Polnischer Straßensozialarbeiter

Erste Hilfe auf Polnisch: Seit vier Monaten betreut der Sozialarbeiter Stanislaw Szczerba polnische Obdachlose auf Hamburgs Straßen. Weil er ihre Sprache spricht, vertrauen sie ihm.  Einige wagen mit seiner Hilfe sogar einen Neustart in ihrer Heimat.

(aus Hinz&Kunzt 217/März 2011)

Zuhören: Stanislaw Szczerba (rechts) ist für viele obdachlose Polen der erste Helfer, der ihre Muttersprache versteht.
Zuhören: Stanislaw Szczerba (rechts) ist für viele obdachlose Polen der erste Helfer, der ihre Muttersprache versteht.

Stanislaw Szczerba ist auf der Straße bekannt wie ein bunter Hund. Obwohl er erst seit November in Hamburg lebt, wird der groß gewachsene Sozialarbeiter in der Innenstadt oder auf St. Pauli schon überall begrüßt – mal mit einem Lächeln, mal mit einem Handschlag und einer Unterhaltung. Man muss allerdings Polnisch oder Russisch können, wenn man diese Gespräche verstehen will: Fast alle Menschen, die der 52-Jährige anspricht, sind osteuropäische Obdachlose.
Menschen wie Miroslav. Der 50-jährige Pole mit dem
dicken Pelzkragen an der Jacke wartet in der Tagesaufenthaltsstätte Alimaus auf eine Suppe. Er freut sich, Szczerba zu
sehen. Seit sechs Monaten lebt er auf der Straße. Ursprünglich kam er nach Hamburg, um Arbeit suchen, jetzt sieht er hier keine Zukunft mehr für sich. Als er Szczerba kennenlernte, fasste er den Entschluss, in seiner Heimat ein neues Leben zu beginnen. In wenigen Tagen wird er mit dem Bus nach
Polen fahren, Szczerba hat ihm eine Unterkunft und einen Platz in der Alkoholtherapie organisiert. „Gut, gut“, sagt
Miroslav, lächelt und klopft Szczerba auf die Schulter.
Niemand weiß genau, wie viele Menschen wie Miroslav es in Hamburg gibt. In der letzten offiziellen Statistik vom März 2009 wird die Zahl ausländischer Obdachloser auf 250 geschätzt. Die Studie bestätigt auch, was viele Hilfseinrichtungen schon längst wissen: Ihre Lage ist noch dramatischer als die der deutschen Obdachlosen. Viele sind nicht krankenversichert und bekommen keine Sozialleistungen. Sie finden in Hamburg nur kurzfristige Hilfe, die sehr einfach anzunehmen ist: eine warme Mahlzeit, neue Kleidung, vielleicht eine heiße Dusche. Was für einen deutschen Obdachlosen schon schwer ist – in ein normales Leben mit Arbeit und eigener Wohnung zurückzufinden –, ist für einen polnischen Obdachlosen so gut wie unmöglich.
Stanislaw Szczerba ist nach Hamburg gekommen, um das zu ändern. Seit 16 Jahren arbeitet er als Sozialarbeiter für die polnische Barka-Stiftung, die in Polen seit den 1990er-Jahren große Höfe auf dem Land betreibt, als Therapiezentrum und Wohnprojekt in einem. Menschen, deren Leben durch
Arbeitslosigkeit und Alkohol aus dem Ruder gelaufen ist, werden hier in eine feste Gemeinschaft integriert. Neben ihrer Suchttherapie arbeiten sie auf dem Hof, bis sie wieder auf
eigenen Füßen stehen können.
In Hamburg bietet Szczerba polnischen Obdachlosen einen Neustart bei Barka an. Vor allem aber kann er sie in polnischer Sprache beraten. Der Bedarf ist groß: Allein in den ersten Wochen hatte Szczerba Kontakt mit 305 Obdachlosen, 90 Prozent von ihnen aus Polen. „Dass er da ist, hat sich in der Szene blitzschnell herumgesprochen“, sagt Andreas
Stasiewicz von der Stadtmission. Der 51-Jährige ist Dolmetscher und arbeitet als Koordinator des Projekts eng mit
Szczerba zusammen. Täglich sind die beiden an den Orten unterwegs, an denen sich polnische Obdachlose aufhalten: Kleiderkammern, Suppenküchen, Tagestreffs.
