60 Jahre Gruss an Bord : See, Sehnsucht und Kartoffelsalat

Viele Seeleute verbringen Weihnachten fernab der Heimat und sind trotzdem nicht allein. Dafür sorgt seit 60 Jahren die Radiosendung „Gruß an Bord“.

(aus Hinz&Kunzt 250/Dezember 2013)

 Seit mehr als 30 Jahren moderiert  Herbert Fricke „Gruß an Bord“. Er fuhr selbst vier Jahre zur See, hat ­unzählige Geschichten ­erlebt und gehört.  „Eine Frau, die vor dem Mikrofon zittert, nehme ich auch in den Arm“, sagt er.  In diesem Jahr moderiert Fricke die Sendung zum letzten Mal.
Seit mehr als 30 Jahren moderiert Herbert Fricke „Gruß an Bord“. Er fuhr selbst vier Jahre zur See, hat ­unzählige Geschichten ­erlebt und gehört. „Eine Frau, die vor dem Mikrofon zittert, nehme ich auch in den Arm“, sagt er. In diesem Jahr moderiert Fricke die Sendung zum letzten Mal.

„Ich habe tatsächlich noch nie mit meinem Mann zusammen Weihnachten gefeiert“, sagt Nancy Krahlisch. Und das nicht etwa, weil ihr Mann Heribert ein Weih­nachtsmuffel wäre. Heribert fährt zur See. Auch an Weihnachten. Vor zwölf Jahren lernte sich das Paar an der Uni kennen. Sie studierte Journalistik, er Nautik. „Damals habe ich nicht da­ran gedacht, dass ich irgendwann mal als Seemannsbraut enden könnte“, erinnert sich Nancy Krahlisch. Die 33-Jährige sagt es mit einem Augenzwinkern.

Für Menschen wie Nancy Krahlisch gibt es seit 60 Jahren einen Rettungsanker: „Gruß an Bord“, ausgestrahlt vom NDR, ist für Seeleute das, was „Dinner for One“ für Landratten ist: eine Institution, nicht wegzudenken. Seit 1953 sendet der NDR an Heiligabend die zweistündige Grußsendung von Angehörigen für ihre Lieben auf See. Und umgekehrt.

Alles begann zu einer Zeit, in der noch niemand skypen, chatten oder simsen konnte. Doch selbst diese modernen Kommunikationstechnologien nützen auf See oft wenig. Häufig gibt es keinerlei Verbindung. Das schmerzt, besonders über die Feiertage: Denn an Weihnachten ist die Sehnsucht besonders groß, die Stimme des Mannes, der Tochter oder des guten Freundes zu hören.

„Wir wünschen dir ganz, ganz tolle, fetzige Weihnachten unter karibischer Sonne!“

Steffi Karsten (Mitte) ist Seemannsbraut und Angestellte der Reederei ­Ahrenkiel. Ihr Mann arbeitet auf einem Vermessungsschiff. ­Weihnachten 2012 lag es vor Mosambik. Ihre Patenkinder Jessica und Gideon sendeten ihre Grüße dorthin. In diesem Jahr feiert sie Weihnachten mit ihrem Mann. „Ein Glück“, sagt sie.
Steffi Karsten (Mitte) ist Seemannsbraut und Angestellte der Reederei ­Ahrenkiel. Ihr Mann arbeitet auf einem Vermessungsschiff. ­Weihnachten 2012 lag es vor Mosambik. Ihre Patenkinder Jessica und Gideon sendeten ihre Grüße dorthin. In diesem Jahr feiert sie Weihnachten mit ihrem Mann. „Ein Glück“, sagt sie.

„Gruß an Bord“ ist eine der ältesten Hörfunksendungen – und mit einem Millionenpublikum auch eine der erfolgreichsten. Jedes Jahr zeichnet der NDR die Grüße vorab auf, in diesem Jahr an Bord des Hamburger Museumsschiffes Rickmer Rickmers. Live vor Publikum, untermalt von maritimer Musik. Nancy Krahlisch war im vergangenen Jahr dabei. „Ich grüße Heribert ganz herzlich auf seinem Schiff, das gerade Panama anläuft“, spricht sie ihren Gruß ins Mikrofon. „Ich grüße auch die ganze Besatzung und hoffe, dass sie einen wunderschönen Heiligabend haben: mit Kartoffelsalat und Würstchen, das weiß ich. Und es gibt einen neuen Fernseher, damit können alle schöne Weihnachtsfilme gucken.“ Auch Anne-Marleen Meseck ist dabei. Ihre 17-jährige Tochter Carlotta ist gemeinsam mit 33 anderen Jugendlichen auf dem Segelschoner Thor Heyerdal aus Kiel unterwegs, auf dem „Klassenzimmer unter Segeln“. Mit fester Stimme liest Meseck ihren Gruß vor: „Wir wünschen dir ganz, ganz tolle, fetzige Weihnachten unter karibischer Sonne!“ Erst Ende April kehrt das Mädchen nach Hause zurück.

