„Schreiben Sie, wenn Sie können!“

Seit mehr als 20 Jahren übernimmt unsere Autorin Misha Leuschen Patenschaften für Kinder in Brasilien. Ihre ersten Patenkinder waren niedlich und unkompliziert. Dann kam Felipe. 

(aus Hinz&Kunzt 236/Oktober 2012)

Na toll! Misha Leuschen hatte ein Foto von einem nett ausschauenden Jungen erwartet – und war von dem ersten Bild von Felipe irritiert.

Als ich das erste Foto von Felipe bekam, dachte ich: Na toll. Da habe ich ja wohl den schlimmsten Schläger seines Viertels erwischt. Schmutzig, zerlumpt, ein Gesicht wie eine geballte Faust, voller Anspannung und Aggression. Damals war Felipe sechs Jahre alt und viel zu klein für sein Alter. Den behalte ich nicht, war mein erster Impuls.

Zehn Jahre lang hatte ich bereits Patenschaften für Kinder des Projektes Passo Fundo im Süden Brasiliens übernommen. 1980 entstand die Kinderhilfe aus einer Freundschaft zwischen einem deutschen Pastor und einem brasilianischen Bischof. Kinder aus armen Familien werden in den Zentren betreut, medizinisch versorgt und ausgebildet. Dafür geht jeden Monat beschämend wenig Geld von meinem Konto ab. Meine ersten Patenkinder waren trotz oft schlimmer Lebensverhältnisse unkompliziert und süß. Sie malten bunte Bilder, schrieben niedliche Briefe, machten sich prima im Jugendzentrum, und irgendwann zogen ihre Familien weg, weil sie anderswo eine Arbeit fanden. Dann besuchten die Kinder das Jugendzentrum nicht mehr, ich bekam ein neues Patenkind, und alles begann von vorn. Vor elf Jahren kam Felipe.

Schüchtern und verschlossen sei er, schrieb die Betreuerin im ersten Brief. Das konnte ich mir nicht so recht vorstellen, aber na ja. Spielen hatte er nicht gelernt, schon gar nicht mit anderen Kindern. Also blieb er im Jugendzentrum erst mal allein. „Er freut sich sehr, dass er eine Patin hat und daher malte er Ihnen ein Bild mit dem Haus seiner Träume, bunt, fröhlich, groß und glücklich. Das Haus, in dem Felipe mit seiner Mutter und drei Geschwistern wohnt, ist klein, es hat nur zwei Räume und ist nicht gestrichen“, setzte sie mich ins Bild. Plötzlich sah ich den kleinen Rabauken mit anderen Augen. „Schreiben Sie, wenn Sie können“, endete dieser erste Brief.

Was antwortet man da? Ich suchte nach einem Foto, damit Felipe sich ein Bild von mir machen konnte, kaufte bunte Aufkleber und erzählte ein wenig von mir. Vor allem fragte ich nach ihm. Dass ich eine Antwort bekommen würde, dachte ich nicht. Kriegte ich auch nicht, jedenfalls nicht von ihm. Aber die Schwestern schrieben ausführlich und liebevoll; offenbar mochten sie ihn, und es klang durch, dass sie froh waren, ihn in eine Patenschaft vermittelt zu haben.

Nach und nach erfuhr ich mehr über Felipe und seine Familie. Er war der zweitjüngste von fünf Geschwistern, seine Mutter alleinerziehend und arbeitslos, der Vater blieb verschwunden. Der älteste Bruder unterstützte die Familie, hatte aber selbst kaum was. Langsam gewöhnte der Junge sich ein, auch wenn er beim Fußballspielen ziemlich ruppig war.

Das zweite Foto, ein Jahr später, war ein Quantensprung. Zuerst erkannte ich ihn gar nicht wieder: Der Schulhofschläger war verschwunden, ein kindlicher, hübscher Junge blickte schüchtern in die Kamera. Wie haben die das hingekriegt, fragte ich mich. Leicht hat er es ihnen wohl nicht gemacht. Die ersten zwei Jahre schrieb Felipe nicht, aber er malte, wovon er träumte. Immer waren es Bilder von Häusern, oft mit schräg dekorierten, wilden Weihnachtsbäumen, Bilder mit bunten Blumen, Wolken und einer strahlenden Sonne. Aber kein Wort, nur manchmal stand sein Name darunter. „Er hat große Schwierigkeiten beim Lernen und versucht, mit meiner Hilfe einige Wörter zu schreiben“, berichtete die Leiterin des Zentrums.