Einer der Ersten, denen Szczerba helfen konnte, war
Richard, ein alkoholabhängiger und psychisch kranker Mann. „Er hatte in vielen Einrichtungen schon Hausverbot, weil er öfter aggressiv geworden war“, erzählt Szczerba. „Es war klar, dass er den Winter hier nicht überleben würde.“ Szczerba handelte sofort: Richard wurde neu eingekleidet, bekam vom polnischen Konsulat neue Papiere und wurde noch am selben Abend in einen Bus nach Polen gesetzt. Am Busbahnhof warteten Sozialarbeiter von Barka auf ihn. „Wenn einer bereit ist, sein Leben zu ändern, muss man sofort handeln“, erklärt
Szczerba. „Man muss diese kurzen, klaren Momente schnell nutzen.“ Die Rückkehr nach Polen sei für viele der Betroffenen die einzige Chance, vom Alkohol zu lassen und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Insgesamt 29 Polen hat Szczerba seit Anfang November zurück nach Polen vermittelt, vier von ihnen in Barka-
Zentren. Bei 25 weiteren Männern gelang sogar ein kleines Wunder: Nachdem über Szczerba wieder ein Kontakt nach Polen hergestellt war, fanden sich Angehörige, die bereit waren, sie wieder aufzunehmen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen. „Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung“, findet Andreas Stasiewicz. „Es ist das Beste, wenn diese Männer von ihren Familien eine zweite Chance bekommen.“ Schon von Hamburg aus versucht er, ihnen einen Sozialarbeiter und eine Suchttherapie zu vermitteln.
Wenn Szczerba auf Hamburgs Straßen unterwegs ist, sieht er viel Elend bei seinen obdachlosen Landsleuten. „Den meisten geht es gesundheitlich sehr schlecht, 80 Prozent von ihnen sind Alkoholiker“, sagt Andreas Stasiewicz. Szczerba nickt. Es habe ihn schockiert, wie schlecht der Zustand der polnischen Obdachlosen sei, sagt er: „Die Kombination aus Straße und Alkohol macht jeden kaputt.“ Viele Polen kämen nach Hamburg, weil sie hier Schwarzarbeit als Erntehelfer, Bauarbeiter oder Gärtner fänden, erzählt Stasiewicz. Vier bis fünf Euro verdienten die meisten. „Ihre Auftraggeber sind brave Hamburger Bürger und Hausbesitzer“, sagt Stasiewicz. Wenn sie dauerhaft keinen richtigen Job fänden, bleibe den Polen bei dieser schlechten Bezahlung oft nur die Straße.
Es gibt unter den osteuropäischen Obdachlosen allerdings auch viele, die Ansprüche auf Sozialleistungen haben und das gar nicht wissen. So wie ein polnischer Binnenschiffer, den Andreas Stasiewicz einmal kennenlernte. Fünf Jahre hatte der Obdachlose in Deutschland gearbeitet. Stasiewicz begleitete ihn zu verschiedenen Behörden. „Nach einem Jahr hatte der eine kleine Wohnung und eine Rente“, sagt Stasiewicz. „Wenn man solchen Leuten helfen will, braucht man dauerhaft Sozialarbeiter, die auch Dolmetscher sind.“
Auch Stanislaw Szczerba ist vor Kurzem einem Polen begegnet, der womöglich mehr Rechte hat, als er selbst ahnt: Maksimilian, ein 62-jähriger Hinz&Künztler, lebt schon seit 15 Jahren in Hamburg. Weil er kaum Geld und schwere
Entzündungen in beiden Beinen hat, braucht er dringend Hilfe. Andreas Stasiewicz sieht sich seine Unterlagen an. „So lange, wie der schon in Hamburg gemeldet ist, müsste er eigentlich Anspruch auf Rente und einen deutschen Pass haben“, sagt er. Maksimilian spricht zu schlecht Deutsch, um die Behördentour durchzustehen, die dafür nötig ist. Stanislaw Szczerba notiert sich seine Handynummer. Vielleicht macht er bald aus einem obdachlosen, polnischen Hinz&Kunzt-Verkäufer einen deutschen Rentner.

Text: Hanning Voigts
Foto: Mauricio Bustamante