In Hamburg arbeiten schätzungsweise rund 15.000 Menschen in der See­schifffahrt, weltweit sind es etwa 1,2 Millionen: Kapitäne, Animateure, Zimmermädchen, Seenotretter, Lotsen, Funker, Hochseefischer, Minentaucher und Lascher, um nur einige zu nennen. Hinzu kommen Weltumsegler, Hobbytaucher, Kreuzfahrttouristen und viele mehr, die die Sehnsucht immer wieder hinaustreibt.

„Liebe Seeleute in Nord und Süd, in Ost und West, wo immer Sie uns jetzt hören: Wir sind in Gedanken bei Ihnen draußen“

Diakon Jan Oltmanns richtet seinen Gruß an jene, die auf See in Gefangenschaft geraten sind: „Ich denke in diesen Stunden ganz besonders an die, die immer noch in Geiselhaft von Piraten sind.“ Im vergangenen Jahr wurden weltweit 297 Fälle von Piraterie gezählt. Und da ist jeder einer zu viel, findet der Chef der Christlichen Seemannsmission Duckdalben. Er berät im Jahr rund 35.000 Seeleute, die frisch in Hamburg gelandet sind. „Das Erste, was die von uns haben wollen, ist eine Telefonkarte“, sagt er. Eine vertraute Stimme hören. Erfahren, was zu Hause los ist. Dass es nicht immer nur gute Nachrichten sind, liegt in der Natur der Sache. Bei Oltmanns rufen auch die an, die schon länger nichts von ihren Angehörigen gehört haben.

„Liebe Seeleute in Nord und Süd, in Ost und West, wo immer Sie uns jetzt hören, auf Ihren Containerschiffen, Ihren Massengutfrachtern, den Tankern, auf den Passagierschiffen, auf den Einheiten der Marine und auch auf den Bohrinseln. Wir wünschen Ihnen allen einen schönen besinnlichen Heiligabend und ein gutes Weihnachtfest. Wir sind in Gedanken bei Ihnen draußen“, hatte Moderator Herbert Fricke zu Beginn der Sendung den Seeleuten zugerufen. Die ersten Damen im Publikum kramen da schon nach Taschentüchern. Fricke, 76 Jahre, ist der Fels in der Brandung bei „Gruß an Bord“. Seit mehr als 30 Jahren ist er dabei. Eigentlich längst im Ruhestand, ließ er sich von den vielen Fans der Sendung ein ums andere Mal überreden, weiterzumachen. Fricke hat eine dieser Stimmen, die einem durch Mark und Bein gehen. Tiefes Timbre, die Worte setzt er akzentuiert, das „R“ rollt er, jede Pause sitzt. Er kann unglaubliche Geschichten erzählen. Etwa die, als er einmal live aus dem Kreißsaal sendete und einem Seemann den ersten Schrei seines Neugeborenen übertrug. „Später schrieb er uns, es sei die teuerste Nacht seines Lebens gewesen, weil er allen einen ausgeben musste“, erinnert sich Fricke.

Die Amerikanerin ­Hilvie lernte den ­ deutschen ­Offizier ­Georg Fries beim Landgang  in New York kennen und lieben. Dann  hieß es für vier Jahre: Fernbeziehung.  Hilvie: „Georg hat mich oft aus zugigen Telefonzellen am Hafen angerufen.“
Die Amerikanerin ­Hilvie lernte den deutschen ­Offizier ­Georg Fries beim Landgang in New York kennen und lieben. Dann hieß es für vier Jahre: Fernbeziehung. Hilvie: „Georg hat mich oft aus zugigen Telefonzellen am Hafen angerufen.“

„Gruß an Bord“ geht zu Herzen. Das sei auch der Grund, warum die Sendung schon so lange so erfolgreich laufe, glaubt Fricke. „Das hören auch viele, die in der Familie gar keinen Seemann haben. Es ist einfach die Sympathie und das Mitgefühl mit diesen Familien und zu wissen: ‚Ach, da sind auch welche getrennt.‘“

Panama, Kobe, das Rote Meer, die Westküste der USA, das Horn von Afrika, Oman, Peru … Man bekommt selbst ordentlich Sehnsucht, wenn man die vielen fernen Orte hört, in denen die Gegrüßten sich gerade aufhalten. Weihnachten bei 35 Grad ist keine Seltenheit. Eine große Feier an Heiligabend schon. Viele Seeleute müssen arbeiten, Wache halten, Container laden, navigieren, Kajüten aufräumen. Immerhin: Auf vielen Schiffen steht ein Tannenbaum an Deck, wenn auch oft nur in der Plas­tikausführung.