Sein erster Brief kam 2003, in einer vorsichtigen, runden Kinderschrift, mit Bleistift auf dünnem Papier. Ein Brief, bei dem ich die Anstrengung spüren konnte, mit der er die Buchstaben gebändigt hatte. „Gesundheitlich geht’s mir gut“, schrieb er, und dass er gern mit Autos spiele. Da war die Familie gerade in die Nähe des Jugendzentrums umgezogen. Die neue Hütte wurde aus den Brettern der alten zusammengezimmert; „aber alle sind sehr glücklich“, schrieb die Schwester.

Von den früheren Lernschwierigkeiten war ab da nichts mehr zu spüren. Felipe schrieb, als ob es um sein Leben ginge, persönlich und anschaulich, in langen Briefen und mit so viel Charme, dass ich manchmal meinen Augen nicht traute. Er erzählte von Weihnachten ohne Schnee, „so wie man es aus dem Fernsehen kennt“. Davon, dass er jetzt allein zum Jugendzentrum gehen durfte, weil seine Schwestern einen neuen Stundenplan in der Schule bekommen hatten; dass Fußball sein Lieblingssport sei und er mal Profi werden wolle; von seinen Lehrern in der Schule, dass er froh war, versetzt zu werden und dass es seiner Familie gut gehe. Akribisch beschrieb er, was von dem Geld, dass ich ihm zusätzlich zu Weihnachten und zum Geburtstag schickte, für ihn angeschafft wurde – meist neue Schuhe, weil er so schnell wuchs und die Tennisschuhe beim Fußball litten. Mit „Küsschen und Umarmungen“ endeten diese Kinderbriefe, und so enden sie heute noch.

Anders als seine Vorgänger-Patenkinder ist er neugierig auf die Welt, auf meine Welt insbesondere. Weil ich jedes Jahr ein Foto von ihm bekomme, schicke ich auch jedes Jahr eins von mir, die er zu Hause rahmt, wie er mir schrieb. „Schicken Sie doch bitte ein neues Foto, dann sieht der Rahmen noch viel besser aus.“ An die Bilder knüpfen sich viele Fragen seinerseits. Über Hamburg und den Hafen wollte er viel wissen, ob ich Fußball mag und Sport treibe, was für ein Auto ich fahre – und ob ich ihn wohl mal besuchen komme. Da musste ich ihn enttäuschen. Das war das einzige Mal, dass er sich beklagte.

Die Veränderungen, sein Heranwachsen habe ich besonders in den Fotos wahrgenommen. Jedes Jahr war mein Staunen größer über seine Fortschritte. Das schüchterne Kind verschwand, ein sportlicher, cooler Junge kam zum Vorschein, der noch immer nicht gern lächelt – aber immerhin zeigt er nicht mehr grimmig die Zähne, wie bei seinen ersten Lächelversuchen. Eine Freundin habe er noch nicht, schrieb er mir vor zwei Jahren, dafür sei er noch zu jung, „ich flirte nur“.

Mittlerweile ist Felipe ein junger Erwachsener, mit erwachsener Handschrift und erwachsenen Vorstellungen. Fußballprofi möchte er nicht mehr werden, er macht Lehrgänge in Informatik und Grafikdesign und kann sich vorstellen, Sport zu studieren, um Lehrer zu werden. Oder vielleicht Informatiker? Heiraten, Kinder haben und für seine Familie gut sorgen, das steht ganz obenan auf seinem Plan. Die Schritte auf dem Weg sind gemacht. Ich hoffe, ich kriege noch lange Küsschen und Umarmungen aus Passo Fundo. •

Text: Misha Leuschen
Foto: privat