger laufende Arbeitsgelegenheiten für Menschen über 55 Jahre fördert das Jobcenter seit Ende 2010 nicht mehr, um Kosten zu sparen. Geförderte sozialversicherungspflichtige Jobs für Menschen ohne Chancen auf dem Ersten Arbeitsmarkt sind weiterhin die große Ausnahme: 674 gibt es in Hamburg. Sozial- und Arbeitssenator Detlef Scheele (SPD) hat angekündigt, nach der Sommerpause sein Arbeitsmarktprogramm vorzustellen. UJO •