Christmas-Kitsch, den kennt Hilvie Fries aus ihrer Heimat. Sie ist Amerikanerin, ihr Mann Georg Norddeutscher. 1968 hatte er unfreiwillig Landgang in New York. „Unser Schiff lag ziemlich lange im Hafen, weil gestreikt wurde“, erinnert sich Georg Fries, „ich mietete ein Auto und fuhr ein bisschen rum …“ Mit dabei: der als Schwerenöter bekannte Kollege. „Der hatte ein Mädchen in jedem Hafen“, sagt Hilvie Fries mit charmantem Akzent. Der Schwerenöter fungierte allerdings als Kontakter für Georg und Hilvie: Verlobung in Auckland, Neuseeland. Trauung in Vancouver, Kanada. Mittlerweile sind sie seit mehr als 40 Jahren verheiratet und wohnen in Brunsbüttel am Deich mit Blick auf die Elbe. Ohne Wasser – das geht irgendwie nicht. Auch nicht für Hilvie, die, wann immer sie kann, in der Seemannsmission Brunsbüttel aushilft: Ihre Englischkenntnisse als native speaker sind gefragt. Auch ihre Grüße spricht sie erst in Englisch, dann in Deutsch.

Vor allem die Seemannsmütter lassen ihre Lieben wissen, was an Heiligabend auf dem Tisch steht.

Würde man eine Liste führen, wie oft beim Grüßen das Essen erwähnt wird, man fände kein Ende beim Anstreichen. Vor allem die Seemannsmütter lassen ihre Lieben wissen, was an Heiligabend auf dem Tisch steht. Oft ganz klassisch: Würstchen mit Kartoffelsalat, manchmal auch speziell: Christkindelstunke. Manch einem wird die Mahlzeit sogar eingefroren – auf dass sie bei der Rückkehr schöne Erinnerungen hervorruft. Auch bei der Live-Schaltung zu Thomas Wunderlich, Kapitän des Forschungsschiffs Meteor, geht’s um Kulinarisches. Dort wird an Heiligabend Roastbeef mit Röstkartoffeln aufgetischt. „Schön mit Remouladensoße“, sagt der Kapitän, bevor er seine Mutter, Freunde und Nachbarn grüßt.

 Seemannsdiakon Jan  Oltmanns leitet den internationalen Seemannsclub Duckdalben in Waltershof. Der ist oft erste Anlaufstelle für Seefahrer aus rund 100 Nationen.  „Zu 95 Prozent sind es  Männer“, sagt er.
Seemannsdiakon Jan Oltmanns leitet den internationalen Seemannsclub Duckdalben in Waltershof. Der ist oft erste Anlaufstelle für Seefahrer aus rund 100 Nationen. „Zu 95 Prozent sind es
Männer“, sagt er.

8404 Kilometer von Hamburg entfernt, vor Mosambik, liegt das Schiff von Steffi Karstens Mann. Er arbeitet auf einem Vermessungsschiff. Zu „Gruß an Bord“ hat Steffi Karsten ihre Patenkinder Jessica (11) und Gideon (13) mitgebracht. Deren Blicke schweifen unruhig durchs Studio. Endlich werden sie von Herbert Fricke ans Mikrofon gerufen. „Lieber Lorenz, ich wünsche dir eine schöne und gute Weihnachtsfeier und einen guten Rutsch ins neue Jahr“, liest Gideon seinen Gruß vor und atmet tief durch. „Gott möge euch segnen!“, sagt Jessica, es klingt ein bisschen wie „sägen“. Steffi Karsten lächelt.

Noch heute glauben übrigens die Kinder in den Niederlanden, dass der Nikolaus mit dem Schiff kommt. Wa­rum? Weil St. Nikolaus der Schutzpatron der Seefahrer, Schiffer und Fischer ist. Der Sage nach rettete der heilige Nikolaus von Myra Seeleute aus einem heftigen Sturm, beruhigte mit seiner Kraft die tosenden Wellen und geleitete das Schiff sicher in den Hafen.
Zurück zum Anfang, zur Seemannsbraut Nancy Krahlisch. Das diesjährige Weihnachtsfest wird sie sicher nie vergessen: „Mein Mann wird tatsächlich zu Hause sein.“

Text: Simone Deckner
Foto: Mauricio Bustamante

Aufzeichnung zu „Gruß an Bord“ 2013: So, 15.12., 15 Uhr, Rickmer Rickmers, Ponton 1a, Anmeldung unter: gruss-an-bord@ndr.de
Sendung: Heiligabend, 20.05 bis 22 Uhr auf NDR Info und per Livestream im Internet unter www.ndr.de/info. NDR Info Spezial sendet von 23.15 Uhr bis Mitternacht.
NDR 90,3 von 21 bis 22 Uhr.
Lektüre: „Weihnachten auf See“ von Kurt Gerdau, Husum Verlag, 111 Seiten, 5,95 Euro. „Seemannsbraut“ von Nancy Krahlisch, Knaur Verlag, 304 Seiten, 16,99 Euro. ­„Gespräche an der Reling“ von Herbert ­Fricke, Delius Klasing Verlag, 158 Seiten, 12,90 Euro.
Herzlichen Dank an die Stiftung Rickmer Rickmers und Joachim ­Stratenschulte für die Fotoerlaubnis!