Hinz&Künztler Reiner : Reiners erster Schritt

Vor 20 Jahren hat unser Verkäufer Reiner alle Brücken zu seiner Familie abgebrochen. Hat seine Frau, seinen Sohn, seine Geschwister nie wieder gesehen. Bis er 2015 seine Schwester in Berlin traf. Reiner sagt: „Es war der Hammer.“

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Reiner verkauft in Hammerbrook.

Manchmal, wenn Reiner abends im Bett liegt, überkommt ihn die Sehnsucht nach seinem Sohn. 20 Jahre ist es her, dass er ihn zuletzt sah. Dass er die Flucht ergriff, weil seine Frau ihn betrog und er Trost im Alkohol suchte. Dass er keinen anderen Ausweg wusste, als zwei Taschen zu packen und sich in einen Zug nach Hamburg zu setzen.

Was wird der heute 25-Jährige sagen, wenn der Vater sich nach so langer Zeit meldet? Wo lebt er überhaupt? „Ich würde ihn zu gerne wiedersehen“, sagt Reiner. „Fünf Jahre lang war er mein Ein und Alles.“ Warum ist er nicht längst auf die Suche nach ihm gegangen? „Am nächsten Tag verdrängst du das wieder …“

Seine Kindheit sei „ganz normal“ gewesen, sagt Reiner. Der 57-Jährige ist im Berliner Osten aufgewachsen, als eines von zehn Kindern. Der Vater betreibt eine Gaststätte, die Mutter hilft in der Küche. Reiner macht die Hauptschule und lernt Facharbeiter für Elektrotechnik. Ein Jahr hält er nach der Lehre durch, „die Arbeit hat mir nicht gefallen“. Er wechselt in ein Furnierwerk, „drei Schichten, gutes Geld“. Nach drei Jahren ist auch hier für ihn Schluss. „Ich hatte keine Lust mehr“, sagt Reiner lapidar.

Ein folgenschwerer Entschluss: Sein neuer Job wird das Glücksspiel. Reiner macht für andere die „Bank“, bekommt dafür 20 Prozent vom Gewinn. „Das war schnelles Geld.“ Worüber Reiner nicht nachdenkt: Glücksspiel ist in der DDR verboten. Als er das erste Mal erwischt wird, muss er für ein halbes Jahr ins Gefängnis, nach Bautzen. „24 Mann auf einer Zelle, das war hart.“

Nach der Entlassung fällt Reiner „zurück in den alten Trott“. Er wird erneut erwischt und noch härter bestraft: mit 18 Monaten Knast und drei Jahren Verbot, die Stadt Berlin zu betreten. Reiner wird nach der Haft gezwungen, in ein Dorf in der Nähe von Leipzig zu ziehen. „Und das ausgerechnet mir, einem Stadtmenschen!“

Reiner bekommt eine zweite Chance mit Arbeit in einer Milchviehanlage. Mit 29 lernt er seine spätere Frau kennen, auf einem Faschingsfest. Die beiden bekommen einen Sohn und ziehen nach Berlin. Ein gutes Jobangebot und eine frisch renovierte Wohnung locken.

1995 dann der große Bruch: Reiners Frau geht mit ihrem Chef fremd. Eine Zeitlang leben sie noch in der gemeinsamen Wohnung. Manchmal hört Reiner die beiden im Zimmer nebenan. Seine Wut wächst. Eines Tages dann die Flucht. „Ich hatte Angst, dass ich ihr etwas antue.“ Auch seine Geschwister lässt er zurück.

Reiner schlägt sich in Hamburg mit Hilfsarbeiterjobs durch. Als die immer rarer werden, landet er bei Hinz&Kunzt. Hier und in seiner Wohnunterkunft findet er eine neue Heimat. Seine Leidenschaft gilt dem FC St. Pauli, „bei den Spielen kann ich abschalten von allem“. Wenn da nicht die Sehnsucht wäre nach dem Sohn, der Familie …

Vor Kurzem hat Reiner seine Lieblingsschwester getroffen. Am Rande des St.-Pauli-Gastspiels bei Union Berlin. „Es war der Hammer.“ Aber: „In zwei Stunden kann man ja nicht alles erzählen.“ Deswegen wollen sie jetzt in Kontakt bleiben. Einmal hat er sie seitdem wieder besucht. Jetzt wollen sie sich regelmäßig treffen. Es ist der erste Schritt.

Text: Ulrich Jonas
Foto: Mauricio Bustamante