Obdachlose am Hauptbahnhof : „Verbannung löst die Probleme nicht“

Eigentlich am Bahnhof verboten: Ein Pfandsammler sucht nach Flaschen im Mülleimer. Foto: Mauricio Bustamante.

Obdachlose, Trinker und Bettler am Hauptbahnhof sorgen derzeit in Hamburg für Schlagzeilen. Im Interview spricht Straßensozialarbeiter Johan Graßhoff über die Ursachen der Verelendung dort und mögliche Auswege aus der Situation.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Hinz&Kunzt: Der Hauptbahnhof zieht neben Touristen auch viele Obdachlose, Bettler und Trinker an. Die Stadt ist groß, wieso treffen sie sich ausgerechnet dort?

Johan Graßhoff: Der Hauptbahnhof war schon immer ein Treffpunkt für alle. Tagsüber ist dort viel los. Man kann sich dort unauffällig aufhalten. Dass am Bahnhof viele Touristen sind, bedeutet für Bettler zum Beispiel, dass sie dort Geld verdienen können.

Viele Passanten fühlen sich von den Armen belästigt. Wie erleben Sie die Situation als Straßensozialarbeiter? Was erzählen Ihnen diejenigen, über sie sich andere beschweren?

Viele der Obdachlosen dort hätten gerne einer Unterkunft, aber sind gleichzeitig oft gar nicht in der Lage, sich eine zu suchen. Als Sozialarbeiter muss ich sie in dieser Situation erst einmal stabilisieren. Das wird aber durch viele Faktoren erschwert: Die Betroffenen berichten von einer ständigen Überwachung, zum Beispiel durch Kameras, und willkürlichen, oft verdachtsunabhängigen Kontrollen durch Polizei oder private Sicherheitsdienste. Das empfinden sie verständlicher Weise als Schikane.

Johan Graßhoff ist Straßensozialarbeiter bei der Hamburger Diakonie. Foto: Mauricio Bustamante
Johan Graßhoff ist Straßensozialarbeiter bei der Hamburger Diakonie. Foto: Mauricio Bustamante

Dadurch geraten sie zunehmend unter Druck. Es werden auch immer mehr Platzverweise und Aufenthaltsverbote wegen Ruhestörung, oft in Verbindung mit störendem Alkoholkonsum oder wegen aggressiven Bettelns, gegen sie verhängt.

Mit welchen Folgen?

Die Vertriebenen verlieren ihren Lebensraum, soziale Beziehungen zur Gruppe werden erschwert, die Alltagsbewältigung wird für sie noch aufwendiger. Außerdem werden die mühsam aufgebauten Kontakte zum Hilfesystem, zum Beispiel zu Anlaufstellen, Beratungsstellen oder Straßensozialarbeitern, erheblich erschwert oder brechen ab.

In loser Reihe mahnen Medien und Politiker Handlungsbedarf an. Gerade häufen sich diese Berichte wieder. Allerdings vermelden Bezirksamt und Polizei, dass die Beschwerden nicht angestiegen seien. Wie hat sich die Situation aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren verändert?

Wir haben immer mehr obdachlose und wohnungslose Menschen auf der Straße und damit auch am Bahnhof. Es ist eine sehr heterogene Gruppe, die auch unterschiedliche Hilfsangebote benötigt. Gleichzeitig hat sich die Unterkunftssituation in Hamburg dramatisch verschlechtert. Es gibt zu wenig Unterkunftsplätze und adäquate Angebote, die aus der Obdachlosigkeit heraushelfen.

In den vergangenen Monaten hat die Verelendung sehr stark zugenommen.– Johan Graßhoff

Das hat einen großen Einfluss auf die Situation am Hauptbahnhof und führt zu der derzeitigen Verelendung. Gerade in den vergangenen Monaten hat diese Verelendung sehr stark zugenommen. Auch als Straßensozialarbeiter ist es natürlich schwierig, damit umzugehen.

Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) hat angekündigt, am Bahnhof durchgreifen zu wollen. Verschiedene Baumaßnahmen sind im Gespräch, die die „Aufenthaltsqualität“ für Trinker mindern sollen. Auch die Polizei soll verstärkt patrouillieren. Wozu wird das führen?

Die Verbannung von auffälligen Menschen vom Hauptbahnhof löst die Probleme nicht. Letztlich erfolgt lediglich eine Verdrängung in andere Stadtviertel, in Randlagen. Hierdurch können die Probleme der Menschen sogar weiter verschärft werden. Das ist die falsche Antwort.

Kein Platz auf der Straße. Aber wo sonst?
Trinkerräume
Kein Platz auf der Straße. Aber wo sonst?
Obdachlose in der City brauchen Orte, an denen sie sich aufhalten können, ohne zu stören und ohne gestört zu werden. Können Trinkerräume wie im Harburger Hans-Fitze-Haus eine Lösung sein? 

Unter dem vorherigen Bezirksamtsleiter Andy Grote war ein Aufenthaltsraum für Trinker im Gespräch. Wäre das eine sinnvolle Alternative gewesen?

Darüber kann man ins Gespräch kommen. Aber mir wäre es wichtig, erstmal diejenigen zu fragen, die es betrifft. Was halten sie davon? Und erst dann ein sinnvolles Konzept mit allen Beteiligten zu entwicklen. Ein Trinkerraum allein hätte die Probleme nicht gelöst. Es wäre eventuell ein erster Schritt gewesen.

Unbestreitbar sollte die Politik aktiv werden, um der zunehmenden Verelendung am Hauptbahnhof entgegenzuwirken. Was wären Ihrer Ansicht nach nachhaltige Maßnahmen?

Es müsste jetzt schnell geholfen werden. Mehr Straßensozialarbeit wäre ein Thema. Denn nur mit Vertrauen kann man nachhaltig helfen. Aber solange wir, wie derzeit, keine Alternative anbieten können, sind uns leider die Hände gebunden und wir müssen schlichtweg bei der Verelendung zuschauen.

Eigentlich wäre ein Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenhilfe notwendig. Heißt: Mehr Unterkünfte für Obdachlose. Dann wäre es auch möglich, den Menschen individuelle Wege und Perspektiven aufzuzeigen. Dafür müssten alle Beteiligten wieder mehr miteinander sprechen und auch handeln. Derzeit gibt es zu viele unterschiedliche Sichtweisen auf das Thema Obdachlosigkeit.

Vertreibung durch die Bahn
Schöne neue Welt am Hauptbahnhof
Die Politik hat die Probleme am Hauptbahnhof für sich gelöst: Sie setzt auf Privatisierung öffentlicher Flächen und Vertreibung armer Menschen. Benjamin Laufer kommentiert.
Autor:in
Benjamin Laufer
Benjamin Laufer
Seit 2012 bei Hinz&Kunzt. Redakteur und CvD Digitales.

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